Glänzender Auftritt
Hatte er letztens irgendwo den Kopf verloren? Oder gar das Gesicht? Trotz angestrengten Nachdenkens – das Hirn also zumindest war noch da – konnte Niklas G. keine Erklärung finden für die Leere, die ihm an diesem sonnigen Morgen aus dem Badezimmerspiegel entgegenblickte. Deutlich erkannte er den obersten Heizstab des Handtuchwärmers und auch der Kragen seines […]
Hatte er letztens irgendwo den Kopf verloren? Oder gar das
Gesicht? Trotz angestrengten Nachdenkens – das Hirn
also zumindest war noch da – konnte Niklas G. keine Erklärung finden für die Leere, die ihm an diesem sonnigen Morgen aus dem Badezimmerspiegel entgegenblickte. Deutlich erkannte
er den obersten Heizstab des Handtuchwärmers und auch
der Kragen seines Bademantels spiegelte sich vor ihm, das Bild seiner selbst aber suchte er vergebens. Hätte sich über dem
Lavabo zum Morgengruss ein ganzer Männerchor aus Niklas-Mündern aufgetan, er wäre kaum beunruhigt gewesen.
Das stumme Nichts jedoch, dem er sich gegenübersah, liess ihm, wer verstünde es nicht, ein metaphysisches Gruseln in die Brust kriechen. Mit blinder Routine stutzte er ein widerborstiges Nasenhaar, band er sich die Krawatte und gelierte er sich das Haar, um sodann draussen mit der Frühlingssonne um
die Wette zu scheinen. Im Büro, wo er nach kurzem Fussmarsch anlangte, schien seine Gesichtslosigkeit niemandem aufzufallen. Von allen Seiten freundlich begrüsst, vergrub er sich
aufatmend in einen Aktenberg, fand darin jedoch seine
Fassung nicht wieder. Denn in keinem der Spiegel, die ihm
die Banalitäten seiner Welt pausenlos vorhielten, konnte
er sich selbst erkennen. Sein Kopf zeigte ganz einfach nicht die geringste Neigung zur Reflexion: Weder in Fenstern noch in
Bilderrahmen oder Kaffeelöffeln mochte er sich abbilden.
Also kroch der Schauder, man versteht es, immer tiefer in
die Brust und nistete schliesslich so nah am Herzen, dass sich Niklas G. am frühen Nachmittag gezwungen sah, ein paar Überstunden einzuziehen, um sich wiederzufinden. Nichts liess er dabei unversucht, alles war umsonst. In den Herrenkonfektionsgarderoben, in denen er schneidige Sakkos anprobierte, und im Fitnessstudio, das er zur Verbesserung des
Körpergefühls besuchte, blieben seine Konturen ebenso
verloren wie in dem Coiffeursalon, den er bei Einbruch der Dämmerung betrat. Zum Horror gesteigert, liess ihm dort das Grauen vor der Leere, wer wollte es ihm verübeln, den Schweiss aus den Poren des gepflegten Gesichtes treten. Feine Perlen rollten – er fühlte es deutlich – dem Ohr entlang dem Hals
entgegen, als die Coiffeuse hämisch grinsend – er sah es
deutlich – ihre Hände in einen Topf voll Brillantine tauchte. «Wo dieser Glanz leuchtet, muss es wahrlich dunkel sein», hörte er sie gerade noch murmeln, bevor er aufschreiend ins Bodenlose stürzte und die Augen aufriss. Heftig rasten ihm
da das Herz in der Brust und der Schmerz im Kopf, der Atem aber geriet ins Stocken, als er die Hexe erblickte, die neben
ihm schlummerte. Nun endlich ernstlich an seinem Verstand zweifelnd, was blieb ihm auch anderes übrig, raufte er sich
die klebrigen Haare und liess einen feinen Konfettiregen
aufs Kopfkissen niedergehen.