Götterfreiheit
Von Geburt an hat jeder Mensch das unverjährbare Recht, in allem, was sich ausschliesslich auf ihn selbst bezieht, unabhängig von seinen Mitmenschen zu leben und sein Geschick nach eigenen Fähigkeiten zu gestalten. Er darf denken, was er will, glauben, was er will, beten, zu wem er will. Ungehindert darf er seinen Verstand benutzen, aber Klugheit […]
Von Geburt an hat jeder Mensch das unverjährbare Recht, in allem, was sich ausschliesslich auf ihn selbst bezieht, unabhängig von seinen Mitmenschen zu leben und sein Geschick nach eigenen Fähigkeiten zu gestalten. Er darf denken, was er will, glauben, was er will, beten, zu wem er will. Ungehindert darf er seinen Verstand benutzen, aber Klugheit ist nicht geboten, Einfalt nicht verboten. Er darf sich der Schwärmerei hingeben, einem Aberglauben anhängen und sich mit Gleichgesinnten zu Kulthandlungen treffen. Wo immer er seine Seligkeit zu erlangen hofft, kein Weg ist ihm versperrt.
Gewiss erleiden Menschen Schaden, wenn sie die Pflichten gegen sich selbst missachten. Sich in den Torheiten der Hoffnung komfortabel einzurichten, riskiert den Sinn für die Wirklichkeit. Wer sich vor Bildwerken zu Boden wirft, droht seine Würde preiszugeben. Kriecherei kommt einer Selbstdemütigung gleich. Wundergläubige unterwerfen sich einem Idol, das nichts ist als eine menschliche Kopfgeburt.
Sobald der Gläubige in die Öffentlichkeit tritt, ist es mit dem privaten Glück der Illusion vorbei. Welt- und Gottesbilder prallen aufeinander, Ideologien und Glaubenslehren werden beargwöhnt, entzaubert, verlacht. Der Anfechtungen sind viele. Mit Blasphemie, Grobheiten und Karikaturen ist stets zu rechnen. Auch wenn das Gesetz die Freiheit der Religion garantiert, so herrscht in einer freien Gesellschaft doch keine Eintracht in Einfalt.
Niemand ist dazu verpflichtet, die Götter eines anderen zu verehren. Religionen sind nicht sakrosankt. Kritik und Wahrheit wären aufgegeben, müsste man jede Glaubensgrille anerkennen. Auch wenn eifrige Prediger sich notorisch beleidigt geben, ist niemand gehalten, einem frommen Ansinnen Glauben zu schenken. Der Groll der Halbgläubigen ist kein Grund für Selbstzensur. Mehr als die Duldung spirituellen Eigensinns ist kaum einzufordern. Pluralismus heisst nicht Verzicht auf Wahrheit. Des einen Frömmigkeit ist dem anderen nichts als Bigotterie. Was dem einen heilig ist, hält der andere für Idiotie. Gottes-, Götzen- und Fetischdienste, Paraden der Frömmigkeit treffen nicht überall auf Ovationen. Freiheit der Religion heisst auch Freiheit von jeglicher Religion.
Um Götter wird oft mit grausamer Inbrunst gefochten. Blut und Schmerz bezeugen, wer im Besitz der letzten Wahrheit zu sein scheint. Um den Krieg der Religionen zu beenden, hat der moderne Staat daher den Glauben zur Privatsache erklärt und die Religionen in abgeschirmte Kultorte verbannt. In Bethäusern, Kirchen, Synagogen und Moscheen können die Gläubigen unbehelligt ihr spirituelles Leben führen. Dennoch ist der gottlose Staat für viele Zeitgenossen keineswegs selbstverständlich. Strikter Laizismus hat nur wenig Tradition, strebt doch die Obrigkeit selbst nach höheren Weihen. Götter sollen dem Staat Legitimität verschaffen. Doch zum Schutz der Menschen und ihrer Freiheit muss der Staat in Glaubensdingen neutral bleiben. In seinen Einrichtungen ist religiöse Propaganda und Maskerade, sei sie christlich, jüdisch, hinduistisch, islamisch oder synkretistisch, nicht vorgesehen. Bibel und Koran sind als Schulbücher nicht zugelassen. Die Schule ist die Schule der Nation, nicht der Religion.
Die Trennung von Staat und Religion ist die Voraussetzung für die Freiheiten in religiöser Einfalt und Vielfalt. Sie bewahrt Minderheiten vor Übergriffen der Mehrheit und weist den Fanatismus in seine Schranken. Viele Religionen wollen wachsen, wollen sich die Erde untertan machen. Im religiösen Erlebnis suchen Menschen nicht nur die Nähe ihrer Götter, sondern auch die umfassende Bewegung aller Gleichgestimmten. Religiösen Bewegungen geht es nicht um Frieden oder Toleranz, sondern um Offenbarung. Das religiöse Wort ist Verkündigung. Diesem Imperialismus beugt der neutrale Staat vor. Indem er den Religionen die Waffen der politischen Macht aus der Hand schlägt, schützt er die Strenggläubigen und die Ungläubigen, die Gleichgültigen, die Abtrünnigen und die Freigeister, welche ihre Urteile allein auf gottlose Vernunft stützen. Religiöse Freiheit ist defensiv. Sie bewahrt jeden davor, etwas glauben zu müssen, was er für unglaubwürdig hält.