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Graubünden, ein «italienischer Kanton»
Christian Ruch: Graubünden und der Zweite Weltkrieg. Zürich: Hier und Jetzt, 2023

Graubünden, ein «italienischer Kanton»

Christian Ruch: Graubünden und der Zweite Weltkrieg. Zürich: Hier und Jetzt, 2023

Im Rahmen eines Forschungsprojekts des Instituts für Kulturforschung Graubünden (Herausgeber) ist dem Historiker Christian Ruch ein Wurf gelungen; gar zu bescheiden weist er einleitend darauf hin, dass es sich nicht um eine Gesamtdarstellung Grau­bündens im Zweiten Weltkrieg handle. Der im Untertitel erhobene Anspruch, den «Alltag im Ausnahmezustand» zu spiegeln, wird mit ­Bravour eingelöst, wobei ausgiebig aus offiziellen Verlautbarungen, Presseberichten und Erinnerungen von Zeit­genossen zitiert wird. Es ergibt sich ein vielschichtiges und differenziertes Bild, das einfache Antworten auf schwierige Fragen verbietet (zum Beispiel ob die Todesstrafe für Landesverräter richtig war).

Das Weltgeschehen fehlt dabei natürlich nicht. Haften bleibt der Hass der Protagonisten des «Neuen Europas» auf Kleinstaaten. Adolf Hitler bezeichnete die Schweiz als ­«Eiterbeule in Europa» und wollte das «Kleinstaatengerümpel» liquidieren. Benito Mussolini sprach dem «unbedeutenden Kleinstaat voller Gift» das «Lebensrecht» ab, und Rom betrachtete ganz Graubünden als «italienischen Kanton».

Am eindringlichsten wirken die Ausführungen, wenn sie sich auf den Alltag beziehen. Beispiele dafür sind die für die kantonale Identität bis heute prägende Hochjagd, die 1939 verboten wurde, was prompt zu starkem Wildverbiss führte, oder die Bemühungen der Regierung, die verwaisten Kur- und Ferienorte zu beleben. Die damals noch viel bedeutendere Landwirtschaft litt darunter, dass viele Bauern Aktivdienst leisteten und die Einreise der traditionell aus Italien stammenden Hirten, Heuer, Holzarbeiter und Mägde schwieriger wurde.

Der Autor, der Mitarbeiter der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg war, behandelt auch grosse Themen wie die Flüchtlingsfrage oder die Zensur. Anschaulich schildert er die Affäre um die Rede von Standespräsident Gaudenz Canova, die dieser im November 1940 vor dem Grossen Rat hielt. Weil darin undiplomatisch Ross und Reiter genannt wurden, taxierte sie Bundesbern als aussenpolitisch schädlich und verhinderte den ­Abdruck.

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