Grösse und Grosszügigkeit
Die Freundlichkeit und die Offenheit der Amerikaner sind ansteckend. Sie hängen auch mit der Fehlerkultur zusammen.
Ich bin auf dem Weg ins Billy The Kid Museum in Hico, als mich ein platter Reifen stoppt. Nachdem ich über eineinhalb Stunden in der texanischen Mittagshitze versucht habe, telefonisch Hilfe zu organisieren, kommt mir – im fünften Auto, das vorbeifährt – ein anderer Billy zu Hilfe. Er steigt aus, inspiziert das Rad und macht sich ohne Aufhebens an die Arbeit und wechselt innerhalb einer Viertelstunde den Reifen. Soforthilfe auf Texanisch: unprätentiös und sachlich – meine Frage nach einer Entschädigung lehnt Billy freundlich ab.
Die unglaubliche Freundlichkeit und Offenheit der Amerikaner fallen sofort auf. Auch jene, denen es augenscheinlich materiell nicht so gut geht, grüssen freundlich. Als ich in San Antonio ein Foto mache vom Gerichtsgebäude, ruft ein Strassenfeger, der gerade die Mülleimer leert, aus 15 Metern Entfernung zu, ob er mir irgendwie behilflich sein könne. Die europäische Kritik, die amerikanische Freundlichkeit sei nur aufgesetzt, kann ich nicht bestätigen. Die Leute sind wirklich freundlich und zuvorkommend.
In Texas und Oklahoma fällt das auch im Strassenverkehr auf: Kommen sich zwei Fahrzeuge in der Weite näher, wird dem anderen freundlich der Vortritt gewährt – Grösse und Grosszügigkeit folgen aufeinander. Die Breite und die Leere der Strassen und Parkplätze sind beeindruckend. Was für eine Wohltat gegenüber dem Alltag in der Schweiz, wo man dauernd im Stau steht und ewig Parkplätze sucht.
Stadionbau in sieben Monaten
Mit Scott Jenkins komme ich in einer Rooftop-Bar in Kansas City ins Gespräch. Er lädt mich nicht nur zum Konzert seiner Lieblingsband am Freitagabend im «Knuckleheads» ein, sondern auch spontan zum Spitzenkampf des lokalen Frauenfussballteams am Samstagnachmittag. Kansas City Current gibt es erst seit 2020, ihr CPKC Stadium wurde von Scott direkt neben dem Fluss geplant – und in der Rekordzeit von nur sieben Monaten gebaut (Zürich könnte sich ein Vorbild nehmen). Auch Scott ist zum ersten Mal als Zuschauer im Stadion, das beim Ligaspitzenkampf zwischen den ungeschlagenen Teams Kansas City Current und Orlando Pride mit 11 500 Zuschauer ausverkauft ist.
Frauenfussball in den USA läuft etwas anders als Männerfussball in Europa – einen Abseitspfiff etwa gibt’s das ganze Spiel über keinen. Die Stimmung im Publikum, darunter viele Frauen und Familien, ist euphorisch, aber gejubelt wird anders. Eine gelbe Karte des Gegners etwa führt zu grossem Jubel, und auch Auswechslungen des eigenen Teams oder die 1000. Minute einer eigenen Spielerin werden enthusiastisch gefeiert. Als das Heimteam kurz vor Schluss 1:2 zurückliegt, wird die gegnerische Torhüterin vom Publikum jedes Mal, wenn sie den Ball hat, mit Sekunden angezählt, um alle auf ihr Zeitspiel aufmerksam zu machen.
In der Fankurve hängen Transparente von «Black Lives Matter» und «Trans Lives Matter». Das Publikum ruft «That’s our keeper!» (nach einer Parade des eigenen Goalies), aber auch «Ref, you suck!» (nach fragwürdigen Entscheidungen des Schiedsrichters). In der Halbzeit stürmen etwa 40 Medienleute aufs Feld, um zur Pausenunterhaltung 10 Minuten lang gegeneinander zu kicken. Auf dem Feld steht der brasilianische Altstar Marta – die überragende Spielerin auf dem Feld ist allerdings Temwa Chawinga aus Malawi.
Man traut sich was
Die generelle Offenheit, glaube ich, hängt mit der amerikanischen Fehlerkultur zusammen: Man traut sich etwas, auch in der sozialen Interaktion, und grämt sich nicht, wenn ein Kontaktversuch dann nicht erfolgreich ist. Man spricht jemanden an, der antwortet nicht – so what? Das Leben geht weiter. Klar, redet man auch in der Schweiz mit Leuten, die man nicht kennt. Doch oft bleibt die Konversation eher förmlich und kurz. Demgegenüber erhält man in den USA zumindest das Gefühl, man könne ewig miteinander reden und über alle Themen.
«Man traut sich etwas, auch in der sozialen Interaktion.»
Als ich in der Mitte der Brücke über den Des Moines River mit einer Frau und einem Mann ins Gespräch komme, die aus unterschiedlichen Richtungen mit dem E-Bike gekommen sind, scheint mir, ich könnte bis Sonnenuntergang mit ihnen weiterreden.