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Globalisierung, die letzten 200 Jahre

Eine kurze historische Einführung.

Globalisierung, die letzten 200 Jahre
Schneller, grösser, weniger Kosten: Das Dampfschiff beschleunigt den Transport von Waren und Menschen. Hier: die Str. J.T. Hutchinson der Pioneer Steamship Company passiert am 11. Dezember 1903 den Hafen von Soo Locks, USA. Library of Congress.

«Freihandel tötet!», so steht es auf Transparenten, die wieder vermehrt durch europäische und US-amerikanische Innenstädte getragen werden. Selten waren in den letzten Jahrzehnten die Zweifel am Freihandel so gross wie heute. Populistische Politiker und Parteien bemühen sich, zahlreiche Nebenwirkungen von Handel in ihren Kampagnen für Abschottung vom Weltmarkt zu nutzen. Das Absterben von Industriezweigen, nachdem Zollschranken gesenkt worden sind, ist ein vertrautes Leitmotiv der Freihandelskritik. Aber welche Wirkung hat Freihandel genau? Was sind die kurz- und die langfristigen Folgen?

Moderne «Data Mining»-Techniken erlauben es der wirtschaftshistorischen Forschung heutzutage erstmalig, alle Länder in den Blick zu nehmen, um diese Fragen zu klären. Es können Indikatoren gebildet werden, die beispielsweise zeigen, wie sich der Lebensstandard in Westafrika im 19. Jahrhundert entwickelte oder welch überraschende Bildungstrends es in Zentralasien gab. Zahlreiche Beispiele belegen, dass der Freihandel und die wirtschaftliche Offenheit bei guten institutionellen Rahmenbedingungen die erfolgreichere Alternative war und ist.

Gleichzeitig belegen aber Länderstudien zu kurzfristigen Entwicklungen, wie ungünstige Begleiterscheinungen den Freihandelsgegnern Munition lieferten. Es ist spannend zu beobachten, wie die Mechanismen dieser Begleiterscheinungen funktionierten – und wie sie möglicherweise gemildert werden können.

 

Die «erste Phase der Globalisierung» (1850–1913)

In der ersten Phase der Globalisierung gab es ein einzigartiges Wachstum in den Ländern der «atlantischen Welt» (Europa und Nordamerika), und auch weltweit übertrafen die Wachstumsraten alle vorangegangenen Epochen der Wirtschaftsgeschichte. Seitdem wurden die Wachstumsraten nur einmal erreicht – von der zweiten Phase der Globalisierung (beschleunigt seit 1980, bis heute), als die Zahl der Armen in der Welt von zwei Milliarden auf eine Milliarde sank. Allerdings ist diese zweite Phase der Globalisierung seit einem Jahrzehnt von einer Stagnation (auf allerdings hohem Niveau) gekennzeichnet. Es mehren sich die Anzeichen, dass eine Trendwende und eine erneute Deglobalisierung einsetzen könnten. Wie kam es dazu? Gibt es Ähnlichkeit zur ersten Trendwende um 1900?

Die erste Phase der Globalisierung vor dem Ersten Weltkrieg (1850–1913) war zum einen durch rapides Einkommenswachstum geprägt und zum zweiten durch eine Beschleunigung des Humankapitalwachstums, auch in ärmeren Ländern. Dies konnte als Basis für eine Verbesserung des Lebensstandards im 20. Jahrhundert fungieren. Zum dritten wies die erste Phase der Globalisierung aber auch schmerzhafte Nebenwirkungen auf, gerade für die ärmern Menschen in den weniger wohlhabenden Ländern. Interessanterweise empfanden auch einige soziale Gruppen auf dem anderen Ende der globalen Einkommensverteilung, wie zum Beispiel die Grossgrundbesitzer in den reicheren Ländern, diese Entwicklung als bedrohlich.

Wie entwickelte sich das Humankapital in der ersten Phase der Globalisierung, das die Basis für langfristiges Wachstum bildet? Das Osmanische Reich hatte ebenso wie afrikanische und asiatische Königreiche sehr wenig in Bildung investiert. Dies traf zwar auch teilweise auf Nordwesteuropa vor der Industriellen Revolution (also vor 1750) zu. Aber in Teilen Europas hatte sich quasi privat, in den Familien, eine Bildungskultur entwickelt. Dort führte diese Bildungsneigung zu einer veritablen Humankapitalrevolution zwischen 1500 und 1850. Dieser spielerische Wissenserwerb funktionierte in anderen Weltregionen weniger gut, die «Numeracy»-Werte (d.h. die Fähigkeiten, mit Zahlen umzugehen) blieben bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wenig ausgeprägt. Als Indikator für diesen Bereich wird in statistisch wenig dokumentierten Ländern (und frühen Zeiten) oft die Fähigkeit herangezogen, zumindest das eigene Alter genau zu kennen. In der Globalisierungsphase zwischen 1850 und 1913 gab es eine Trendwende, die dazu führte, dass in zahlreichen Regionen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, die anfänglich ein niedriges Numeracy-Niveau hatten, eine erhebliche Steigerung einsetzte, vom Umfang her ungefähr vergleichbar mit der Humankapitalrevolution in Europa.

Neben diesen positiven Entwicklungen der Globalisierungsphase vor 1913 gab es einige negative Trends. Eine Reihe von Nebenwirkungen machten die damaligen Globalisierungsbefürworter nachdenklich. Die betroffenen Einwohner von ärmeren Ländern litten zum Teil katastrophal unter diesen Effekten; beispielsweise verschlechterte sich die Gesundheit in den 1880er/1890er Jahren in Afrika und Südostasien dramatisch, was sich etwa an der abnehmenden Körpergrösse ablesen lässt. Körpergrösse wird in der wirtschaftshistorischen Forschung als Indikator für «biologischen Lebensstandard» benutzt, weil er mit Lebenserwartung, Gesundheit und anderen wichtigen Komponenten korreliert. Genetische Faktoren hingegen spielen in den meisten Ländern nur auf der Individualebene eine Rolle, nicht jedoch wenn die Werte von vielen hundert Individuen gemittelt und die Veränderungen über die Zeit betrachtet werden. Die Ursachen für die Abnahme des biologischen Lebensstandards waren unter anderem die Verbreitung von Rinderpestepidemien, schlimme Zwangsarbeit in den Kolonialreichen sowie Epidemien von Cholera, Diphterie und weitere Gesundheitsprobleme. Letztere wurden gefördert durch zusätzliche Handelskontakte, die immer auch menschliche Kontakte und damit Ansteckungsrisiken implizieren.

Weitere Nebenwirkungen entstanden durch die Verteilung von industriellen Wachstumszentren. Die durchschnittlichen Einkommen in Südasien und dem Mittleren Osten wuchsen einerseits erheblich durch den Export von Lebensmitteln und Industrierohstoffen; der Export von ägyptischer Baumwolle machte viele ägyptische Grundbesitzer wohlhabend. Aber gleichzeitig entstand eine Tendenz zur Deindustrialisierung in diesen Ländern. In der vorangegangenen Phase, um 1800 beispielsweise, war zum Beispiel Südasien ein wichtiger Exporteur gewerblicher Güter gewesen. Diese gewerbliche Produktion reduzierte sich erheblich im 19. Jahrhundert, und sie begann sich erst im folgenden Jahrhundert wieder allmählich zu erholen.

 

Nebenwirkungen für Reiche

Die Nebenwirkungen von Freihandel – und Globalisierung insgesamt – führten in der «ersten Phase der Globalisierung» auch dazu, dass radikale Gegenkräfte unter den reichsten Sozialgruppen entstanden. Kevin O’Rourke und Jeffrey Williamson1 beschrieben, wie der Verfall der Transportkosten durch Dampfschiffe und viele weitere Innovationen zu drastischen wirtschaftlichen Veränderungen führten. Der dramatische wirtschaftshistorische Umbruch führte dazu, dass es sowohl Gewinner als auch Verlierer gab, selbst wenn der Saldo positiv war. Natürlich hätten theoretisch die Gewinner die Verlierer entschädigen können, aber das passierte (und passiert) selten. Die einfache – und gesamtwirtschaftlich falsche – Lösung bestand darin, den Freihandel zu bekämpfen. Zum Beispiel waren es im Deutschen Reich die reichen Grossgrundbesitzer, die zu den engagiertesten Globalisierungsgegnern wurden. Der preussische Adel sah die «Getreideinvasion» aus der neuen Welt und aus dem Russischen Reich mit Sorge, weil die eigene wirtschaftliche Basis und damit die politische Vorherrschaft schwanden. Ähnliche Phänomene gab es in zahlreichen anderen Ländern, in denen Grossgrundbesitzer sich von Deklassierung bedroht fühlten. Schutzzölle waren der Anfang, und als diese nicht ausreichten, zählte die Sozialgruppe der Grossgrundbesitzer zu den glühendsten Anhängern von militärischer Auseinandersetzung.

In der neuen Welt hingegen bestanden die ersten Fabrikbesitzer auf einer Schutzzollpolitik, um die Importe englischer und später deutscher und anderer Industrieprodukte fernzuhalten. Weil man nicht offensichtlich egoistisch argumentieren wollte, wurde die Sorge um die Löhne der Industriearbeiter vorgeschoben, zum Beispiel in den USA: Man müsse die Zölle erhöhen, um im Wettbewerb mit den unterbezahlten Industriearbeitern in Europa bestehen zu können. Mit anderen Worten: erst wenn das Armenhaus Europa seine Sozialstandards erhöhe, könne man die Zölle senken. Ähnlich argumentierten Kanada, Argentinien, Brasilien und andere Länder der Neuen Welt, die erste zaghafte Ansätze von «infant industries» im eigenen Land ermutigen wollten. Gleichzeitig wuchsen Protestparteien gegen Einwanderungen in der Neuen Welt. Diese Gegentendenzen zur Globalisierung waren um 1880 noch schwach, aber sie erstarkten immer mehr bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Liest man die Formulierungen damaliger Freihandelsgegner, so ähneln sie erschreckend denen der heute erfolgreichen populistischen Parteien (wie beim oben erwähnten Beispiel vom Armenhaus Europa und seinen niedrigen Sozialstandards, mit dem man keinen Freihandel vereinbaren könne). Diese Ähnlichkeit ist deshalb so erschreckend, weil es nach 1913 nicht bei der Abschaffung des Freihandels und der Immigration blieb. Vielmehr entfesselten sich die nationalen Egoismen zu Weltkriegen, die Millionen von Toten und schlimmste Barbarei zur Folge hatten. Die Versprechungen der Freihandelsgegner vom Anstieg des «allgemeinen Wohlstandes im abgeschotteten Land» wurden natürlich niemals erfüllt; vielmehr sank der Lebensstandard für den grössten Teil der Bevölkerung dramatisch.

 

Nach 1945: zum Beispiel Indien

In der Phase nach den Weltkriegen und der Desintegration der Weltwirtschaft setzte eine allmähliche Wiederbelebung des Welthandels ein. Allerdings nahmen nicht alle Länder daran teil. Ein prominentes Beispiel dafür ist Indien.

Insgesamt hatte Indien eher eine stagnierende Entwicklung zu Beginn der britischen Kolonialzeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ausserdem gab es katastrophale Hungersnöte in der klimatisch schwierigen Zeit der 1890er Jahre – die gleichzeitige Intensivierung des Handels führte zu häufigen Epidemien. Diese anfänglichen Schwierigkeiten wurden im Zeitverlauf gemeistert, und gegen Ende der kolonialen Phase verzeichnete man ein leichtes Wachstum. Nach der Dekolonisierung erfolgte jedoch eine radikal skeptische Haltung gegenüber dem Weltmarkt. In dieser Zeit verzeichnete Indien ein sehr unterdurchschnittliches Wachstum des Einkommens und eine Stagnation der Gesundheitsindikatoren.

Teilweise war diese Abschottung gegenüber dem Weltmarkt durch die Art der Befreiungsstrategie von der britischen Kolonialmacht entstanden. Mahatma Gandhi und seine Denkschule beeinflussten einerseits die relativ gewaltarme Dekolonialisierung Indiens bis in die späten 1940er Jahre, anderseits hatte das Ideal der Selbstgenügsamkeit, der Produktion für den eigenen Bedarf und einer beinahe asketischen Lebensweise auch einen Einfluss auf die Wirtschafts- und Agrarpolitik Indiens von 1950 bis in die 1980er Jahre: die Zollpolitik etwa betonte die Eigenproduktion und war skeptisch gegenüber einer Öffnung zum Weltmarkt. In der Agrarpolitik war das Ziel, auch die ärmeren Teile der rasant wachsenden Bevölkerung zumindest mit Reis und Getreide zu sättigen. Proteinreichere Lebensmittel galten nicht wenigen einflussreichen Indern als dekadent und unnötig. Als Resultat entwickelte sich die Ernährungsqualität in Indien ungünstig, in einigen Regionen sank sogar die Körpergrösse von Frauen von einem niedrigen auf ein sehr niedriges Niveau.

Erst in den 1980er und 1990er Jahren, als das Land sich wieder im erheblichen Mass dem Weltmarkt öffnete, kam es zu einer dramatischen Zunahme des Bruttoinlandsproduktes und zahlreicher Gesundheitsindikatoren. Ähnlich wie Indien erging es zahlreichen Ländern im späten 20. Jahrhundert, die aus den zuvor beobachteten Nebenwirkungen den Schluss zogen, dass eine autarke Entwicklung vielversprechender sei.

 

Die Wirtschaftsgeschichte von Freihandel, Nebenwirkungen und die heutige Debatte

Was lernen wir für heute aus der Geschichte des Welthandels? Die Skepsis gegenüber dem Freihandel ist erheblich und zunehmend. Oft werden verschiedene Aspekte in die Freihandelsdiskussion hineingemischt. Es mag Gründe geben, zum Beispiel Schiedsgerichte skeptisch zu betrachten, wenn grosse Unternehmen Regierungen zu Milliardenzahlungen nötigen können, falls diese zum Beispiel aus der Kernkraft aussteigen wollen. Dies hat natürlich mit der eigentlichen Idee von Freihandel wenig zu tun. Aber oft werden Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen mit der Debatte verknüpft und teilweise stärker gewichtet als der eigentliche Haupteffekt. Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass die mittel- und langfristigen Wirkungen von Freihandel in der Regel klar positiv waren.

Es mag zudem für einheimische Unternehmen bedrohlich sein, wenn Wettbewerber aus dem Ausland plötzlich auf den Markt drängen. Allerdings wird Freihandel ja in der Regel nicht schlagartig «eingeführt», sondern meist werden die Handelsschranken allmählich gesenkt, so dass sich die Unternehmen auf die Konkurrenz vorbereiten und ihre Wettbewerber kennenlernen können. Wenn sie trotzdem nicht flexibel genug sind (oder die Mitarbeiter nicht ausreichend gebildet für die bisherigen Branchen), um wettbewerbsfähig zu sein, sind vielleicht andere Branchen besser geeignet für das jeweilige Land. Langfristig kann jedes Land durch Bildungsinvestitionen eine Steigerung des Lebensstandards erreichen, wie in den letzten Jahren zahlreiche Beispiele zeigten. China, Südkorea, Botswana, Costa Rica sind nur einige Beispiele für Länder, die mit einer schwierigen Situation starteten und einen vergleichsweise stabilen Aufschwung erreichten. Freihandel war eine wichtige Voraussetzung in entscheidenden Phasen in der Entwicklung dieser Länder.

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