Netzwerkstaat folgt Nationalstaat
Einer der quirligsten neuen Intellektuellen ist der Unternehmer Balaji Srinivasan. Mit «The Network State: How To Start a New Country» hat der New Yorker mit indischen Wurzeln nun sein erstes Buch veröffentlicht. Kernthese: Nationalstaaten sind von gestern und werden auf lange Frist auseinanderbrechen und an Macht verlieren. An ihre Stelle treten Netzwerkstaaten, die sich im Internet formieren und sich irgendwann manifestieren und materialisieren. Den Prozess stellt sich Srinivasan vor als eine umgekehrte Diaspora: «eine Gemeinschaft, die sich zuerst im Internet bildet, online eine Kultur aufbaut und erst dann persönlich zusammenkommt, um Wohnungen und Strukturen zu bauen.»
Ein Luftschloss? Srinivasan argumentiert, dass eine solche Ablösung möglich werde aufgrund des Wandels von der handfesten Welt des Materials zur nicht mehr leicht fassbaren Welt der Informationen. Bis ins Jahr 2020 habe die materielle Welt vorgeherrscht, seither gelte das Primat der Onlinewelt: «Früher war die physische Welt primär und das Internet der Spiegel. Jetzt hat sich das umgedreht. Die digitale Welt ist primär und die physische Welt ist nur der Spiegel. Wir sind natürlich immer noch physische Wesen. Aber wichtige Ereignisse passieren zuerst im Internet und materialisieren sich später, wenn überhaupt, in der physischen Welt.» Den Beleg dafür liefert er gleich selbst, eine Printversion des Buchs sucht man nämlich vergebens. Zwar gibt es das Werk auf Amazon für den Kindle zu kaufen, alle Inhalte sind aber frei verfügbar auf thenetworkstate.com.
Das Buch sprüht vor steilen Thesen, deren Eintreten in die Realität man sich nicht alle sogleich vorstellen kann. Dass sich jedoch Ideen erst später manifestieren, zeigt die Geschichte. Die Umsetzung folgt der Idee, der Baum wächst aus dem gesetzten Samen – bis das Werk fertig ist, und der Baum gross, dauert es. Auch ist ein Trend zur Abnahme einer lokalen oder nationalen Verbundenheit bereits jetzt gut zu beobachten. Einige Wiediker, Solothurner, Tessiner, Schweden oder US-Amerikaner wollen sich nicht mehr zuerst über ihre Wurzel oder ihren Aufenthaltsort definieren, sondern lieber Europäer, Bitcoiner, Veganer, Metalheads, Feministen, Beliebers oder Weltbürger sein. Auch supranationale Netzwerke wie die UNO, NATO, EU, WHO und andere gewinnen, zunächst in der Diskussion, aber zunehmends auch in der Realität, an Macht.
Ganz so rasch verliert der Nationalstaat aber nicht an Bedeutung. Es ist anzunehmen, dass die Stabilität und die Rechtsstaatlichkeit, die er nach wie vor bietet, vor allem aber seine lange Existenz, die sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat, noch über viele Jahre Grund genug sein wird, dass er am Leben bleibt. So lange die Macht über Territorialfragen entscheidend bleibt, bleibt auch der Nationalstaat. Eine schleichende Veränderung hat aber eingesetzt.
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