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Glaube nichts, überprüfe alles

In Zeiten des Erstarkens autoritärer Führer wird verlässliche Information wieder wertvoll. Ein Plädoyer für echten Journalismus.

Glaube nichts, überprüfe alles
Timothy Snyder, fotografiert von Andrea Artz / laif.

Frage nach und überprüfe. Ergründe Dinge selbst. Verbringe mehr Zeit mit langen Artikeln. Unterstütze den investigativen Journalismus, indem du Printmedien abonnierst. Denk dran, dass einige der Dinge, die sich im Internet finden, dir schaden wollen. Erkundige dich nach Webseiten, die Propagandakampagnen kritisch unter die Lupe nehmen (von denen einige im Ausland sitzen). Übernimm Verantwortung für das, was du mit anderen kommunizierst.

Was ist Wahrheit? Mitunter stellen Menschen diese Frage, weil sie nichts tun wollen. Der allgemeine Zynismus vermittelt uns das Gefühl, hip und alternativ zu sein, selbst wenn wir in einen Morast der Gleichgültigkeit hineinschlittern. Es ist deine Fähigkeit, Fakten zu unterscheiden, die dich zu einem Individuum macht, und es ist das kollektive Vertrauen in das gemeinsame Wissen, das uns zu einer Gesellschaft macht. Das Individuum, das nachfragt, ist auch der Bürger, der sich konstruktiv am Aufbau des Gemeinwesens beteiligt. Der Führer, der die Fragenden nicht mag, ist ein potentieller Tyrann.

«Für uns ist es selbstverständlich, dass wir für einen Klempner oder Mechaniker bezahlen, aber unsere Nachrichten wollen wir umsonst haben.»

Während seines Wahlkampfs behauptete der amerikanische Präsident auf einem russischen Propagandasender, die amerikanischen Medien seien «unglaublich verlogen». Er schloss zahlreiche Berichterstatter von seinen Wahlkampfveranstaltungen aus und schürte bei seinen Zuhörern regelmässig den Hass auf Journalisten. Wie die Führer autoritärer Regime versprach er, die Meinungsfreiheit durch Gesetze einzuschränken, die Kritik verhindern sollen. Ähnlich wie Hitler benutzte er das Wort Lügen, um damit Tatsachenbehauptungen zu bezeichnen, die ihm nicht gefielen, und stellte den Journalismus als Kampagne gegen ihn persönlich dar. Freundlicher ging der Präsident mit dem Internet um, seiner Quelle für irreführende Informationen, die er an Millionen von Menschen übermittelte.

Als sich Hannah Arendt 1971 mit den Lügen beschäftigte, die in den USA über den Vietnamkrieg verbreitet wurden, tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass die Macht der Fakten in einer freien Gesellschaft stärker sei als alle Lügen: «Unter normalen Umständen kommt der Lügner gegen die Wirklichkeit, für die es keinen Ersatz gibt, nicht auf; so gross das Gewebe aus Unwahrheiten eines Lügners auch sein mag, es wird doch, selbst wenn er Computer zur Hilfe nimmt, niemals gross genug sein, um die Unendlichkeit des Wirklichen zuzudecken.» Das mit den Computern stimmt nicht mehr. Bei der Präsidentschaftswahl 2016 war die zweidimensionale Welt des Internets wichtiger als die dreidimensionale Welt menschlichen Kontakts. Menschen, die von Tür zu Tür gingen, um für ihren Kandidaten zu werben, stiessen auf völlig überraschte Bürger, die merkten, dass sie mit einem Menschen aus Fleisch und Blut über Politik würden sprechen müssen, statt über ihre Facebook-Feeds in ihren Ansichten bestätigt zu werden. Innerhalb der Welt des Internets sind neue Kollektive entstanden, die bei Tageslicht unsichtbar sind, Stämme mit spezifischen Weltbildern, verbunden mit Manipulationen. (Und ja, es gibt eine Verschwörung, die man online findet: Es ist diejenige, die dich online hält und nach Verschwörungen suchen lässt.)

Journalismus ist kein Spektakel

Wir brauchen Printjournalisten, damit sich Geschichten auf der Zeitungsseite und in unseren Köpfen entwickeln können. Was heisst es beispielsweise, wenn der Präsident davon spricht, Frauen würden «an den Herd» gehören, eine Schwangerschaft sei eine «Unannehmlichkeit» für Arbeitgeber, Mütter würden im Job nicht «100 Prozent» geben, Frauen sollten für Abtreibungen bestraft werden, Frauen seien «Schlampen», «Schweine» oder «Hündinnen» und sexuelle Übergriffe auf sie seien erlaubt? Was bedeutet es, dass sechs Unternehmen des Präsidenten bankrottgegangen sind und dass mysteriöse Geldströme aus Russland und Kasach­stan in die Wahlkampfkasse des Präsidenten geflossen sind? All das erfahren wir aus verschiedenen Medien. Wenn wir sie jedoch vom Bildschirm erfahren, werden wir gerne von der Logik des Spektakels in Bann gezogen. Wenn wir von einem Skandal erfahren, regt das unseren Appetit auf den nächsten an. Sobald wir unterschwellig akzeptieren, dass wir eine Reality-Show anschauen, statt über das wirkliche Leben nachzudenken, kann im Grunde kein Bild dem Präsidenten politisch schaden. Reality-TV muss mit jeder Folge drastischer werden. Würden wir auf ein Video stossen, in dem der Präsident Kosakentänze aufführt, während Wladimir Putin dazu in die Hände klatscht, würden wir vermutlich einfach noch einmal das Gleiche verlangen, wobei der Präsident dann mindestens ein Bärenkostüm tragen und sich Rubelscheine in den Mund stecken müsste.

Die besseren Zeitungsjournalisten versetzen uns in die Lage, die Bedeutung dessen, was ansonsten wie isolierte Informationsbrocken wirken könnte, für uns selbst und für unser Land zu erfassen. Doch während jeder schnell mal einen Artikel reposten kann, sind Recherche und Schreiben harte Arbeit, die Zeit und Geld erfordert. Bevor du also über die Mainstreammedien spottest, denk dran, dass sie nicht mehr Mainstream sind. Es sind der Spott und die Verachtung, die Mainstream und einfach sind, während tatsächlicher Journalismus widerspenstig und schwierig ist. Versuche einmal selbst, einen richtigen Artikel zu schreiben, der Arbeit in der wirklichen Welt erfordert: Reisen, Interviews, Kontakte zu Quellen knüpfen, in Archiven stöbern, alles verifizieren, schreiben und Abzüge korrigieren, und all das in einem engen und gnadenlosen Zeitkorsett. Wenn du Freude an so etwas findest, betreibe einen Blog. Bis dahin schenke denen dein Vertrauen, die so etwas beruflich betreiben.

Urteilsfähigkeit hat einen Preis

Journalisten sind nicht perfekt, so wenig wie Menschen in anderen Berufen perfekt sind. Doch die Arbeit von Menschen, die einem journalistischen Ethos Rechnung tragen, ist von anderer Qualität als die Arbeit derer, die das nicht tun.

Für uns ist es selbstverständlich, dass wir für einen Klempner oder einen Mechaniker bezahlen, aber unsere Nachrichten wollen wir umsonst haben. Würden wir nicht für den Klempner oder die Autoreparatur bezahlen, würden wir nicht erwarten, Wasser trinken oder Auto fahren zu können. Warum also sollten wir uns auf der Grundlage von null Investitionen unser politisches Urteil bilden? Wir kriegen das, wofür wir bezahlen.

«Das Individuum, das nachfragt, ist auch der Bürger, der sich konstruktiv am Aufbau des Gemeinwesens beteiligt.»

Wenn wir nach den Fakten suchen, eröffnet uns das Internet beneidenswert viele Möglichkeiten, sie ausfindig zu machen. Die von mir zitierten Autoritäten verfügten über nichts dergleichen. Leszek Kołakowski, der grosse polnische Philosoph und Historiker, verlor seinen Lehrstuhl an der Universität Warschau, weil er seine Stimme gegen das kommunistische Regime erhoben hatte, und wurde mit einem Publikationsverbot belegt. Ein brillanter Kopf wie Victor Klemperer, heute viel bewundert, ist nur deshalb in Erinnerung geblieben, weil er während der NS-Herrschaft unbeirrt weiter Tagebuch führte. Für ihn war das eine Art Lebenselixier: «Mein Tagebuch», so schreibt er im ersten Kapitel seines Buches über die lingua tertii imperii, «war in diesen Jahren immer wieder meine Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre.» Václav Havel, der bedeutendste Denker unter den kommunistischen Dissidenten der 1970er Jahre, widmete seinen wichtigsten Essay «Von der Macht der Ohnmächtigen» einem Philosophen, der unmittelbar nach einem Verhör durch die tschechoslowakische Geheimpolizei gestorben war. In der kommunistischen ČSSR wurde diese Streitschrift illegal in ein paar wenigen Exemplaren verbreitet und unter der Hand weitergegeben – man sprach, in Anlehnung an die russischen Dissidenten, von «Samisdat».

Prüfe, bevor du postest

«Da das ‹Leben in Lüge› die Grundstütze des Systems ist», schrieb Havel, «ist es kein Wunder, dass das ‹Leben in Wahrheit› eine Grundbedrohung für das System bedeutet.» Im Zeitalter des Internets sind wir alle Publizisten, und jeder von uns trägt eine private Verantwortung für das Wahrheitsempfinden der Öffentlichkeit. Wenn wir ernsthaft nach den Fakten suchen, kann jeder die Funktionsweise des Internets im Kleinen revolutionieren. Wenn du für dich selbst Informationen verifizierst, wirst du keine Fake News an andere verschicken. Wenn du beschliesst, im Netz Berichterstattern zu folgen, denen du mit gutem Grund vertraust, kannst du das, was sie in Erfahrung gebracht haben, an andere weiterleiten. Wenn du nur Dinge von Menschen twitterst, die sich auf Journalisten berufen, die wirklich sauber gearbeitet haben, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass du dir dein Hirn mit Bots und Trollen verdirbst.

Die Köpfe, denen wir Schaden zufügen, wenn wir Falschmeldungen verbreiten, sehen wir nicht, aber es ist nicht so, dass wir damit keinen Schaden anrichten. Denk ans Autofahren. Wir sehen den anderen Fahrer vielleicht nicht, aber wir wissen, dass wir ihm nicht reinfahren sollen. Wir wissen, dass das uns beiden schaden würde. Wir schützen den anderen, ohne ihn zu sehen, und das Dutzende Male jeden Tag. Ganz ähnlich sehen wir den anderen vor seinem Computer vielleicht nicht, aber auch wir tragen Verantwortung für das, was er oder sie zu lesen bekommt. Wenn wir es vermeiden, den Köpfen unsichtbarer anderer im Internet Gewalt anzutun, werden andere lernen, das auch zu tun. Und dann wird unser Internetgebrauch nicht wie ein einziger blutiger Verkehrsunfall aussehen.


Bei diesem Text handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung des Kapitels «Frage nach und überprüfe» aus «Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand» von Timothy Snyder, erschienen 2017 bei C. H. Beck. Wir danken für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck.

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