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Gleichheit: Schicksalsfrei leben

Deutungsversuch unserer breiten egalitären Gegenwart. Ein Essay.

Gleichheit: Schicksalsfrei leben
Hans Ulrich Gumbrecht, photographiert von Susanne Schleyer / autorenarchiv.de

Identität der eigenen Gegenwart aus einer übergeordneten Perspektive zu kritisieren, gehört bis heute zu den Lieblingsrollen der Intellektuellen. Dabei ist sie längst überholt – selbst wenn es eine solche Identität gibt, so fehlt doch eine solche Perspektive. Die Intellektuellenaufgabe von heute kann deshalb nicht einfach in der Identifikation einer neuen Gegenwart liegen, sondern muss den Versuch einschliessen, auch die Verschiebung des eigenen Intellektuellenstatus (in Beziehung zu Gesellschaft und Staat) und seine Folgen für die Erfahrung der Gegenwart zu erfassen.

In der Zeit des historischen Weltbilds glaubten die Denker und ihre Zeitgenossen, Vergangenheit beständig hinter sich zu lassen, wobei sie zugleich unterstellten, dass mit wachsendem Abstand von der Vergangenheit der praktische Orientierungswert der in ihr bewahrten Erfahrung abnimmt. Auf der anderen Seite erlebten sie die Zukunft als einen offenen Horizont von Möglichkeiten. Zwischen dieser Zukunft und jener Vergangenheit erlebten sie die Gegenwart als einen «nicht mehr wahrnehmbar kurzen Moment des Überganges», wie der Dichter Charles Baudelaire um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schrieb. Eben in der Gegenwart wollte man auf der Grundlage von Vergangenheitserfahrungen unter jenen Möglichkeiten auswählen, die von der Zukunft angeboten werden – und sah darin Fähigkeit zum freien Handeln, die allein dem Menschen gegeben ist. Vorausgesetzt war dabei immer, dass es keine Phänomene gibt, die ihrer Veränderung in der Zeit widerstehen können. Darin lag die zentrale Bedeutung des Begriffs von der «Geschichte».

Im Rahmen dieses Weltbilds war die von Intellektuellen oft mit Leidenschaft aufgenommene Arbeit an einer Deutung ihrer Gegenwart meist Teil der Bemühung, unter der Oberfläche der Fakten und Strukturen «Gesetze» im Ablauf der historischen Veränderungen zu entdecken. Sie sollten es ihnen ermöglichen, die Zukunft vorwegzunehmen. Diese Überzeugung, die in ihr begründete Praxis und auch die Erwartung, dass die Zukunft prinzipiell ein besseres Leben als jenes der Vergangenheit oder Gegenwart verspreche, war die Klammer, welche alle marxistischen und linksprogressiven Weltbilder verband. Für die Intellektuellen war die Deutung der Gegenwart stets willkommener Anlass, um weitere Veränderungen als Verwirklichung der von der Geschichte versprochenen besseren Zukunft einzuklagen. Das gab ihnen einerseits die privilegierte Rolle von Propheten und machte andererseits den potentiellen Widerspruch im Bild von einer besseren Zukunft allzu deutlich, die einerseits versprochen war und andererseits doch noch herbeigeführt werden musste. Bis heute sind die meisten Intellektuellen immun geblieben gegen Erfahrungen von der Veränderung des historischen Weltbilds und ihrer eigenen Rolle, weil sie dieses Weltbild und ihre privilegierte Position als den einzig richtigen Weg zu gutem Leben sehen wollen.

Nachhallend mag diese Sicht der Dinge noch zu unserem Bildungsgepäck gehören, doch in dem seit der Implosion des Staatssozialismus vergangenen Vierteljahrhundert haben sich der Blick auf die Gegenwart und die Rolle der Intellektuellen in grundlegender – und doch nur schwer zu fassender – Weise gewandelt. Die Verstehensschwierigkeiten haben damit zu tun, dass nur sehr wenige Intellektuelle eine Sensibilität für die Veränderung ihrer eigenen Position entwickelt haben – und deshalb von ihrer Umwelt weiter am liebsten als «Kapitalismus» reden, so als ob die Alternative eines traditionellen Sozialismus immer noch existierte (schon vorsichtig freundlichere Namen wie «liberale Demokratie», «soziale Marktwirtschaft» oder «offene Gesellschaft» stehen unter dem Vorbehalt eines generellen Ideologieverdachts). Dabei leben die Intellektuellen heute – zumal was das Europa der EU angeht, aber mittlerweile auch in vielen südamerikanischen und asiatischen Nationen – in Gesellschaften, deren solide Mehrheiten zum ersten Mal in der uns bekannten Geschichte ihre (früher exzentrischen) «Werte» und «kritischen Vorbehalte» teilen. Diese veränderten Gesellschaften stehen für eine neue Norm des guten Lebens, die schnell zu einem globalen Modell geworden ist und von der Abstand zu nehmen heute nur wenigen Staaten gelingt, etwa Nordkorea oder Kuba.

Dass wir so – trotz der Trägheit der Begriffe und Diskurse – in einer tatsächlich gewandelten Umwelt leben, wird an einer Standardreaktion vieler Intellektueller auf jegliche Kritik an dieser neuen Wirklichkeit deutlich, die nicht explizit «konstruktiv» sein will. Sie erinnern dann sofort beschwichtigend an erst jüngst vollzogene Fortschritte, die trotz allem unleugbar seien (etwa in der sozialen Absicherung, in der Struktur des Arbeitsmarkts oder in besseren Bildungsstandards), und warnen mit unterschwelliger Empörung davor, diese aufs Spiel zu setzen – obwohl sie doch von jener Welt, die sie so verteidigen, weiter als «Kapitalismus» reden. Aber wie lässt sich unsere neue, wohl etablierte und hartnäckig verteidigte Wertenorm beschreiben, die noch gar kein explizites Programm hat?

Prinzipiell verbindet sich in ihr das erstaunlicherweise von historischer Veränderung ausgenommene Bild eines starken Staates, der individuelle Freiheit – also persönliche Gedanken und private Verhaltensweisen – weitestgehend zu schützen beansprucht (auch gegen seine eigenen potentiellen Interventionen), mit einem Glauben an die unbegrenzte Kraft der Wissenschaft und der Technologie als Motoren des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts. Was in dieser ersten Beschreibung wie eine Wiederannäherung an Ideale der Aufklärung wirken mag, ist freilich durch die interne Struktur der gegenwärtig vorherrschenden Erwartungen gegenüber dem Staat entscheidend modifiziert. Von diesem neuen starken Staat wird nicht nur der Schutz individueller Gedanken und privater Verhaltensweisen erwartet, sondern auch – und vor allem – eine allumfassende Versorgungsgarantie. Daraus folgt, dass es von der Selbstlimitierung des Staates mindestens eine zentrale Ausnahme geben muss – und das ist das staatliche Recht auf Intervention durch aggressive Besteuerung höherer Einkommen als Voraussetzung für drastische Strukturen wirtschaftlicher Umverteilung und für die absolute Versorgungsgarantie als ihr Ergebnis. Nun sind solche – mehrheitsfähigen – «Ausnahmen» von der offiziellen Selbstbeschränkung des Staates allerdings längst zur Regel geworden. Immer wieder erlaubt es sich der Staat, mit mehrheitsfähigen Verboten und schwerfälligen Empfehlungen in die Privatsphäre einzudringen, was die meisten (aber nicht alle) Bürger als gerechte und deshalb sanfte Durchsetzung einer von ihnen geteilten und also auch unterstützten Ethik begrüssen – während betroffene Minderheiten von heute dieselben Interventionen als unerträglich moralistische Restriktionen erleben (ein einschlägiges Beispiel sind die immer weiter und immer aggressiver marginalisierten Raucher).

Dieses spezifische Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft hat in den Nationen der Europäischen Union inzwischen zur fortschreitenden und wohl noch längst nicht an ihre Grenzen gelangten Expansion des sogenannten «Mittelstandes» geführt, dem sich mehr als drei Viertel der Bevölkerung zurechnen. Der unterstellte Mittelstand bestätigt die vorherrschende Konzeption von Staat und Gesellschaft (in der beschriebenen Struktur) immer weiter, wobei er «vor lauter Glück» sozusagen das Interesse an politischen Alternativen verloren zu haben scheint – und vor allem deshalb schnell zu einem Gegenstand globaler Bewunderung und Nachahmung geworden ist. Spezifisch erscheint die europäische Norm des Staats in unserer Gegenwart keinesfalls deshalb, weil sie von dominanten Positionen und Meinungen in der Gesellschaft abweicht, die sie repräsentieren soll, sondern weil es im Gegenteil der Staat kaum einmal wagt, nicht als Exekutive der Mehrheitsmeinung aufzutreten, die durch ständige Umfragen ermittelt wird. So entsteht eine paradoxale Situation, die bisher kaum begriffen ist: Einerseits werden ständige Klagen an die Adresse des Staates über soziale Phänomene von Ungerechtigkeit und Ungleichheit mit geradezu unheimlichem Erfolg ermutigt und auch erfüllt, und zwar von staatlicher Seite selbst, andererseits aber haben nur marginale Minderheiten überhaupt Interesse an einer grundlegenden Veränderung dieser Struktur, also einen echten Grund zur Klage. Oder zugespitzt formuliert: je weniger es de iure zu klagen gibt, desto mehr wird de facto geklagt. Das ist die Grundbefindlichkeit der Mehrheit der Bürger gemäss europäischer Staatsnorm.

Was in seinem Ursprung nach der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ein zur Sozialdemokratie reformierter Sozialismus war, ist in der beschriebenen Form längst zum Pflichtprogramm für alle Parteien geworden, die sich eine Chance auf Wiederwahl und also auf Teilhabe an der politischen Macht offenhalten wollen – und sollte deshalb eigentlich ganz parteienunabhängig «Sozialdemokratismus» genannt werden. Im Verhältnis zu ihm haben alle anderen Visionen der Gesellschaft, ob sie nun national, liberal, christdemokratisch, ökologisch oder kommunistisch gefärbt sind, mittlerweile so entscheidend an Faszination verloren, dass unsere Gegenwart postideologisch wirkt. Postideologisch und – wie global in ihrer Tendenz konvergierende Statistiken der Wahlbeteiligung zeigen – potentiell auch postpolitisch, solange nur alle an der Macht teilhabenden Parteien die Fortsetzung und Entwicklung des Sozialdemokratismus betreiben. Die Welt des Sozialdemokratismus ist eine tendenziell hermetische und statische Welt der Lebensverwaltungstechnik.

 

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 Erwartungen positiver Veränderungen für die Zukunft sind in dieser Gegenwart deutlicher – und auch plausibler – als je zuvor an die Entwicklung der Technik gebunden. So wie elektronische Technik eine neue Stufe in der Befreiung von körperlicher Arbeit eröffnet (es soll denkbar sein, dass mit einer Arbeitsbelastung von fünfunddreissig Prozent der Weltbevölkerung alle Menschen am Leben gehalten werden) und die Kommunikation vom Raum unabhängig gemacht hat, gibt nun das i-Phone selbst seinen nach traditionellen Kriterien ungebildeten Besitzern eine bis vor kurzem unvorstellbare Fülle des Wissens wörtlich in die Hand und zur persönlichen Verfügung. Damit wachsen die Unabhängigkeit, aber auch die Gestaltungsmöglichkeiten des individuellen Lebens ins potentiell Unendliche, ganz unabhängig davon, ob sie als Freiheitsgewinn oder als existentielle Überlastung erlebt werden.

Unter dem Vorzeichen des beschriebenen Zustandes haben sich auch die Regeln für «Kritik» und die Rolle der Intellektuellen grundlegend gewandelt. Zum ersten Mal konvergieren, wie gesagt, ihre Werte und Meinungen mit denen einer absoluten demographischen Mehrheit. Ihre Kritik gilt nun nur noch so lange als «ethisch» (oder «moralisch») wertvoll und willkommen, als sie mehr Gleichheit fordert, immer mehr Gleichheit in jeder denkbaren Hinsicht und Dimension. Je weiter sich zugleich der neue Mittelstand als eine Sphäre nie dagewesener Gleichheit ausbreitet, desto extremer wirken die Ausnahmen der sehr Reichen und der wirklich Armen – und wecken deshalb Initiativen zur zwangsweisen Inklusion (durch Höchstbesteuerung zum Beispiel oder durch Festlegung von Höchstgehältern) und zur grosszügigen Inklusion (durch Initiativen zur Einführung von Mindestgehältern etwa – was in der Schweiz allerdings vor kurzem plebiszitär scheiterte).

Unter diesen Voraussetzungen gilt schon der blosse Verweis auf den Zusammenhang zwischen mehr Freiheit und finanzieller Ungleichheit (als individuellen Motivationsressourcen) mit dem technologischen Fortschritt, an den doch alle als Voraussetzung für mehr Gleichheit glauben, als moralisch verdächtig. Eher hofft man auf den «Idealfall» von herausragenden Leistungen mit bescheidener finanzieller Belohnung und kaum wahrnehmbarem Distinktionsgewinn. Wer – mit dem britischen Politologen Kenneth Minogue – davon ausgeht, dass Gesellschaften grundsätzlich Spannungen zwischen Tendenzen nach mehr Gleichheit und Tendenzen nach mehr Freiheit ausbilden und dann miteinander vermitteln müssen, der weiss, dass Freiheit innerhalb der heute vorherrschenden ethischen Prämissen allein als Voraussetzung für Gleichheitszuwachs zu rechtfertigen ist. Freiheitsforderungen hingegen, welche typische Freiheitsfolgen wie Wettbewerb, Ungleichheit und Elitebildung nicht in Abrede stellen, sondern aus vielen, auch ästhetischen Gründen in den Vordergrund rücken, etwa als intensivere oder interessantere Formen der Existenz, wecken breiten Protest und aggressive Gesten moralischer Verurteilung. Gerade deshalb aber sind sie zur einzigen Form intellektueller Kritik geworden, welche diesen Namen verdient.

 

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Was ist schiefgegangen bei der Verbreitung und Verbreiterung der sozialen Gleichheitsrealität? Ist es nicht die Erfüllung eines Traums und auch eines Versprechens der Aufklärung, wenn ihre früher allein von den Intellektuellen verkörperten Werte und Meinungen nun endlich auch zu Werten und Meinungen einer breiten Mehrheit geworden sind? Vor allem und noch einmal: was wir heute als neue Gegenwart sehen können, scheint das Ergebnis einer Entwicklung von nur wenigen Jahrzehnten zu sein, das Ergebnis der postideologischen Jahrzehnte am Ende des Millenniums, das in einer ersten Wahrnehmung der Aufklärung ähnlicher sieht als dem späten neunzehnten und dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Dabei gibt es keine übergeordnete und eifrig angeeignete Vorstellung von einer vollkommen gerechten Gesellschaft mehr, die zu verwirklichen uns aufgegeben wäre. Es gibt nur eine gewissenhaft am Leben gehaltene Dynamik zur Etablierung von immer neuen mehrheitsgetragenen Verhaltensvorschriften und Schritten der Inklusion. Bunter ist das gegenwärtige Bild vom Anderssein der Zukunft wohl kaum.

Viele der dabei vom Staat auf den Weg gebrachten und unterstützten Veränderungen rechtfertigen Inklusion als Schutz vor prekären Formen des Lebens, das heisst als einen Grundsatz, dem man sich schrittweise – eben durch fortschreitende Aufhebung bestehender Exklusionen – nähert. Diese Tendenz setzte während des achtzehnten Jahrhunderts mit sichtbarer Euphorie über die damals ganz neue Bereitschaft ein, Menschen von grundlegend anderer physischer Konstitution (Menschen anderer «Rassen») in die eigene Gesellschaft aufzunehmen; zugleich sollten sich physische Schwäche und Unterlegenheit nicht mehr individuell nachteilig auswirken dürfen; und auch für den Ausschluss komplexer Syndrome von Geschlechterungleichheit kam ein entscheidender Energieschub aus der Bewegung der Aufklärung.

Heute treten der Staat und die gesellschaftliche Mehrheit, an die er gebunden ist, bei der Fortsetzung dieser Inklusionsbewegung weniger handelnd und die Welt verändernd in Erscheinung als vielmehr in der Form jener weiteren, komplexeren und möglichst vollkommenen Zuwendung gegenüber den anderen als Schutzbedürftigen, auf die wir uns mit dem Begriff der Sorge beziehen. Jenes (vor allem europäische) Modell des Staates, das derzeit im Licht weltweiter Bewunderung steht, will nicht mehr hehre Programme der Veränderung mit heroischen Gesten kollektiven Handelns verwirklichen, sondern durch Zuwendung und immer neue Inklusion alles Bestehende bewahren und beschützen. Der Begriff der «Sorge», mit dem Martin Heidegger 1927 in seinem epochemachenden Buch «Sein und Zeit» den Handlungsbegiff ersetzte, fand auch bald besondere Resonanz in der feministischen Philosophie, weil Zuwendung und Bewahrung primär als weibliche, ja als mütterliche Haltungen und Tugenden aufgefasst werden.

Der sanft intervenierende Staat, wie er heute erlebt werden kann, ist also eher ein Staat der mütterlichen als der paternalistischen Moralgestik, ein Staat der gutgemeinten Warnungen, der Vorsorgeuntersuchungen und Trennmüllvorschriften, der in so-ziale Hilfswerke umfunktionierten Militärinstitutionen – was ihn selbst mit einem positiven Vorzeichen der Inklusion versieht und deshalb im Vergleich zu früheren Formen von Staatlichkeit immer weiter aus der Reichweite möglicher Kritik rückt. Doch auf seinem unaufhaltsamen Inklusionsweg muss der Staat der Sorge eine Grenze überschritten haben, wo permanente Inklusion – für manche Zeitgenossen wenigstens – in ein Gefühl von Begrenzung, Repression und Existenzdomestizierung umgeschlagen ist. Typisch mag in diesem Zusammenhang jene Bewegung gewesen sein, die im Englischen mit dem Begriff «Sexual Harassment» verbunden wird (sexuelle Belästigung). Als Inklusionsschritt sollte sie Gleichheit bei der Herbeiführung erotischer Beziehungen für all jene herstellen, die innerhalb einer Machthierarchie (etwa am Arbeitsplatz) eine unterlegene Position einnehmen. Das vage Kriterium einer durch Inklusion der Nichtmächtigen zu neutralisierenden Machtüberlegenheit wurde dann aber ausgedehnt auf das Gefälle erotischer Attraktivität insgesamt, anders gesagt: erotische Attraktivität wurde prinzipiell machtverdächtig, was heute tendenziell zum Ausschluss der Erotik aus jeder Form von Arbeitsbeziehung (und idealerweise jeder Art sozialer Beziehung) geführt hat – und in ästhetischer Hinsicht natürlich als Verlust zu Buch schlägt.

Es ist wohl unmittelbar plausibel, dass unter einer Staatlichkeit der Sorge und in Gesellschaften, welche dieser Logik permanenter Inklusion folgen, der Begriff der «Diskriminierung» eine steile Karriere hin zu potenzieller Allgegenwart durchlaufen musste. Denn Beobachtungen und Gefühle der Diskriminierung – des Zurückgesetztwerdens – führen zu jenen Ereignissen, welche spezifische Schritte der Inklusion erst auslösen. Innerhalb der radikalen Gleichheitslogik folgte etwa aus der Inklusion von Bürgern jenseits gewisser Altersgrenzen in den Arbeitsprozess eine absolute Exklusion des Alters als Qualifikationskriterium. Davon muss wohl eine Dynamik ausgegangen sein, die mittlerweile zu der an die Medizin weitergegebenen Forderung geworden ist, Sterblichkeit als unvermeidliche Bedingung aus dem menschlichen Leben zu eliminieren – eine Forderung, deren langfristige Finanzierung freilich auch bei maximaler Toleranz gegen ungleiche Steuerbelastungen kaum vorstellbar ist. Und muss nicht die Aufhebung des Ausschlusses von Tieren und Dingen aus der Dimension des Menschlichen, das heisst die Inklusion in jene Dimension, wo man den Schutz von eigenen Rechten und Freiheiten durch den Mutterstaat beanspruchen kann, als eine weitere – exzessive – Entwicklung innerhalb derselben Gleichheitslogik gelten?

 

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In unseren Illustrationen der sozialen Gegenwart kommt der Fluchtpunkt all dieser Bewegungen in der Sorgelogik der Inklusion immer deutlicher in den Blick. Er liegt in einer Existenz ohne Schicksal, das heisst in einer Existenz, welche jegliche Ungleichheit ausschliessen soll, die Individuen zustossen kann, ohne von ihnen gewählt worden zu sein – einschliesslich ihrer besonderen ökologischen Lebensvoraussetzungen aufgrund des Ortes ihrer Geburt und der sich dort vollziehenden Naturereignisse. Eine Extremposition in dieser Hinsicht illustriert übrigens die Meinung Immanuel Kants, dass Neugeborene deshalb einen – kleinen (und in Wirklichkeit durch den Beginn der Atmung ausgelösten) – «Schrei» ausstossen, weil sie gegen das Schicksal protestieren, auf die Welt gekommen zu sein, ohne diesem Ereignis ihre Zustimmung gegeben zu haben.

Dass die volle Eliminierung des Schicksals in keiner menschlichen Wirklichkeit je erreicht werden kann, bedarf kaum einer ausführlichen Begründung – einmal ganz abgesehen davon, dass sie im Fall ihrer möglichen Verwirklichung (ebenso wie Unsterblichkeit) nicht annähernd finanzierbar wäre. Doch in der Position eines Fluchtpunkts angewandter Moral hat die Eliminierung des Schicksals ihre spezifische Wirksamkeit gefunden – und übt so einen spezifischen moralischen Druck aus (Raymond Aron hat den komplementären Glauben an die absolute politische und soziale Machbarkeit des Wirklichen einmal den «prometheischen Stolz der modernen Gesellschaft» genannt). Es handelt sich um eine Moral des Alltags, die absoluten Inklusions- und Gleichheitsforderungen nahekommt, indem sie tendenziell Körperlichkeit (und ihre möglichen Konsequenzen wie Krankheit oder Handicap, aber auch angeborene Intelligenz) und sogar mit ihr verbundene, je besondere Umweltbedingungen als Quellen des Schicksals auszuschliessen sucht. Jeder Schritt der Annäherung an diese Moral ist mit hohen finanziellen Investitionen verbunden, so dass die Dynamik solcher Gleichheitsherstellung eigentlich – einmal mehr – eine Gegendynamik von Freiheit, Wettbewerb (und mithin wirtschaftlicher Ungleichheit) als Motivationsressourcen auslösen sollte. Aber diese Gegendynamik kommt heute nur noch in Ansätzen auf, die sogleich zum Schweigen gebracht werden. Denn selbst das moralische und intellektuelle Recht, die Norm der absoluten Gleichheit und der Schicksalsexklusion als allgemeinverbindlichen Horizont abzulehnen oder auch nur im Ernst zu diskutieren, ist mittlerweile in Frage gestellt. Anders gesagt: nicht bedingungslos auf Gleichheit mit all ihren Konsequenzen zu setzen, wird wohl bald schon zu einem Akt des Selbstausschlusses aus der Gemeinschaft gutwilliger Menschen geworden sein.

 

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Mit der Tendenz zum Ausschluss von Schicksal und Körperlichkeit durch den mütterlichen Sorgestaat (als Voraussetzung und Produkt unbegrenzter Inklusion und Gleichheit) wird eine Bewegung der frühen Neuzeit zu ihrem kaum mehr überbietbaren Höhepunkt gesteigert, für die René Descartes im «Cogito ergo sum», also in der Gleichsetzung menschlicher Existenz mit dem Bewusstsein, die kompakteste Formel geprägt hatte. Doch je konsequenter der moralische Fluchtpunkt unserer Zeit den Körper als Ursprung des Schicksals auszuschliessen sucht, desto deutlicher artikuliert er sich unter veränderten Formen in verschiedenen Dimensionen der menschlichen Existenz. Einerseits lenkt die Schicksalsphobie, also die Weigerung, das uns Zustossende zu akzeptieren, den Zukunftsblick auf Bedrohungen für die physischen Grundlagen unseres Überlebens (auf globale Erwärmung, auf die Erschöpfung der Rohstoffe, auf die demographische Entwicklung), die sich unvermeidlich hin auf die Gegenwart zu bewegen scheinen und so ein ökologisch korrektes Verhalten zur kollektiven Verpflichtung machen, aus Sorge um unsere Körper. Unter dem Eindruck solcher Visionen hat sich die alte Zukunft der historischen Zeit (als ein für Selektion offener Horizont von Möglichkeiten) längst zu einem Szenarium des Schreckens geschlossen, das wir bestenfalls auf Distanz halten können.

Dem bedrohten Körper steht anderseits ein verheissungsvoller Körper gegenüber: der Körper als Labor neuer existentieller Möglichkeiten. Während früher das Geschlecht, in das ein Mensch geboren war, als irreversibler Ausgangspunkt individuellen Schicksals galt und hinzunehmen war, gehört heute zumindest die Hoffnung auf physischen Geschlechtswandel zu einem für alle Zeitgenossen offenen Horizont. Zugleich ist, was über kulturelle Jahrtausende als Emblem der den Menschen gesetzten Grenze zum Unmöglichen galt, nämlich die Unsterblichkeit des Körpers, zu einem vorerst noch utopischen, aber nicht mehr prinzipiell irrealen Orientierungspunkt medizinischer Forschung geworden. In ihrer Konvergenz müssen das zur «blossen Möglichkeit herabgestufte» Notwendige und das «zur Möglichkeit erhobene» Unmögliche (also eine Situation, in der absolut alles machbar scheint) als Gewinn an menschlicher Freiheit gebucht und geschätzt werden. Zugleich aber führt die sich in solchen Transformationen vollziehende Steigerung des Alltags in ein Universum des Allmöglichen mit der Gewissheit permanenter existentieller Überlastung. Weil diese zu kollektivem Erleben werdende Überlastung ein oft exzessives, geradezu verzweifeltes Bedürfnis nach Vorgaben und Orientierungen weckt, könnte sie die Grundlage für die Emergenz einer neuen Form von kollektivem Ereignis erklären, die man – stellenweise zumindest – als Artikulation politischen Protests missverstanden hat.

Ich meine die immer deutlicher werdenden Formen von kollektiven Körpern massiven Ausmasses, in denen sonst oft orientierungslose Individuen – vorübergehend – Teil eines «grösseren Ganzen» ohne individuelle Verantwortung werden können, ohne individuellen Entscheidungsdruck und ohne permanente Verpflichtung zum Urteilen. Solche kollektiven Körper haben nichts zu tun mit dem sozialdemokratistischen Ideal einer Gesellschaft der absoluten Inklusion und der absoluten Gleichheit von Individuen. Vielmehr werden Messfeiern unter offenem Himmel beim Anlass von Papstreisen oder auch bei Kirchentagen heute von Hunderttausenden besucht, und wir wissen, dass viele von ihnen die Funktion und den theologischen Sinn solcher Ereignisse nur vage verstehen. Analoges gilt für die noch umfangreicheren kollektiven Körper, die mittlerweile regelmässig anlässlich von Sportereignissen beim «Public Viewing» entstehen. Alle Versuche dürften deshalb gescheitert sein, einen jeweils spezifischen «politischen Willen» in den Massenbewegungen des «arabischen Frühlings», der Jugendmanifestationen von 2013 in Brasilien und der Maidan-Versammlungen vom vergangenen Jahr in Kiew zu identifizieren, weil sie eben aus einem viel elementareren Bedürfnis nach Affirmation, nach positivem Erleben der physischen Seite unserer Existenz entstanden waren. Die Standardverurteilung solcher kollektiven Körper als einer potentiell faschistischen Bedrohung greift jedenfalls zu kurz, denn im Gegensatz zu den Massenchoreographien des Faschismus sind sie ja gerade nicht an einer dominanten Ideologie ausgerichtet. Eher sehe ich in ihnen eine Energie, die – ganz ohne Programm oder Leitideen – nach Unmittelbarkeit des Erlebens und nach Konkretheit des Lebens strebt.

 

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Auf der Seite abstrakter Prinzipien der Gegenwart hilft die absolut gesetzte Logik der Gleichheit schliesslich zu verstehen, warum uns die Kultur dieser Gegenwart – ihre Alltagskultur zumindest – eine immer intensiver werdende Sehnsucht nach grossen Protagonisten nicht mehr erfüllt, eine Sehnsucht, die vielleicht mit dem Wunsch zusammenfällt, Teil eines kollektiven Körpers zu sein. Die erstaunliche Geschichte der nationalen und internationalen Popularitätsschwankungen von Barack Obama drängt sich hier als eine Illustration auf. Sie erreichte ihren Zenit im Moment seiner ersten Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten und ist seither – nicht nur von seinen politischen Gegnern – in zahllosen Varianten wie eine ideologische Verschwörung ohne Verschwörer kritisiert worden. Verletzt die Gestalt eines charismatischen Präsidenten mit Elitebildung nicht die heutigen Standards von radikaler Gleichheit?

Die vor allem in Europa vielstimmige Polemik gegen Spitzengehälter und grosse Vermögen scheint demselben Impuls zu folgen. Noch nie war einerseits die Faszination von detaillierten Ranglisten der reichsten Zeitgenossen so sichtbar wie heute, doch sie wird andererseits begleitet von einer moralisch gestimmten Klage über den wachsenden Unterschied zwischen Höchsteinkommen und Durchschnittsgehältern, der den Sorgestaaten die moralische Verpflichtung zu einer – jurististisch oder wirtschaftlich eigentlich kaum zu begründenden – Umverteilungsintervention auferlegt. So ersetzt eine grau-globale Managerkaste (mit eher moderaten Gehältern) den Typ des herausragenden Unternehmers, und wo sich Ausnahmetalente zeigen, werden sie – wie Mark Zuckerberg – bald unter den Generalverdacht mangelnder Moral und gemeinschaftsschädigender Gier gesetzt.

Eine strukturell ähnliche Entwicklung zeichnet sich in der Literatur und in den Künsten ab. Bis über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinaus konnten Spezialisten darüber klagen, dass die wahrhaft grossen Autoren ihrer Gegenwart – wie James Joyce, Marcel Proust oder Robert Musil – gerade nicht mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurden. Heute beschränkt sich der – eigentlich längst resignierte – Spezialistenehrgeiz darauf, politisch korrekte Regelmässigkeiten im Entscheidungsturnus der Schwedischen Akademie zu entdecken. Und die wenigen global sichtbaren Künstler, die wir unserer Gegenwart zurechnen, befinden sich in so fortgeschrittenem Alter wie Gerhard Richter – oder sind vor kurzem verstorben wie Cy Twombly. Dramatische, die Normen des Geschmacks verändernde Innovationen in den Künsten und in der Literatur sind jedenfalls seit Jahrzehnten ausgeblieben, so als habe die Logik der Gleichheit alle Kraft zur Veränderung gebrochen. Die eine bunt strahlende Ausnahme scheinen die Sportstars der Gegenwart zu verkörpern, von Roger Federer bis Cristiano Ronaldo – doch auch sie stehen ja unter generellem Immoralismusverdacht (und gehören auf der anderen Seite mit ihrem Publikum zur Welt der kollektiven Körper, einer Welt, die sich dem Gleichheitspostulat nicht fügt).

 

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Wer könnte sich das politische Recht oder das ethische Prestige anmassen, ungestraft über diese unsere eliten- und schicksalsphobische Gegenwart zu klagen? Eine solche Grundlage fehlt schon deshalb, weil die Sorgestaaten, die vor allem in der Europäischen Union – aber mittlerweile auch in Südamerika – zahlreiche Gesellschaften regieren, wohl enger an den Werten und Wünschen solider Mehrheiten orientiert sind, als dies je zuvor der Fall war. Ihre Moral, so lässt sich abkürzend, aber doch plausibel behaupten, ist tatsächlich die in jenen Gesellschaften vorherrschende Moral – sogar unter solchen Bürgern und Wählern, die sich selbst zu Recht einer Elite zurechnen könnten. Denn für sie ist der freiwillige Verzicht auf Privilegien zu einem moralisch hochgeschätzten Distinktionsmerkmal geworden. Diese in der Geschichte der Demokratien wohl singuläre Situation zu verändern, ja nur aktiv aufs Spiel setzen zu wollen, wäre – ganz einfach – aussichtslos.

Kritik entspringt unter solchen Voraussetzungen vor allem den Impulsen individuellen Temperaments – und kann sich allenfalls auch als Rückkehr zur klassischen sozialen Funktion der Intellektuellen legitimieren. Als Kritik an verbleibenden Phänomenen der Ungleichheit und der Exklusion konvergiert sie ohnehin schon immer mit mehrheitsfähigen Tendenzen und mit den unter dem Vorzeichen der Sorge handelnden Regierungen. Zu Recht ist wohl inzwischen der noch vor wenigen Jahrzehnten allgegenwärtige Verdacht geschwunden, dass Staaten insgeheim und prinzipiell den Interessen mächtiger Minderheiten dienen. Wer jedoch – gegen den Ist-Stand und aus letztlich ästhetischen Gründen – an der Vorstellung eines Alltags und an einer Existenzform hängt, die sich den Risiken des Wettbewerbs, der Ungleichheit und sogar des Schicksals entschlossen aussetzt, der trägt immerhin zur Erhaltung einer Aussenperspektive auf die dominante Logik der Gleichheit und des Mutterstaats bei. Darin eben läge, zumindest strukturell gesehen, ein Anschluss an die heute weitgehend verlorene – oder doch wenigstens weitgehend nivellierte – Intellektuellenfunktion des komplexitätssteigernden und mithin riskanten Denkens.

Schwer zu erklären ist, warum sich im globalen Kontext der breiten Gegenwart – gegen die historisch gewachsene Einheit der «westlichen» Tradition – gerade die Gesellschaft der Vereinigten Staaten zu einer exzentrischen Form und Situation entwickelt hat. Dass es zum Beispiel ein nach Millionen zählendes Segment von amerikanischen Bürgern gibt, für die das Interesse an eigener finanzieller und medizinischer Sicherheit weniger schwerwiegend ist als der Vorbehalt gegenüber jeglicher – von Sorge getragener – Intervention des Staates in ihre Privatsphäre, wurde angesichts der nationalen Debatten um die «Obama-Care» deutlich. Nicht allein in Europa stösst diese Position der Versorgungsablehnung heute auf ein breites und kaum durch Argumente zu überwindendes Unverstehen.

An diesen Sachverhalt erinnert mich seit einigen Jahren immer wieder jener Vers aus der amerikanischen Nationalhymne, der die Vereinigten Staaten als «the land of the free and the home of the brave» feiert. Natürlich habe ich immer wieder für die sorgende Sozialpolitik des Präsidenten Obama gestimmt. Doch zugleich bin ich froh, in einer Gesellschaft zu leben, wo alternative Auffassungen vom guten Leben nicht nur denkbar, sondern sogar wählbar geblieben sind, Auffassungen der menschlichen Existenz, zu denen neben der «Freiheit» vom Versorgtsein auch die «Tapferkeit», der Mut und eben das Temperament gehören, sich dem Schicksal zu stellen.

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