Gnade wird nicht gegeben
Auf die «Lust, gewisse Fehler des ersten Versuchs beim zweiten Mal zu vermeiden», verweist Thomas Hürlimann bescheiden als Motiv für die Entstehung einer vollständig neuen Version seines «Einsiedler Welttheaters». Wie der Erfolg aus dem Jahr 2000 – mit insgesamt 65’000 Zuschauern – basiert auch sie auf einer durch den spanischen Barockdramatiker Pedro Calderón de la Barca vorgegebenen Struktur. Dessen Fronleichnamsspiel «El gran teatro del mundo», das in Einsiedeln erstmals 1924 aufgeführt wurde, lässt sechs allegorische Figuren von der Geburt bis zum Tod den Schauplatz des Lebens durchwandern. Auch die Welt selbst spielt mit. In Hürlimanns aktueller Fassung unter dem Emblem eines Kitschengels mit Dynamitstangen wird ihre Endlichkeit durch das Verhalten der Menschen beschleunigt, die der Autor im Einsiedler Milieu ansiedelt und alle Kälin tauft. Vom 22. Juni bis zum 8. September finden die Aufführungen, an denen jeweils 350 einheimische Spieler mitwirken, auf dem Platz vor der Klosterkirche statt, auch dieses Mal unter der Regie von Volker Hesse.
Worin besteht für Sie der Reiz an der barocken Form?
In der vollständigen Abwesenheit von Psychologie. Ich bin davon überzeugt, dass die Zukunft des Theaters das Psychologisieren hinter sich lassen muss. Wir stehen ja noch ganz im Bann der Dramaturgie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der Zeit zwischen Ibsen und Schnitzler. Was damals auf die Bühne kam, hat Freud theoretisch erfasst. Heute versuchen die interessantesten Stücke – etwa «Die Schändung» von Botho Strauss, ein fulminanter Wurf – zu einer neuen Dramaturgie vorzudringen. Sie enthält zwar die Psychologie, entwickelt sie aber weiter, auch im Theatralischen. Das heisst, wir sind wieder reif für die theatralischen Verrücktheiten des Barockdramas. Die Figuren dort sind reine Behauptungen, teilweise auch reine Erfindungen. Das fasziniert mich sehr.
Wenn man so will, könnte man das «Einsiedler Welttheater» als eine grösser dimensionierte Fortsetzung Ihrer Dialektkomödien «De Franzos im Ybrig» und «Güdelmäntig» bezeichnen, die in den frühen 90er Jahren sozusagen auf der Rückseite des heutigen Spielplatzes aufgeführt wurden, im Rossstallhof des Klosters. Ihr Interesse am Barock reicht demnach weiter zurück – und es verbindet sich stets mit einer kleinen dörflichen Welt.
Gerade das Barocktheater hat ja immer einen genau definierten Ort und Anlass. Davon geht es aus und möchte sich ins Universale, an das es glaubt, einpassen. Calderón jedenfalls hat das so gemacht. Er möchte in einer einmaligen Fronleichnamsaufführung das grosse Ganze fassen, die Welt. Bis zu einem gewissen Grad ahme ich dieses Verfahren nach, allerdings im Bewusstsein, dass schon mein Titel eine coincidentia oppositorum ausdrückt. Ein einzelner Punkt, Einsiedeln, bläst sich zur Welt auf – und vice versa, die Welt wird wieder zum Punkt, die Kirche bleibt im Dorf. Am Rande bemerkt, besteht gerade hierin die Schwierigkeit der Interpretation aller barocken Kunstwerke: zu verstehen, wie konkrete Anlässe ins Universale übersetzt, wie sie in eine Gesamtarchitektonik eingepasst werden.
«Bi üs im Spiel und au global/Lauft alles butznormal», singt der Chor im Sinne der Dialektik von Winzigkeit und Universalität in Ihrem Stück. Entzieht sich unsere heutige Komplexität aber nicht der Darstellbarkeit durch das alte Schema?
Wenn wir vor der «Tagesschau» sitzen, ist die Winzigkeit ans Globale angeschlossen. Die Problematik ist nicht komplexer, sondern simpler geworden. Aber vielleicht sehe ich das zu sehr von meiner eigenen Winzigkeit her. Nur, einen anderen Zugang zur Welt habe ich nicht. Ich muss mich auf die eigene Erfahrung verlassen.
Um so eine menschliche Realität durchsichtig zu machen, die sich nur in ihren Erscheinungsformen, ihren Maskeraden, aber nicht im Wesen geändert hat? Dazu zählt gerade, dass alles der Vergänglichkeit unterworfen ist …
…Ja…
…die der Mensch nun aber selbst herstellt. In Ihrer neuen Version ist er mit seiner Gier, die alles, selbst noch den vor Augen stehenden Untergang, wirtschaftlicher Verwertbarkeit unterwirft, sozusagen die Krankheit, an der die Welt stirbt.
Ja, die Welt stirbt an, durch und mit uns. Selbst jene, die sie schützen wollen, behandeln sie immer noch als Umwelt, nicht als Mitwelt, was sie etwa für Goethe noch war. Umwelt: in diesem Begriff steckt ja verräterisch viel Anthropozentrik, und wenn sich der Mensch in die Mitte oder über die Welt stellt, so ist das bereits ihr Untergang. Das hört sich jetzt etwas pathetisch an, aber auch in diesem Fall gehe ich nicht von Thesen aus, sondern von persönlichen Erfahrungen.
Sie tilgen dieses Mal sehr konsequent die Figur Gottes aus Calderóns Vorlage. Ihr Pater Kluge redet ja nur von Gott, Gott selbst aber zeigt sich nicht.
Zu meinen nachträglichen Erfahrungen mit Calderóns Stück gehört, dass in ihm ein Widerspruch steckt. Es enthält zwei Figuren, die beide dramaturgisch für das Gleiche stehen: El Autor und die Welt. Beide sind dafür verantwortlich, dass die Spieler ausstaffiert werden und das Geschehen seinen Gang geht. Interessant ist nun, wo Calderón welche Figur einschaltet. Der Welt hat er einen gewissen Optimismus verliehen, den der Schöpfer gar nicht hat. Während El Autor ein bisschen dem alten Prospero aus Shakespeares «Sturm» ähnelt, hat die Welt etwas Junges und Frisches, was zeitgenössisch mit den Erfolgen der spanischen Eroberungspolitik in Übersee zu tun gehabt haben mag. Für uns Heutige ist die Welt nicht mehr jung und frisch. Und Prospero hat seine Macht längst verloren, sein Zauberstab ist zerbrochen. Deswegen entschloss ich mich, El Autor auf den Endwind zu reduzieren. Da weht er noch. Da weht er sogar heran. Die Paarung El Autor/Welt ist also durchaus vorhanden, wenn auch in einer Schwundstufe. Im übrigen hat wohl schon Calderón, dieser grosse Erfinder und Neuschöpfer des Theaters, der zugleich Priester war, ein gewisses Unbehangen verspürt, dass er in seiner nach höfischem Zeremoniell eingerichteten doppelten Bühne etwas Höheres – Gott – aus Loyalität zum Königshaus nach etwas Tieferem zu konzipieren hatte. Wir haben beides vollständig verloren, sowohl das höfische Zeremoniell wie auch die Überwelt, auf die es verweisen soll. Jedenfalls entzieht sich dies unserer Benennung.
Wenn sie auf Gott verzichten, gibt es aber auch niemanden mehr, der wie bei Calderón das Gesetz der Gnade souffliert.
Wir sind gar nicht mehr in der Lage, Calderóns Gnadenszene zu verstehen. Was ist Gnade? Wenn mich der Blitz trifft. So weit gehe ich nicht. Bei mir bleibt’s beim Wind. In sieben Anläufen. Aber ohne Blitz und Donner. Gnade wird nicht gegeben. Die Welt ist gnadenlos geworden.
Höre ich da ein gewisses Bedauern heraus?
Ja. Allein an der Frage, warum es ein Gesetz der Gnade ist, bin ich dramaturgisch gescheitert. Hier fehlen uns einfach die Begründungszusammenhänge. Hier hat sich Calderóns grandiose Stück-Kathedrale von uns verabschiedet.
Ist es für Sie trotzdem ein religiöses Stück?
Ja.
Worauf gründen Sie diesen Anspruch?
Auf den Wind, der von einer anderen Welt herkommt, der nicht greifbar ist, nur in Sätzen aus der Apokalypse und alten Legenden beraunt wird. Aber was da kommt, wissen die Figuren genausowenig, wie der Autor, der es geschrieben hat.
Ihr Pater Kluge predigt sehr drastisch Umkehr und Busse. Solche Begriffe sind ja selbst in der kirchlichen, die oft nur noch eine laue Verlautbarungs-Sprache ist, praktisch ausgestorben.
Ich bedaure sehr, dass die Kirche ihre Sprache verloren hat. Dies gilt für das Latein ebenso wie für das Kanzelwort. Wenn ich einmal in eine Kirche hineinspaziere, bin ich von den Predigern immer sehr enttäuscht. Bei beiden Konfessionen hat sich da eine erschreckende Verarmung eingestellt. Mit allersimpelsten, teilweise dem Kinderfernsehprogramm entnommenen Beispielen wird Gutmenschliches dahergestammelt und am Ende eventuell mit einem Schriftwort versehen. Die letzte wirklich gute Predigt, an die ich mich erinnern kann, ist fast schon zehn Jahre her. Sie stammte von Pater Kassian Etter, der heuer die Welt spielt, und handelte vom plötzlichen Entsetzen, das er vor einem Wegkreuz empfunden hat. Er ist vom geschnitzten Heiland regelrecht überfallen worden. Dies war eine Predigt, wie ich sie heute vermisse, eine, die ins Metaphysische ausgriff. Heute spielt sich das Kanzelwort ganz und gar im Diesseitigen ab. Da braucht man doch gar nicht mehr hinzugehen.
Religion ist ja in Ihren Arbeiten von Anfang an gegenwärtig. Damals, in den frühen 80er Jahren, war das in der deutschsprachigen Literatur eher die Ausnahme. Inzwischen spricht man, was die Feuilletons betrifft jedenfalls, nachgerade von einer Wiederkehr des Religiösen, und manche Intellektuelle bekennen sich offen zu ihrem Trostbedürfnis. Bei Ihnen wird demgegenüber die Theodizeefrage auch in diesem Stück als Wunde offen gehalten. Radikalstes Bild dafür ist die Sterbehilfe, die in der 5. Szene, dem «Kinderspiel», die «Madonna in der Trinität» dem gekreuzigten Lamm leistet, el Cordero.
Zum Bewusstsein von Religiosität gehört es, unversöhnt zu sein, nicht die Differenzen wegzuschummeln, wie es heute vielfach geschieht, wo man sich in pseudoreligiöser Gruppendynamik mit Gott fröhlich gemeinzumachen versucht. Es graust mir vor solchen Veranstaltungen, in denen jede Unterscheidung zwischen Gott und uns aufgegeben wird. Religiosität schliesst Erschütterungen, Schrecken, Differenzen ein. Ohne diese können wir uns Gott, dem Tod, jedem Transzendenten gegenüber nicht verhalten. Wenn wir uns mit Gott auf eine Ebene denken, begegnen wir höchstens dem eigenen aufgeblasenen Ich.
Entscheidend ist für Sie also der Doppelcharakter des «Mysterium tremendum et fascinosum»?
Ja, und wie!
Wenn transzendente Wesen als seine Mit- und Gegenspieler unserer Vorstellung gemäss ausgeschlossen sind, müsste ein zeitgenössisches Welttheater, in allegorischer Form, dafür nicht andere ausser-subjektive Einwirkungen auf den Menschen darstellen: seine Triebhaftigkeit, unbewusste Impulse, Milieus, Traditionen, Konventionen und dergleichen?
Tatsächlich habe ich lange danach gesucht, wie entsprechende Figuren aussehen könnten. Viele sind mir eingefallen, aber es war keine schlüssige Gruppe darunter. Calderón hat seine aus dem antiken Mythos übernommen. Mit gewissen Einschränkungen funktioniert seine Gruppe bis heute. Armut gibt es immer noch, Reichtum mehr denn je. Trotzdem haben Sie mit Ihrer Frage recht. Wenn ich eine solche Gruppe, von der Sie sprechen, zusammengebracht hätte, könnte ich mit mir zufrieden sein. Ähnlich wie bei Schachfiguren, ist Calderón eine einmalige Setzung gelungen, die sich nicht so ohne weiteres verändern lässt.
Die bei weitem prallste Ihrer Figuren ist für mich der Bauer, der zuweilen wie ein Nestroy-Charakter besoffen über die bevorstehende Apokalypse schwadroniert …
…genau so ist es…
…während ausgerechnet die Armut etwas blass ausfällt, mit einem Stich ins Sentimentale sogar.
Mein Problem war, dass gerade sie die stärkste Figur bei Calderón ist. Mit ihrer gewissen Blässe, wie Sie sagen, zahle ich den Preis für meine Veränderungen. Mehrere Nächte lang, sogar an Heiligabend, bin ich hier in Berlin durch die Strassen spaziert, um mich mit Punkern zu unterhalten, umgeben von Bierflaschen und Hunden. Ich habe mir überlegt, ob ich mit meiner Figur vielleicht in diese Richtung gehen könnte. Aber ich war dabei eben stets in Berlin und nicht in Einsiedeln. Von allen Figuren habe ich der Bettlerin in meinem Stück die meisten Originalzitate gelassen. Ich glaube, hier rächt sich der grosse Meister Calderón an mir.
Das Lied der Paare in der kurzen Schlussszene zeigt, wie angesichts des Endes mit Schrecken, das die Welt den Menschen und die Menschen der Welt bereiten, alle Versuche, in der Liebe so etwas wie Schutz zu finden, hilflos bleiben. Oder schimmert da zuletzt doch etwas Hoffnung durch?
So möchten das vor allem die Frauen spielen. Auf den Proben haben sie dafür gekämpft, dass am Schluss die Liebe als Hoffnungszeichen übrig bleibt. Allerdings habe ich meine Zweifel, ob es in einer Welt, die die Transzendenz abgeschafft hat, die Liebe noch geben kann.
Calderón zielt mit seinem Drama auf Belehrung und Ermahnung. Würden Sie sich dagegen wehren, wenn man Ihnen ähnliche Absichten unterstellte?
Ich empfinde ein grosses Unbehagen bei dieser Frage. Aber selbstverständlich kann man sich dem nicht ganz entziehen, wenn man sich bei Calderón bedient. Das barocke Drama ist schamlos belehrend. Der Aufführung steht es jedoch frei, damit umzugehen. Pater Kluge, den Sie vorhin erwähnt haben, hat zweifellos etwas Fanatisches. Worte wirken auf dem Theater sofort anders als auf dem Papier.
Warum wehren Sie sich denn dagegen, Moralist zu sein?
Weil ich Moralisten für geistig beschränkt halte.
Ein auffälliger Zug in der neuen «Welttheater»-Version ist eine gewisse politische Skepsis. Dass «Demokratie en Säge isch», betont der König fast manisch.
Je älter ich werde, um so mehr misstraue ich den Mehrheiten. Die schweizerische Demokratie funktioniert oft nur deshalb, weil wir eine phantastisch niedrige Stimmbeteiligung haben, im Bezirk Einsiedeln etwa um die 20 Prozent. An die Urne gehen nur die wirklich Interessierten, die Experten, deshalb fallen die Entscheidungen in der Regel vernünftig aus. Sobald sich aber doch einmal die Mehrheit artikuliert, können die Ergebnisse fragwürdig werden.
Sie werden doch nicht ernsthaft für die Entmündigung des Einzelnen durch die Experten plädieren?
Nein, im Gegenteil. Ich plädiere nur für niedrige Stimmbeteiligungen. Und im «Welttheater» bezieht sich meine Kritik auf Rituale, die sich verselbständigt haben. Etwa so wie in meinem früheren Stück «Der letzte Gast», wo die im Verein organisierten Sportfischer munter weiter angeln, obwohl es im gekippten See längst keine Fische mehr gibt. In der Politik sind wir heute an einem ähnlichen Punkt. Der Biokollaps hat stattgefunden – und alle machen weiter, als wäre nichts geschehen.
Auch die Kultur kommt in Ihrem Totentanz, um den es sich ja eigentlich handelt, nicht ungerupft davon. «Kultur Finanz Total» lautet eine Zeile des Refrains aus dem schrecklichen Rondo unserer Verfehlungen. Geht von der Kultur tatsächlich keine Widerstandskraft mehr aus?
Sie meinen, das Stück schafft sich selber ab?
Im Sinne des Transitorischen wäre das so unbarock ja gar nicht. Aber trügt auch der Eindruck, dass Elemente Ihrer Calderón-Rezeption in anderen Arbeiten Niederschlag gefunden haben? In «Synchron» etwa, Ihrer absurden Tragikomödie über das Unglück der Menschen nicht nur als Beziehungswesen, kokettiert Bob, die Stimme des vielleicht abwesenden Regisseurs im Tonstudio einer schäbigen Porno-Produktion, mit sich selbst als einer geradezu göttlich überlegenen Instanz.
In meinem jüngsten Roman, «Vierzig Rosen», tritt eine alte, grell geschminkte, etwas anrüchige Hotelière auf, Betreiberin des «Grand» in Bern, die eine allegorische Figur der trügerischen Frau Welt sein könnte. Solche Übertragungen habe ich nicht unbedingt unter Kontrolle – aber Sie haben Recht, die Beschäftigung mit dem Barockdrama könnte sich auswirken.
Da ich von «Synchron» spreche: dieses, ihr letztes Stück für die Bühne, ist schon fünf Jahre her.
Als Dramatiker bin ich eine durch und durch barocke Figur. Eben noch wurde ich als Hoffnung gehandelt, schon werde ich zum alten Eisen gezählt und von den Bühnen nicht mehr gespielt. Una entrada, una salida!
Das klingt arg nach Resignation.
Nein. Ich schreibe weiter, auch wenn es die Theater, die sich dafür interessieren, gar nicht mehr gibt.
HANS-RÜDIGER SCHWAB, geboren 1955, ist Professor für Kulturpädagogik/Ästhetik und Kommunikation an der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Münster.