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Glück der Kommune
In der portugiesischen Kommune «Tamera» wird seit über 40 Jahren experimentelle soziale, sexuelle, spirituelle, biologische und technologische Forschung betrieben. Bild: www.tamera.org

Glück der Kommune

Ein freier Geist verweigert sich dem Ruf der Horde. Trotzdem ist es notwendig, den Begriff der Gemeinschaft nicht den Kollektivisten links und rechts zu überlassen.

 

Wie hältst du es mit der Gemeinschaft? Nicht wenige Liberale macht diese Gretchenfrage entweder ratlos oder lässt sie dezidiert abwinken. Das kommt nicht von ungefähr: Sowohl Faschismus als auch Sozialismus betrachten den Menschen in seinen Einbettungszusammenhängen wie Volk, Rasse oder Klasse. Der Liberalismus jedoch verzichtet auf eine derartig kollektivis­tische Bestimmung des Menschen und hat sich stattdessen Individualismus und Freiheit auf die Fahnen geschrieben, was den Aufstieg ganzer Gesellschaften aus der Armut hinauf zu Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit ausgelöst hat. Doch wo ist dabei das ­Gemeinschaftsgefühl geblieben, wo die wohlige Sicherheit, wie sie Schafe in einer Herde verspüren? Sicherlich war «Gemeinwohl geht vor Eigennutz» ein Slogan, der von den Mächtigen nicht nur des 20. Jahrhunderts aufs übelste missbraucht wurde. Aber rechtfertigt diese Erkenntnis, den Eigennutz zur hauptsächlichen ­Leitlinie politischen Handelns zu machen? Schon Hannah Arendt bemerkte, dass hier eine Leerstelle klafft: Wenn jeder nur an sich denkt, sind wir eine Gemeinschaft von Egoisten.

Für viele ist es heute der (Neo)liberalismus, der die Gesellschaft ordentlich umgepflügt hat. Der Trend zu Singlehaushalten, die Zunahme dysfunktionaler Familien, die Verflachung der Kultur, der Verlust von Tradition, Verbindlichkeit und identitäts­stiftenden Ritualen, der Mangel an «Sozialkapital», den der amerikanische Soziologe Robert Putnam in seinem berühmten Buch «Bowling Alone» diagnostiziert – all diese disparaten Phänomene lassen sich als Nachtseite des freidrehenden Liberalismus deuten, der die Menschen aus ihren Einbettungszusammenhängen herausgelöst und die Gesellschaften atomisiert hat.

Vom Füllen der Leere

Und trotzdem: Ein simples Zurück zu Bindung und Gemeinschaftlichkeit scheint uns verbaut zu sein. Schon Adorno hielt es 1966 in «Erziehung nach Auschwitz» für illusorisch, dass die Forderung nach Bindungen – auch nach Bindungen um ihrer selbst willen – verfangen könne; vielmehr werde die Leere dieses Versuchs schnell als solche erkannt. Und eine Leerstelle mit einer Leere zu füllen, kann nicht das Ziel sein. Adorno beschwor stattdessen als «einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz» das Prinzip des Liberalismus – die Autonomie: «Die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nichtmitmachen».

Die Ausgangslage ist kompliziert: Die Moderne fordert von uns in erster Linie, ein Ich zu sein, den Weg der Individuation oder Selbstwerdung (C. G. Jung) zu gehen. Zugleich haben wir das Schreckensbild der kollektivistischen Katastrophen im Rücken. Trotzdem lässt viele der Eindruck nicht los, dass ein bisschen mehr Gemeinschaft und Solidarität unseren atomisierten Gesellschaften ganz gut zu Gesicht stehen würden. Wie der gefallene Ikarus blicken wir erneut zum Himmel hinauf, zum Ideal einer ­gerechten Gesellschaft nämlich, zu dem wir uns frevelnd emporschwangen – das Ergebnis ist bekannt.

Welche Gemeinschaft ist sinnvoll?

Wer sind wir, allein gelassen mit unserer Autonomie, also? Welchen Inhalt hat ein Selbst noch, das sich ganz allein aus sich selbst heraus erschaffen muss? Schliesslich hat Identitätsfindung immer zwei Aspekte: den der Abgrenzung vom Überkommenen, vom Gruppenzwang, vom «Ruf der Horde» (Karl Raimund Popper) sowie den der Integration in Vorgefundenes: Wir sind, wer wir sind, nicht zuletzt durch die Gruppen, denen wir nun einmal angehören.

Freilich war die Tatsache, dass Familie und Gemeinschaft ihre starken Bindungskräfte verloren haben, Zeichen unseres Ausgangs aus der Unmündigkeit und ein Gewinn an Selbstbestimmung. Doch ohne Gemeinschaftlichkeit, in der wir unsere Individualität wieder einbringen könnten, ohne ein Gemeinwohl, dem wir unseren Eigennutz hingeben können, hat unsere Freiheit ­keinen Wert. Wir brauchen einen sinnhaften Gemeinschafts­begriff «zu etwas hin». Denn die Götter, denen wir unsere hart ­errungene Unabhängigkeit opfern könnten, sind tot – und Aufklärung, Skeptizismus und Liberalismus haben sie getötet.

Wir mögen noch Schwundformen von Gemeinschaft vor­finden, doch die Selbstverständlichkeit, mit der ihre Werte und Regeln akzeptiert wurden, ist dahin. Geborgenheit hat einen Preis: Zwang und Enge. Je einfacher aber wir uns von den Zumutungen einer auf Verbindlichkeit zielenden Instanz lösen können, desto weniger Geborgenheit vermag sie umgekehrt zu bieten.

Das Gespenst des konsumistischen Nihilismus

Es gibt Menschen, denen dieser Gedanke der Enge tatsächlich weniger Angst macht. Vor allem rechte Denker beschwören diese «Blutsgemeinschaft», die Helmuth Plessner der oberflächlichen «Sach­gemeinschaft» der Werte, Ideen entgegenstellte als das Prinzip, das den Menschen dank seiner identitätsstiftenden Kraft wieder Sinn verleihen kann. Denn der Globalkapitalismus duldet keine andere Identität als die, die seine Marken bieten können – eine leere, materialistische Identität, weswegen rechtsgerichtete Publizisten wie Jack Donovan vom «Empire of Nothing» sprechen. Der Liberalismus ist in dieser Sichtweise zum Handlanger des globalen Kapitalismus geworden, der homogenisierte, hochmobile und jeglicher Gemeinschaftlichkeit beraubte Marktakteure benötigt, die sich flexibel in neue Jobzusammenhänge einfügen lassen und ihre innere Leere nur noch mit den Produkten der Konsumindustrie füllen können.

Diese Deutung ist ernst zu nehmen, will man den Liberalismus nicht den Gebildeten unter seinen Verächtern zum Frass überlassen. Doch das Konzept der Blutsgemeinschaft, die in ­Höherem verwurzelt sein will als im gemeinsamen Handeln in der profanen weltlichen Zeit, scheint in einer immer enger vernetzten Welt nicht nur anachronistisch und reaktionär zu sein, sondern birgt auch Gefahren.

Plessner war sich dieser Gefahren bewusst. In «Grenzen der Gemeinschaft» (erschienen 1924) warnt er vor dem sozialen Radikalismus, dem diejenigen anhängen, die das Individuum wieder auf die Wurzel seiner Existenz einschwören wollen. Die sozialen Radikalisten verstehen «Gemeinschaft» als eine natürliche Ordnung der Lebensbezüge zwischen den Menschen; «Gesellschaft» hingegen sei etwas Künstliches, der Umgang der Menschen untereinander oberflächlich und anonym. Doch eine Rückbindung des Menschen auf eine einzige Idee («Gemeinschaft») missbraucht das Grundbedürfnis des Menschen auf Distanz. Erst die kältere, als Mittel zum Zweck fungierende «Gesellschaft» bietet dem Menschen den nötigen Raum und Abstand zu anderen und sich selbst.

Eine Umarmung auf Distanz

Wie könnte ein fruchtbares Verhältnis zur Gemeinschaft aus­sehen, mit dem sich auch Freigeister anfreunden können? In der Sehnsucht nach und Angst vor Gemeinschaft scheint etwas universell Menschliches zu liegen. Ein normloser Individualismus ­beraubt uns der Identität und Geborgenheit. Blutsgemeinschaften sind überholte, auf Ausschliessung zielende und oft der Gefahr des Chauvinismus und des Machtmissbrauchs erliegende Konstrukte. «Das Paradies ist verriegelt», wie es in Kleists Marionettentheater-Aufsatz heisst.

Es ist vielmehr die frei gewählte Gemeinschaft der Werte und Ideen, die eine Reaktivierung braucht. Sicher, sie ist oberfläch­licher und instabiler, da sie allein auf dem Willen und Interesse der Individuen beruht. Doch darin liegt zugleich ihr Versprechen: dem Menschen, der sich in sie begibt, ebenfalls Grenze und ­Distanz zu ermöglichen sowie die Verantwortung zu lassen, gleichzeitig mit seinem Eingehen ins «grosse Ganze» ein auto­nomes Ich zu sein und die Wahlgemeinschaft immer wieder ­kritisch zu prüfen, zu verändern oder zu verlassen. Der Versuch, in ihr Halt und Orientierung zu finden und uns gleicherweise von ihr abzusetzen, ist uns als das einzige Mittel verblieben, mit dem wir den Erbfehler des Liberalismus ausgleichen können.

Wettbewerb der Gemeinschaften

Der Kern der Idee ist nicht gänzlich neu: Die Gemeinden des ­Urchristentums, die Klöster, spirituelle und weltanschauliche ­Sekten aller Spielarten sowie die Idee der Kommune sind seit Jahrtausenden Beispiele dafür, dass auch Menschen im Westen in ­Gemeinschaft leben wollen. Der grosse Hype allerdings, den das ­gemeinschaftliche Leben zuletzt in den 1970er Jahren erlebt hat, ist vorbei und eine Wiederbelebung auf breiter Basis nicht in Sicht. Dabei wäre es dieses Prinzip, das eine Antwort nicht nur auf die Vereinzelung der Individuen, die Probleme einer überalternden Gesellschaft mitsamt Pflegenotstand und Alterseinsamkeit geben kann, sondern auch auf ökologische und ökonomische Heraus­forderungen.

Die Idee der Kommune wirkt angestaubt und ideologisch besetzt. Muss das so sein? Obgleich es funktionierende Beispiele gibt, wie das «Ökodorf Sieben Linden» oder das «Heilungsbiotop» Tamera in Portugal, bleibt die Anziehungskraft einer «intentio­nalen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft» gesamtgesellschaftlich gering. Wer ihr beitritt, gilt noch immer als spinnerter Aussteiger, der es im richtigen Leben nicht geschafft hat. Das liegt auch an der ganzheitlichen Ausrichtung der meisten Kommunen, denn sie ­haben oft eine tendenziöse Programmatik: Geborgenheit und ­Solidarität sind erkauft durch Konsensdemokratie, die Ablehnung des Leistungsgedankens und den Verzicht auf Privateigentum. Die relative Geschlossenheit kippt gerne in Richtung eines religiösen oder säkularen Sektierertums.

Was wir deshalb wirklich benötigen, um der Atomisierung der Gesellschaft sowie den kollektivistischen Versuchungen zu begegnen, sind neue Angebote auf dem Markt des gemeinschaft­lichen Lebens, die sich auch an Menschen richten, die nicht auf alle Annehmlichkeiten der Moderne verzichten möchten und auch Leistung, finanzielle Unabhängigkeit und Privateigentum wertschätzen. Nicht jeder möchte gleich seine ganze Karriere für ein wenig Wir-Gefühl eintauschen. Es braucht auf diesem Markt Konzepte, Ideen und Experimente, die der Verschiedenheit der menschlichen Natur Rechnung tragen. Es braucht – ganz liberal gedacht – einen Wettbewerb der Gemeinschaften.

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