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Grenzüberschreitungen der anderen Art

Ina Boesch: «Grenzfälle. Von Flucht und Hilfe. Fünf Geschichten aus Europa». Zürich: Limmat, 2008

Die Küste ist ein Ort des Ankommens. Touristen langen hier an, sie baden und spielen Federball, sie sitzen am Strand und trinken Wein. In Tarifa suchen sie den Estrecho, den Wind, der unerbittlich über das Land fegt, und sie suchen ein Abenteuer. Oft halten sie Ausschau nach Flüchtlingen, die sich vor der Guardia Civil verstecken.

Tarifa liegt an Europas Grenze zu Afrika. Ina Boesch wählt diesen Ort als Einstieg für ihr Buch zu «Flucht und Hilfe», für das sie fünf Geschichten recherchierte. Etwa die von der französisch-schweizerischen Grenze, wo Anne-Marie Im Hof-Piguet im zweiten Weltkrieg Juden die Flucht in die sichere Schweiz ermöglichte, oder die von Ostrava in der Tschechoslovakei, wo Artur Radvanský, ebenfalls während des Nationalsozialismus, Flüchtlinge durch Gänge unter Tag ins sichere Polen führte, ehe er selbst zum Verfolgten und in mehreren Konzentrationslagern interniert wurde. Auch von aktuellen Geschichten weiss Ina Boesch zu berichten, wie derjenigen von Anni Lanz, die auf harmlos scheinenden Spaziergängen Flüchtlinge über schweizerisch-deutsche Grenze führte.

Die fünf Geschichten werden durch den Beweggrund geeint, Hilfe zu leisten. Die Fluchthelfer «handeln nach bestem Wissen und Gewissen, folgen einer inneren Überzeugung und verfolgen nicht unmittelbar eigene Interessen, sondern die Interessen anderer». In der Regel verlangen sie auch kein Geld oder nur so wenig, um die eigenen Kosten und Auslagen zu decken, wie im Fall von Dieter Thieme und Detlef Girrmann, die in den frühen 1960er Jahren Flüchtlinge über die innerdeutsche Grenze in die BRD brachten. Die beiden fälschten gemeinsam mit Bodo Köhler Pässe und prüften, an welchen Stellen die Grenze am besten zu überschreiten sei. Hier wird die genaue Recher-chearbeit Ina Boeschs deutlich, die über ausführliche Interviews an die Informationen gelangte.

Ina Boesch berichtet, dass es Fluchthelfer nicht gewohnt seien, über ihre Hilfe zu sprechen. Zum einen, da es zur Fluchthilfe gehöre, mit der eigenen Tätigkeit hinterm Berg zu halten, und zum anderen, da ihnen niemand zuhöre: «Die Welt ist häufig nicht begierig zuzuhören, denn wer zuhört, wird in seinem Selbstverständnis gestört und gezwungen, sich Gewissensfragen zu stellen: Wie hätte ich gehandelt, was hätte ich getan?» Indem das Buch Personen eine Stimme leiht, die auch heute noch das Menschenrecht auf Reisefreiheit ermöglichen, lässt es diese Gewissensfragen im Leser zurück.

vorgestellt von Urs Malte Borsdorf, Wien

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