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Grass und Celan in Paris

Materialien für ein Doppelporträt Anfangs fühlte sich Grass nur als Publikum seiner Monologe, erst nach Celans Freitod folgten Bekundungen der Freundschaft. Das Schreiben nach dem Genozid verband und trennte die beiden Schriftsteller, so wie die Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere sie anzog und auf Distanz gehen liess.

Günter Grass und Paul Celan sind zwei Namen, zu denen einem sofort Gegensatzpaare einfallen. Nichtsdestoweniger – oder gerade deshalb – sind sich der nachmalige Nobelpreisträger und der früh Verstummte in den späten fünfziger Jahren nahe gewesen. Günter Grass hat über die Jahre hinweg immer wieder – und mit zunehmendem Abstand immer mehr – Details über diese «merkwürdige Konstellation» mitgeteilt, über eine schwierige, nicht von Verstimmungen freie Freundschaft.

Im Jahr 1995, als Siebenundsechzigjähriger, richtet Günter Grass einen «verspäteten Schülerbrief» an François Bondy, eine Grussadresse an eine Pariser Bekanntschaft, die «eine Erinnerung wachrufen» soll, die «für mich mit Dankbarkeit verbunden ist». Am Schluss des Briefs kommt Grass auch auf den «schwierigen Freund» zu sprechen, auf Paul Celan: «Auf andere Weise als Du [François Bondy] hat er mir, wenn ich durchhing, auf die Sprünge geholfen; doch so sicher ich mir heute, nach vielen Jahrzehnten, seiner Hilfe bin, so peinigend ist mir bewusst geblieben, wie wenig ihm zu helfen war. Paul Celan kann ich nicht mehr danken …» Paul Celan hat sich in Paris, im Jahre 1970, das Leben genommen, hat – wie es eine Erzählstimme in Grass’ «Mein Jahrhundert» ausdrückt – «sein restliches Leben von einer Brücke herab ins Wasser» geworfen. «Wir wissen den Tag nicht genau…» Als Lektor an der Ecole Normale Supérieure arbeitend, hatte er noch kurz zuvor, in seinem Unterricht, Passagen der «Blechtrommel» übersetzen lassen, von der er ein Widmungsexemplar besass.

Günter Grass hat seine Begegnung mit Paul Celan als Mentor-Schüler-Beziehung beschrieben. Celan hat ihn indirekt bestätigt, indem er 1962 in einem Brief erwähnte, dass er die «Blechtrommel» «schon im Manuskript gelesen und gefördert habe». Recht bald schon muss sich die Abnabelung des «Schülers» Grass vollzogen haben: Bei späteren Büchern sei ihm die Hilfe Celans «nicht mehr so präsent» gewesen. Vielleicht ist ihm gar die Dankesschuld, von der er in den neunziger Jahren so nachdrücklich gesprochen hat, erst voll zu Bewusstsein gekommen, als sich der Dankeswunsch nicht mehr erfüllen liess: «Paul Celan kann ich nicht mehr danken…»

Celan, der schwierige Freund

Erinnerung, Rekonstruktion von Vergangenheit, haftet immer etwas Fragwürdiges an, schliesst sie doch die Formung eines Materials und Umakzentuierungen im Laufe der Zeit mit ein. Der Autor, Grass selbst hat diese Formulierung gewählt, tritt auf als ein «fragwürdiger Zeuge». Ein Rückblick auf die Entstehungszeit der «Blechtrommel», 1973, drei Jahre nach Celans Freitod geschrieben, erwähnt noch nicht den «schwierigen Freund». Lapidar heisst es, in einer nur im Rundfunk gesendeten Langfassung im übrigen: «Zwischendurch Gespräche mit Paul Celan; oder besser, war ich Publikum seiner Monologe.» Doch Grass lässt auch durchblicken, dass er erst «unzulänglich bereit» sei, seine «Bedingungen und Anstösse von damals neugierig zu sichten». An den Schluss des Berichts stellte er eine demonstrative Selbstbefragung: «Habe ich alles gesagt? – Mehr, als ich wollte. Habe ich Wichtiges verschwiegen? – Bestimmt. Kommt noch ein Nachtrag? – Nein.»

Doch es kamen Nachträge, nachgetragene Freundschaftsbekundungen, nicht nur in Form von Schülerdank: Seinem ersten Biographen, Heinrich Vormweg, hat Grass in den achtziger Jahren mitgeteilt, dass Celan seine Arbeit «mit freundschaftlich kollegialem Interesse und Gespür, dass ich das Richtige gefunden hatte» begleitet habe. 1990, in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung, nannte Grass Celan dann einen «schwierigen, kaum zugänglichen Freund», dem er viel verdanke: «Anregung, Widerspruch, den Begriff von Einsamkeit, aber auch die Erkenntnis, dass Auschwitz kein Ende hat. Seine Hilfe kam nie direkt, sondern verschenkte sich in Nebensätzen, etwa auf Spaziergängen in Parkanlagen.»

Beiläufig die Erklärung, dass Celan einen Einfluss auf sein literarisches Personal, auf Figuren der Danziger Trilogie gehabt habe. Aber: Gibt es denn eine grössere Nähe zwischen zwei Schriftstellern, als wenn eine Begegnung auf dieser Ebene, auf literarischer Familienebene sozusagen, zustande kommt? «Er machte mir Mut, fiktive Gestalten wie Fajngold, Sigismund Markus und Eddi Amsel, keine edlen, sondern gewöhnliche und exzentrische Juden in meine kleinbürgerliche Romanwelt zu fügen.» 1996 dann, in einem Radio-Gespräch, war nicht mehr von dem monologisierenden Celan die Rede: «Den stärksten Kontakt [in Paris] hatte ich mit Paul Celan, wobei wir beide so unterschiedlich waren, wie Menschen nur unterschiedlich sein können, und dennoch ging es; es ging auf eine manchmal anstrengende, aber doch wunderbare Weise.»

Die Pariser Begegnungen zwischen Paul Celan und Günter Grass – 1959 sieht man sie auch als Gäste einer Segeltour auf dem Zürichsee – fallen in die Jahre 1956 bis 1959, es sind unruhige Jahre, Jahre der politischen Krise in Frankreich, Jahre des Algerienkrieges. De Gaulle kehrt an die Macht zurück. In dieser Zeit findet Grass sich einmal für 24 Stunden in Polizeigewahrsam wieder. 1956 ist er in die Stadt gekommen, mit seiner Frau Anna, die sich von einer «Ballettmutter» unterrichten lassen will. Ende 1956 ziehen sie in Die Avenue d’Italie Nr. 111, im 13. Arrondissement, wo er als Bildhauer arbeitet, nebenher Gedichte schreibt, Einakter und Ballett-Libretti, sowie einen Roman: die «Blechtrommel» wird 1959 vollendet, 17 Monate, nachdem Anna Grass in der Schweiz Zwillinge zur Welt gebracht hat. Auch des Autors erste Polenreise findet statt, im Jahre 1958.

Als ein Arzt Günter Grass zu einer Klimaveränderung rät, verlässt die Familie auf Ende 1959 Paris in Richtung Berlin. Der Erfolg der «Blechtrommel» beginnt sich schon abzuzeichnen. Das Projekt «Kartoffelschalen», aus dem später «Hundejahre» sowie «Katz und Maus» werden, ist schon in Paris begonnen worden: Paul Celan war es, «der eher als ich begriff, dass es mit dem ersten Buch und seinen siebenhundertdreissig galoppierenden Seiten nicht getan sein könne, dass vielmehr der profanen epischen Zwiebel Haut nach Haut abgezogen werden müsse und dass ich nach solchem Unterfangen nicht Urlaub nehmen dürfe.»

Paris, Stadt der Freundschaft

Der sieben Jahre ältere Celan lebt seit 1948 in Paris, wo er vor dem Krieg studiert hatte. Seit 1952 ist er mit einer Französin, einer bildenden Künstlerin, verheiratet, 1955 kommt ihr Sohn Eric zur Welt. Celan lässt sich einbürgern, arbeitet, neben seiner Tätigkeit als freier Schriftsteller, als Übersetzer und unterrichtet erstmals 1956/57 an einer Pariser Hochschule, ab 1959 in fester Anstellung an der Ecole Normale Supérieure an der Rue d’Ulm. Der in der Nähe gelegene Place de la Contrescarpe ist ihm ein Flecken Heimat geworden – nicht zuletzt wegen einer bestimmten Art von Parkbäumen, sogenannten Paulownien oder Blauglöckchenbäumen. Eine eigene Wohnung hat das Ehepaar Celan ab 1957 im 16. Arrondissement: 78, Rue de Long-champ. 1959 wird der Gedichtband «Sprachgitter» erscheinen. Die erste Begegnung kommt zustande, als Christoph Meckel Celan einen Besuch abstattet und Grass mitnimmt: «Er [Celan] hatte anfangs eine Art, die auf einige Autoren vielleicht einschüchternd wirkte, so etwas Stefan-George-Haftes. Er sprach dennoch wohlwollend mit den jüngeren Kollegen, und ich war damals viel frecher als heute. Ich habe ihm gleich zu Anfang gesagt, ich bin nicht die Wand, zu der du sprichst.»

Celan führt Freunde und Bekannte gern herum, zeigt, wo Baudelaire, Verlaine und Rilke gewohnt haben; da beide, Celan wie Grass, in einer literarischen Stadtgeographie leben, ergeben sich Gemeinsamkeiten. Am Place de la Contrescarpe kreuzen sich die Interessen. Im Haus Nr. 1, im einstmaligen «Kabarett Tannenzapfen», pflegte Rabelais sich einzufinden, einer der Dichter, auf den der Ältere den Jüngeren aufmerksam machen wird.

Das Mentor-Schüler-Verhältnis mag erste Voraussetzung gewesen sein, dass sich Celan und Grass näherkommen konnten; wohl auch die sich ergänzenden Unterschiedlichkeiten im Habitus. Der Grass der neunziger Jahre erinnert sich seiner selbst als eines aufmüpfig-zornigen jungen Mannes – «wüst, sehr sprunghaft, mit ungeheuren Löchern belesen» – nicht verhehlend, dass zwischen ihm, dem Jüngeren, und Celan auch «richtige Streitgespräche» stattfanden. «Ich habe allerdings auch deutlich gemacht, dass ich von ihm viel lernen konnte, viel gelernt habe, und ihm dafür sehr dankbar war.» Ein Celan-Bild, das den Dichter als lebensfernen Esoteriker darstellte, wäre allerdings ein ganz falscher Gegensatz – ganz abgesehen von den Berichten über Celans gelegentliche Sangeslust und über sein Tischtennisspiel. Es ist nicht eben viel Lob Celans über deutsche Nachkriegsliteratur überliefert; am 29.3.1954 aber schrieb er in einem Brief: «Einen neuen deutschen Roman gelesen, der mir ein wahres Kunstwerk zu sein scheint.» Er bezog sich auf «Die Insel des zweiten Gesichts» von Albert Vigoleis Thelen, einen pikaresken Roman, den pikaresken Roman der deutschen Nachkriegsliteratur neben bzw. im Schatten der «Blechtrommel».

Einem kritischen Blick auf die jeweilige Künstlerexistenz ausgesetzt – einem Blick der Familien ihrer Ehefrauen –, bemühten sich beide, vom bundesdeutschen Literaturbetrieb, vom «Markt», vom Publikum auch wahrgenommen zu werden. Celan war 1952 zum ersten und letzten Mal zu einem Treffen der «Gruppe 47» gefahren; Grass’ Erfolg, mit Auszügen der «Blechtrommel», ist bekannt – er blieb der Gruppe verbunden. Grass und Celan hatten in «Akzente»-Herausgeber Walter Höllerer eine gemeinsame Bezugsperson. Dieser hat es wohl einzufädeln gewusst, dass beide, Celan 1957 (rückwirkend für 1956), Grass 1958, die Fördergabe des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie erhielten. 1958 wurde Celan der Bremer Literaturpreis verliehen, den die Jury für das Jahr 1960 Grass zusprach. Dafür hatte sich auch Celan eingesetzt (der Bremer Senat verhinderte indes eine Vergabe). Den Büchner-Preis schliesslich erhielt Celan 1960 und Grass 1965.

Plagiat, Rufmord, tote Metaphern

Der Erfolge Celans in dieser Zeit waren zwar einige; seit den fünfziger Jahren und in zunehmendem Masse in den Sechzigern sah er sich jedoch zur Hauptperson in der sogenannten Goll-Affäre gemacht, einer der hässlichsten Affären der deutschen Literaturgeschichte überhaupt. Die Lektüre der Dokumente vermittelt ein beklemmendes Gefühl. Es scheint, dass im Kosmos dieser Affäre – Celan sah sich unter Plagiatsverdacht gestellt und nahm dies als Rufmord-Kampagne wahr – kein Raum blieb für Vertrauen oder Freundschaft. Und die Grenzen der Affäre sind nur schwer zu ziehen. Celan jedenfalls begann, sich in einer Welt wahrzunehmen, die nur noch aus Figuren der Goll-Affäre zu bestehen schien (einmal, in Davos, hat er, in einem Wahn, einen unbeteiligten Passanten deshalb gar tätlich angegriffen). Auf Grass’ Figur des Sigismund Markus anspielend, den Danziger Spielwarenhändler, der sich das Leben nimmt, bevor ein Mob seiner habhaft wird, und zugleich auf sich selbst Bezug nehmend – als Förderer der «Blechtrommel» – schrieb Celan in einem Brief: «der Danziger Jud Markus, den bringen die ja um, und der hat ja auch die Blechtrommel im Laden gehabt».

Zeitweilige Verstimmungen zwischen Grass und Celan hatten indirekt mit der Goll-Affäre zu tun; aber wenn eine Freundschaftsbeziehung darin mehr oder weniger unbeschadet geblieben ist, dann diese. Grass schien die Angelegenheit – in Celans Augen – nur nicht ernst genug zu nehmen: die Kritik hatte Celan «triviale», «tote», «leidige», «künstliche» Metaphern angekreidet – auch auf Wendungen bezogen wie «ein Grab in den Lüften», die ihm gar keine Metaphern waren. Seitdem war ihm der Metapher-Begriff zum Reizwort geworden, gleichbedeutend für «unwahrer Ausdruck». Rückblickend schrieb er später, dass er 1959 aufgehört habe, dergestalt «bebildert» zu sprechen. Grass verfasste damals für Celan eine Satire über die Austauschbarkeit von Genitivmetaphern. Celan reagierte – nach Grass’ Bekunden – «säuerlich». Die Verstimmung kann nicht dauerhaft gewesen sein; in Celans Notizen zur Vorbereitung der Büchnerpreisrede tauchen Grass’sche Motive auf: «Es gibt, gewiss, die Metaphernpflücker und die dann angebotenen parfümierten Sträusse…». Und als die Kritik einer deutschen Zeitung Celan einmal stark zugesetzt hatte, holte seine Frau Gisèle Günter Grass herbei, damit er ihrem Mann zur Seite stehe.

1960 – scheinbar im Zusammenhang mit der Goll-Affäre – erschien allerdings ein Artikel, gezeichnet von einem gewissen Phelan. Celan strengte Nachforschungen an, fälschlicherweise argwöhnend, dass «Phelan» der Deckname eines «witzig sein wollenden Bekannten» sei (Barbara Wiedemann). Dem Tagebuch seiner Frau zufolge fiel der Verdacht auf Enzensberger – und auf Grass. Konflikte trugen Grass und Celan auf gänzlich unterschiedliche Weise aus. Grass wusste auf Konferenzen für den «notwendigen Streit» zu sorgen, war in der Lage, ein «Ho-Chi-Minh» skandierendes Auditorium – per Mikrophon – zu überschreien. Den Grosskritiker lud er – so erinnert sich der Grosskritiker – ein zu einer grätenreichen Fischmahlzeit. Celan hingegen mied stets den offenen Konflikt. In Wortspielereien, insbesondere auch mit Namen, trug er seine Konflikte aus, nicht in der direkten Konfrontation. Es waren Konflikte, um die jene, die sie mitverursachten, womöglich gar nicht wussten.

Schreiben nach dem Genozid

Paul Celans Existenz war die eines Überlebenden in der Nachgeschichte eines Genozids. Indirekt teilte er sich mit – indem er im Gedicht ein Wahrnehmen von Wirklichkeit sozusagen inszenierte, indem er – immer auch im geistigen Gespräch mit anderen Dichtern – Perspektiven auf Wirklichkeit ent- und verwarf. Diese Lyrik bildete eine Orientierungssuche, eine Suche nach Halt, gleichsam ab. Traditionelle Ich-Aussprache klang nur noch manchmal nach in ihr – ein Nachklang tonaler Melodie in einer allmählich die Tonalität verlassenden Musik. In Entwürfen, nichtaufgegebenen Briefen – auch wohl an eine Nachwelt gerichtet – sprach er bisweilen Klartext. Grass hingegen war angriffig, ein grosser Angreifer, als der er – auch mit der «Blechtrommel» – ein deutsches Publikum mit deutscher Schuld zu konfrontieren wusste. Gerade in dieser Hinsicht mag er, muss er, Celan ein Verbündeter gewesen sein.

In Paris haben zwei Schriftsteller einander alternative Existenzweisen regelrecht vorgelebt. Es ist wenig bekannt, dass Grass Celan gar «ermunterte», es ihm gleich zu tun, Prosa zu schreiben, wie er selbst es konnte: «Er hat mit grossem Vergnügen und Interesse und mit offen zugegebenem Neid gesehen, wie ich da Kapitel nach Kapitel schrieb. Er hatte den Wunsch und regelrecht das Bedürfnis – neben seiner wahnsinnigen, existenziellen Anstrengung des Gedichteschreibens –, auch Prosa schreiben zu können, sich quasi zu entlasten, leichtfertiger – im doppelten Sinne des Wortes zu werden. Und es gibt von ihm auch einige kurze, wunderbare Prosapassagen, die sind aber, glaube ich, nicht mehr als fünf Seiten lang.» Celans bekanntester literarischer Prosatext «Gespräch im Gebirg» ist 1959 entstanden. Über die Selbst-Sicherheit, Voraussetzung eines epischen Schreibens, verfügte der Dichter, dem das Setzen eines einzigen Wortes zugleich gestalterisches wie existenzielles Problem sein konnte, allerdings nicht auf Dauer. Doch auch Grass’ epische «Kraft», sein Durchhaltevermögen, wollte durch Zuspruch bestärkt sein. Mit Grass verbindet sich heute die Erinnerung an Danzig, die Danziger Bucht, die Vorstädte – die Danziger Trilogie; mit Celan verbindet sich die Erinnerung an Czernowitz – heute in der Ukraine gelegen, nahe des Dreiländerecks Ukraine-Moldau-Rumänien – und an die Bukowina, das Buchenland, eine untergegangene – verheerte –, in den letzten Jahren vielbeschworene, das heisst vielbeschriebene Literaturlandschaft. Die Bukowina ist Teil einer Topographie des Holocaust; und sie ist zugleich – auch dies – Teil einer Topographie der Verbrechen des Stalinismus.

Ein Geschichtsgefühl, ein Verlustschmerz, war beiden eigen und trennte sie zugleich. Grass, der auch aus einem Zornesantrieb heraus schrieb – nie einen Zweifel daran lassend, dass er sich einem «Lager der Täter» zugehörig fühlte, dass er ein Bewusstsein für das Ausmass deutscher Schuld besass – er muss auch dieses Trennende verspürt haben. Ein literarisches Projekt hat er letztlich wohl deshalb fallen lassen: bis in die siebziger Jahre hatte er sich mit der später als «verbohrt» bezeichneten Idee getragen, Heines Fragment «Der Rabbi von Bacherach» als Pogromgeschichte ins 20. Jahrhundert hinein fortzuschreiben. 1979, froh, es beim Gedanken belassen zu haben, reflektierte Grass die Entstehung von «Aus dem Tagebuch einer Schnecke»: «Vom überschaubaren, mir bekannten Ort» ausgehend, habe er die Geschichte der Danziger Juden in eine eigene Perspektive gerückt und einen «Ansatz» darin gefunden, auf die Fragen der eigenen Kinder zu reagieren. Er hatte – bedeutete das auch, davon abgesehen – einen fremden Lebensstoff, eine andere Perspektive auf Geschichte, gleichsam zu übernehmen, sich zu eigen zu machen. Zum Sprecher von Celans ureigenem Geschichtsgefühl hat Grass sich konsequenterweise nicht gemacht. Wenn sich ein deutsches, national-selbstbezogenes Geschichtsgefühl heute mitunter lauter artikuliert als ein europäisches Geschichtsbewusstsein, das um die Unterschiedlichkeit der Perspektiven wie auch die historischen Kausal- und Verantwortungsketten weiss, an deren Ende – auch – deutsche Leidenserfahrungen stehen, so ist dieser Trend nun unglücklicherweise just von Günter Grass mitbegünstigt worden, der – um der Vervollständigung eines Bildes willen – in seiner Novelle «Im Krebsgang» (2002) deutsches Leiden am Ende des 2. Weltkriegs thematisiert hat.

Auch im Hinblick auf ein Nachdenken über ein europäisches Geschichtsbewusstsein, über die Bedingungen der Möglichkeit einer Vermittlung der unterschiedlichen Perspektiven, mag einmal ein Doppelporträt versucht sein, das an eine Freundschaftsbeziehung in allen ihren Schwierigkeiten erinnert, aber auch an ein Gelingen, im Paris der ausgehenden fünfziger Jahre.

Der Historiker Dietrich Seybold, geboren 1971, lebt in Bottmingen. Er promovierte mit der Arbeit «Geschichtskultur und Konflikt. Historisch-politische Kontroversen in Gesellschaften der Gegenwart» und veröffentlichte unter anderem Essays zur Geschichtskultur der Gegenwart.

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