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Gleichberechtigung  beginnt im Kopf
Silvana Koch-Mehrin, zvg.

Gleichberechtigung
beginnt im Kopf

Der «Reykjavík Index for Leadership» untersucht, wie stark Frauen und Männer in verschiedenen Ländern als gleichermassen geeignet wahrgenommen werden, Führungspositionen zu besetzen. In Island, Spanien und Grossbritannien wird Frauen viel zugetraut.

 

«Kultur macht nicht Menschen. Menschen machen Kultur. Wenn es wahr ist, dass die volle Menschlichkeit der Frauen nicht unsere Kultur ist, dann können und müssen wir sie zu unserer Kultur machen.»
Chimamanda Ngozi Adichie, «Wir sollten alle Feministinnen sein»

 

Ich finde diese Worte wahrer denn je, vor allem, wenn ich mir Island anschaue. Generationen von Kindern wachsen in einem Land auf, in dem es «normal» ist, ein weibliches Staatsoberhaupt zu haben, in dem das Geschlecht kein Gedanke ist, der einem durch den Kopf geht, wenn man darüber nachdenkt, wer für diese Rolle geeignet ist. Es ist keine Überraschung, dass Island gegenwärtig das Land mit der höchsten Gleichstellung der Geschlechter weltweit ist. Im Laufe der Jahre haben hier systemische Veränderungen – wie die allgemeine Kinderbetreuung und gemeinsame Elternzeit – dafür gesorgt, dass ökonomische Perspektiven nicht davon geprägt werden, ob man ein Mann oder eine Frau ist.

Um eine gerechte Gesellschaft zu schaffen, müssen die Werte, Überzeugungen, Verhaltensweisen und Wahrnehmungen sowie die Faktoren verstanden werden, die für den Widerstand gegen Veränderung verantwortlich sind. Soziale Normen und alltägliche Glaubenssysteme, die in einer Kultur und Gesellschaft verwurzelt sind, müssen dokumentiert und dann hinterfragt werden. Es ist wichtig, den Wandel im Laufe der Zeit zu messen und von den Führungsspitzen und der Bevölkerung Verantwortung einzufordern. Dies macht Daten und Evidenz zu einem sehr wichtigen Instrument für die Gestaltung öffentlicher Politik und zum Vorantreiben positiven Fortschritts – gerade im Bereich der Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Das Netzwerk Women Political Leaders hat deshalb in Zusammenarbeit mit dem Marktforschungsunternehmen Kantar Public den Reykjavík Index for Leadership1 entwickelt. Der Reykjavík Index for Leadership ist die weltweit erste Studie, die untersucht, ob Frauen und Männer von der Gesellschaft als gleichermassen geeignet wahrgenommen werden, Führungspositionen zu besetzen. Der Index wurde 2018 in Island auf dem «Reykjavík Global Forum – Women Leaders» ins Leben gerufen. Ursprünglich konzentrierte er sich auf die G7-Länder und umfasst im Jahr 2021 insgesamt 22 Länder – die Staaten der G20 sowie Island, Spanien und Polen. Die Schweiz wurde nicht untersucht. Wie ist nun die Gesellschaft in diesen Ländern gegenüber Frauen in Führungspositionen eingestellt?

Starke Stereotypen

Die Ergebnisse basieren auf den Antworten von mehr als 35 000 Befragten und offenbaren, dass es den fortschrittlichsten ­Wirtschaftsnationen der Welt nach wie vor nicht gelingt, ihre gesellschaftlich tief verankerten Geschlechterstereotypen zu überwinden.

Die diesjährige Studie hat ergeben, dass die Entwicklung gesellschaftlicher Ansichten in bezug auf die Gleichstellung von Frauen und Männern in Führungspositionen stagniert. Die Ergebnisse des Index legen dar, dass der Reykjavík-Index für die Gruppe der G7-Länder mit Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Italien, Japan, Kanada und den USA nun bereits im dritten Jahr in Folge bei 73 verharrt. Im Vergleich dazu ist der erste Reykjavík-Index für die G20 mit 68 niedriger, wobei die Werte der einzelnen Länder zwischen 47 und 82 liegen.

Relativ hohe Indexwerte erreichen drei lateinamerikanische Länder: Argentinien mit 78, Mexiko mit 73 und Brasilien mit 72 Punkten. Diese Länder haben demnach fortschrittlichere Ansichten als Länder wie Italien, Japan und Deutschland hinsichtlich der gleichen Eignung von Frauen und Männern in Führungspositionen. Das Ideal von Women Political Leaders wäre es, in jedem Land einen Indexwert von 100 zu erreichen. Das würde bedeuten, dass in der Gesellschaft absoluter Konsens darüber herrscht, dass Frauen und Männer gleichermassen für Führungspositionen über alle Berufsfelder hinweg geeignet sind.

«Die Entwicklung gesellschaftlicher

Ansichten in bezug auf die Gleichstellung

von Frauen und Männern in

Führungspositionen stagniert.»

Island sticht im Vergleich zu allen anderen bisher untersuchten Ländern als besonders progressives Land hervor. Mit einem Indexwert von 92 ist Island an der Spitze der Rangliste und liegt damit 10 Punkte vor den im Ranking gemeinsam zweitplatzierten Ländern, Spanien und dem Vereinigten Königreich, die beide einen Wert von 82 haben.

Besorgnis über junge Deutsche

Umgekehrt liegt Deutschland mit einem Indexwert von 66 zum zweiten Mal in Folge auf dem letzten Platz der G7 und auf Platz 15 der total 22 erfassten Länder. Ein genauerer Blick auf Deutschland offenbart einige beunruhigende Fakten. Junge Menschen in Deutschland sind wesentlich weniger offen für Geschlechtervielfalt in Führungspositionen als ältere Generationen. Der Indexwert für die Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen liegt bei 60, gegenüber 72 für die Altersgruppe der 55- bis 60-Jährigen. Der Indexwert für junge Männer ist mit 55 gar alarmierend niedrig.

Der Index ist so konzipiert, dass er Fragen stellt, die Vorurteile ans Licht bringen, von denen die Menschen vielleicht nicht einmal wissen, dass sie sie haben. Eine dieser wichtigen Fragen lautet: «Können Sie sich eine Frau als Regierungschefin oder als Vorstandsvorsitzende eines grossen Unternehmens vorstellen?» 18,7 Prozent der befragten Deutschen sagen, dass sie sich mit einer Frau als Regierungschefin nicht wohl fühlten. 13 Prozent geben dasselbe für eine Frau als Vorstandsvorsitzende eines grossen Unternehmens an.

Auch Frauen haben Vorurteile

In allen 22 Ländern belegt der Index, dass sowohl Frauen als auch Männer an Vorurteilen über Geschlecht und Führungspositionen beteiligt sind, wenn auch nicht in gleichem Masse. Im Durchschnitt klafft eine Lücke von 7 Punkten zwischen den Werten von Frauen (71 im Schnitt) und Männern (64) in der G20. Das bedeutet, dass Frauen häufiger als Männer der Meinung sind, dass Männer und Frauen gleichermassen für Führungspositionen geeignet seien.

Indonesien, Südkorea, Saudi-Arabien und Australien sind die Länder mit der grössten Diskrepanz zwischen den Ansichten von Frauen und Männern. In diesen Ländern beträgt die Differenz mehr als 10 Punkte. Zu den Ländern, in denen die gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber Männern und Frauen als geeignete Führungspersonen eng beieinander liegen, gehören dagegen Brasilien, Spanien und Südafrika (mit einem Abstand von null bis zwei Punkten).

Jüngere Menschen wenig progressiv

In allen G7-Ländern hat die jüngste Altersgruppe, die 18- bis 34-Jährigen, einen niedrigeren Indexwert – im Schnitt 69, was einen Rückgang um drei Punkte im Vergleich zu 2020 bedeutet – als die älteren Generationen, deren Indexwerte bei den 35- bis 54-Jährigen 74 und bei den 55- bis 65-Jährigen 77 erreichen. Dies deutet auf eine potentielle «Retraditionalisierung» sowohl bei jungen Frauen als auch bei jungen Männern in der G7 hin. Während die Welt unter der Covid-19-Pandemie gelitten hat, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen für Frauen weitaus grösser gewesen als für Männer, und in vielen Fällen haben Frauen auch mit einer sogenannten «Schattenpandemie» kämpfen müssen, da die Gewalt an Frauen und Mädchen während der Coronakrise und der Zeit des Lockdowns vielerorts zugenommen hat. Wenn sich die jüngere Generation auf sexistische Einstellungen zurückbesinnt, verheisst das nichts Positives für die Förderung von Frauen oder für eine Zukunft, in der es keine Rolle spielt, ob man ein Mann oder eine Frau ist, wenn es um die Fähigkeit einer Person geht, eine Führungsrolle einzunehmen. Diese Kluft zwischen den Generationen innerhalb der G7-Länder ist in Japan und Deutschland besonders ausgeprägt, mit einem Unterschied zwischen den jüngeren und älteren Altersgruppen von mehr als 10 Punkten. Mit einem Indexwert von nur 55 gehören junge deutsche Männer zu den Gruppen mit den grössten Geschlechtsvorurteilen, neben jungen Männern in Indonesien, China, Polen, Russland und Saudi-Arabien. Im Vergleich dazu ist in Island ein entgegengesetzter Trend zu beobachten, wo jüngere Menschen progressivere Ansichten vertreten als ihre Eltern – mit Indexwerten von 97 für junge Frauen und 93 für junge Männer.

Erfreuliche Signale

Kamala Harris wurde im Januar 2021 als erste Frau Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten. Ein Moment, der in die Geschichte einging. Sie sagte: «Ich mag die erste sein, aber ich werde nicht die letzte sein.» Diese Worte gaben jedem Mädchen und jeder Frau auf der Welt, die davon träumt, eine Führungsrolle einzunehmen, Hoffnung. Wenige Monate später, im März 2021, wurde Ngozi Okonjo-Iweala die erste Frau und die erste Afrikanerin im Amt der Generaldirektorin der Welthandelsorganisation. Im Oktober 2021 wurde Dame Sandra Mason zur ersten gewählten Präsidentin von Barbados. Dies sind die Geschichten, die zu Recht als Beispiele angeführt werden, wenn man über den positiven Wandel und die Gleichstellung von Frauen und Männern spricht. Sie inspirieren Frauen und Mädchen auf der ganzen Welt, sich eine Führungsrolle vorzustellen und allen Widrigkeiten zu trotzen, um ihre Vorstellungen Realität werden zu lassen. Allerdings sind diese Geschichten auch heute noch die Ausnahmen und nicht die Regel. Der Reykjavík-Index stellt nach wie vor eine verzerrte Wahrnehmung fest. Er zeigt weiterhin Sexismus gegenüber Frauen in Führungspositionen in allen Berufsfeldern. Es besteht dringender Handlungsbedarf, um diesen Trend umzukehren. Es ist heute wichtiger denn je, eine Kultur zu schaffen, die Stereotypen hinter sich lässt.

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Gabriela Manser & Sabina Schumacher Heinzer, fotografiert von Daniel Jung
«Wir müssen Vorbilder sein für die jungen Frauen»

Zwei Chefinnen von Schweizer Familienunternehmen geben Auskunft über Frauenkarrieren im Jahr 2021. Dabei geht es um Ausbildungswege, militärische Ausdrucksweisen und weibliche Führungsqualitäten.

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