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Gott ist nicht woke
Links-Grüne und Staatskirchen sind eine unheilige Allianz eingegangen. Doch in Stein gemeisselt ist diese nicht. Es wäre Zeit für die Liberalen, sich dem Christentum wieder anzunähern.
Es scheint paradox: Auf der einen Seite werden in der Schweiz seit längerem die Inhalte des christlichen Glaubens, die mit dem Leben der Menschen zu tun haben, aus der Öffentlichkeit verdrängt. Das jüngste Beispiel ist der von links-grünen Bundesrichtern gefällte Entscheid zur «Kathi», der katholischen Mädchenschule von Wil im Kanton St. Gallen. Für den religiösen Anstrich, der sich der zweihundertjährigen Tradition dieser Schule verdankt, gibt es keinen Anspruch auf «Diversity» mehr. Der konfessionelle Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ist in dieser Entwicklung vorangegangen; nicht zuletzt mit gütiger Unterstützung einer mehrheitlich links-grünen Lehrerschaft ist er staatlich verantworteter Religionskunde gewichen. Und von links wird immer wieder der Gottesbezug der Präambel der Bundesverfassung in Frage gestellt. Viele weitere Beispiele liessen sich nennen.
Auf der anderen Seite bleiben die öffentlich-rechtlichen Staatskirchenstrukturen mit ihren Kirchensteuern unangetastet. Initiativen zur Trennung von Staat und Kirche sind bisher auf gesamtschweizerischer und kantonaler Ebene chancenlos geblieben. Gegen die Besteuerung juristischer Personen durch die Staatskirchen wurde von bürgerlicher Seite in den letzten Jahren gefühlt zwanzig Mal in verschiedenen Kantonen erfolglos angerannt.
Und selbst eigentliche Steuermittel sprudeln weiter, etwa im Kanton Zürich. Dort genehmigte der Kantonsrat kürzlich mit Unterstützung von Links-Grün wiederum einen 300-Millionen-Kredit für die nächsten sechs Jahre. Die Schweiz mit ihren privilegierten Kirchen, die einen formell staatsähnlichen Rang besitzen und hoheitlich Rechtsunterworfene besteuern, und die Schweiz, die gleichzeitig Christliches aus der Öffentlichkeit verbannt und es damit vom Leben der Bürgerinnen und Bürger wegrückt: Sie gleicht immer mehr einer Theokratie von Atheisten ‒ eine Absurdität, die von der atheistischen SP-«Religionsministerin» des Kantons Zürich verkörpert wird.
«Die Schweiz gleicht immer mehr einer Theokratie von Atheisten.»
Die Religion wird gleichgültig und lästig
Alexis de Tocqueville hat mit Blick auf den Niedergang der französischen Aristokratie im Ancien Régime einen Hinweis gegeben, der das beschriebene Paradox als nachvollziehbare Entwicklung erscheinen lässt. Auf Einladung von John Stuart Mill veröffentlichte er 1835 einen Aufsatz über Staat und Politik vor und nach 1789. Maliziös bemerkte er: Wenn er eine mächtige Aristokratie zu zerstören gedächte, würde er sich nicht darum bemühen, deren Repräsentanten vom Thron zu stossen. Er würde sich auch nicht beeilen, ihre glänzenden Vorrechte anzugreifen. Allerdings würde er die privilegierte Kaste von der Bleibe des Armen entfernen und ihr verbieten, Einfluss auf die täglichen Geschäfte der Bürger zu nehmen. Eher würde er ihr erlauben, an der Schaffung der allgemeinen Staatsgesetze mitzuwirken, als die Ordnung in den Städten aufrechtzuerhalten. Mit weniger Mühe würde er ihr die Leitung der grossen Geschäfte der Gesellschaft überlassen als die Ordnung der kleinen. Und Tocqueville ergänzte: «Während ich ihr die herrlichsten Zeichen ihrer Grösse liesse, würde ich ihren Händen das Herz des Volkes entreissen, wo sich die wahre Quelle der Macht befindet.»
Nicht nur bei dem von lokalen links-grünen Kräften angestossenen und von deren Gesinnungsgenossen im Bundesgericht exekutierten Entscheid zur Wiler Mädchenschule kann man die von Tocqueville beschriebene Strategie erkennen. Auch bei der Verdrängung des konfessionellen Religionsunterrichts ist sie zu beobachten. Das hat nicht nur mit der zunehmend (a)religiösen Durchmischung der Schülerschaft zu tun. Denn dieser könnte man durch die Schaffung von Wahlfächern begegnen. Vielmehr gelten einer stark links-grün-woke-christentumskritischen Lehrerschaft sowie vergleichbar tickenden Schulämtern alle Religionen als gleich gültig, damit als gleichgültig und letztlich auch als lästig.
Beim von Links-Grün verfolgten permanenten Ausbau des staatlichen Anteils an der Sozialfürsorge geht es nicht nur um die Segnungen des Sozialismus, sondern auch darum, die eigene Klientel zu bedienen und missliebige gesellschaftspolitische Positionen zu verdrängen. Denn sonst hätte man Interesse gezeigt an rechtlichen Rahmenbedingungen, die es privaten und damit auch kirchlichen Akteuren ermöglichen würden, Altersinstitutionen und vergleichbare Einrichtungen weiterzuführen. Stattdessen mussten viele von ihnen aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben.
«Beim von Links-Grün verfolgten permanenten Ausbau des staatlichen Anteils an der Sozialfürsorge geht es nicht nur um die Segnungen des Sozialismus, sondern auch darum, die eigene Klientel zu bedienen und missliebige gesellschaftspolitische Positionen zu verdrängen.»
Wokeness ist ein intoleranter Religionsersatz
Nur bei Anliegen wie der Konzernverantwortungsinitiative (KVI) sind die Christen links-grün-antikapitalistischen Kreisen noch nützlich ‒ als nützliche Idioten nämlich, wie zuletzt der St. Galler «Kathi»-Entscheid gezeigt hat. Teilweise besteht zwar zwischen den kirchlichen Unterstützern der KVI und Links-Grünen auch eine inhaltliche Übereinstimmung. Der politische Opportunismus von Staatskirchenfunktionären gegenüber ihren links-grünen Hauptunterstützern, welche die Kirchensteuern bisher nicht angetastet haben, spielt ebenfalls eine Rolle. Dieser Rest eines Zweckbündnisses sollte jedoch nicht zur Vorstellung verleiten, es gäbe im links-grünen Lager keine bedeutenden Kräfte, die den christlichen Händen «das Herz des Volkes entreissen» wollen. Denn der links-grün-woke-genderistische Komplex ist ein intoleranter Religionsersatz, der keine fremden Götter neben sich duldet.
«Der links-grün-woke-genderistische Komplex ist ein intoleranter
Religionsersatz, der keine fremden Götter neben sich duldet.»
Dass die Staatskirchen der Schweiz in den letzten Jahrzehnten links abgebogen sind, hat mehrere Gründe. Einer davon ist zweifellos, dass das Christentum von Haus aus die Gleichheit der Menschen betont – und damit für Kräfte anschlussfähig ist, die Gleichheit über alles stellen und die Freiheit einschränken wollen. Die grossen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, der Nationalsozialismus und der Marxismus-Leninismus, haben jedoch auch gezeigt, dass das Christentum eine der letzten Verteidigerinnen der Freiheit gegen kollektivistische Ideologien sein kann. Denn für den Gedanken der Freiheit ist das Christentum ebenfalls anschlussfähig.
Es läge deshalb im Interesse liberaler Kräfte, die Ressentiments, die aufgrund der Auseinandersetzungen mit dem Katholizismus des 19. Jahrhunderts immer noch unterschwellig bestehen, zu überwinden. Ein Vordenker in dieser Frage war kein Geringerer als Friedrich August von Hayek. Im Nachwort zu «Die Verfassung der Freiheit» bemerkte er, das Ewige und das Zeitliche seien zwar aus liberaler Sicht zwei Bereiche, die auseinandergehalten werden sollten. Zugleich liege jedoch der «wahre Liberalismus» nicht im Streit mit der Religion. Die «militante und wesentlich unliberale antireligiöse Einstellung, die den kontinentalen Liberalismus des 19. Jahrhunderts anfachte», könne man daher nur bedauern.
Ein Dialog liberaler Kräfte mit den Kirchen würde sich angesichts der Konzernverantwortungsinitiative 2.0 und doppelbödiger links-grüner Religionspolitik lohnen. Denn es gibt auch nicht wenige Kirchenangehörige, die genug davon haben, dass links-grün-atheistische Kirchenbarone ihre Glaubensgemeinschaften für Zwecke instrumentalisieren, die nicht religiös sind.