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Gion Mathias Cavelty (2/2) Vorabdruck

Vorabdruck aus dem in Arbeit befindlichen Buch «Die letztesten Dinge» von Gion Mathias Cavelty

Prolog

Die letzten Dinge – ich hatte sie gesehen.*

Ich war an einem Stück Andouillette erstickt. Hatte Himmel und Hölle durchschritten. War wiedergeboren worden (das heisst, meine Seele war in eine geschmacklose Holzstatuette des hethitischen Fischmonsters Tattuschili gefahren). Und was sonst nicht noch alles. Es hatte gar nicht mehr aufhören wollen. Immer noch letztere und noch letztere Dinge waren gefolgt. Doch auch mit ihnen war noch nicht Schluss gewesen, nein. Irgendwann war mir dann klar geworden, dass ich nicht um sie herumkommen würde:

Die letztesten Dinge.

Damit gemeint: die wirklich allerletztesten Dinge. Nur, damit keine Missverständnisse aufkommen.

Da sass ich also, am Steuer des dreirädrigen Kastenwägelchens mit der Aufschrift «Gletschereiswürfel-Lieferservice Senenmut», das ich dem einhörnigen Höllengnom Senenmut gestohlen hatte. Vor mir, hinter mir, über mir und unter mir: das absolute Nichts. Das Tempo, mit dem ich durch das absolute Nichts unterwegs war: zehnfache Aethyrgeschwindigkeit.

Ach ja: und hinten im Laderaum des Lieferwägelchens befand sich Gott.

Wobei: so einfach war das natürlich auch wieder nicht.

Gott hatte sich nämlich noch gar nicht erschaffen. Er existierte noch nicht, und somit konnte logischerweise auch nichts anderes existieren. Das Lieferwägelchen? Bloss eine Idee. Die Andouillette, an der ich erstickt war? Eine Idee. Ich? Nichts weiter als eine Idee.

Ob sich Gott je erschaffen würde? Und ob er dann auch den ganzen Rest erschaffen würde? Das war die grosse Frage. Ich hatte mich jedenfalls dazu entschlossen, ihn vor der blutrünstigen Andouilletten-Armee in Sicherheit zu bringen und mit ihm davonzurasen, in der Blechbüchse, in der ich nun sass – möglicherweise würde er ja ein sehr freundlicher Gott werden.

Regelmässig schaute ich nach hinten, um einen Kontrollblick auf die strahlende Lichtfrucht in ihrem Topf zu werfen – die Lichtfrucht, die wie eine Prostata aussah und «Gott ist, der sich heranreift», wie mir eine der drei Wächterschnecken vor dem Treibhaus am östlichsten Punkt des Himmels verraten hatte (auch sie war selbstverständlich nur eine Idee).

Ob Gott jemals zur Reife gelangen würde, lag allein in seiner Entscheidung. Es konnte noch eine Ewigkeit dauern, bis Gott mit sich fertig sein würde. Ob es sich lohnte, so lange zu warten? Diese Frage hatte ich mir in der letzten Zeit immer wieder gestellt…

1. Kapitel: Der schlafende Noch-nicht-Gott

Während der ersten drei Tage meines Fluges durchs Nichts geschah nicht das geringste. Nun, was hatte ich denn erwartet? Ich wusste es auch nicht. Zu Lebzeiten war ich Schriftsteller gewesen und hatte über ein gewisses Mass an Phantasie verfügt; diese hatte sich jedoch vornehmlich auf das Ausmalen von Verfolgungsjagdszenarien für meine stark actionlastigen Romane beschränkt (vier an der Zahl waren publiziert worden).

Die Lichtfrucht glimmte still vor sich hin; konnte ich Gott vielleicht irgendwie auf die Sprünge helfen? Durch sachtes Rütteln am Topf? Indem ich mit dem Gewächs sprach? Düngemittel oder Wasser standen mir nicht zur Verfügung. Ich hatte nur den Bleistift der innig verehrten Ariane. Damit vermochte ich nichts wirklich Sinnvolles anzustellen. Die Prostata pieksen? Kam nicht in Frage. Ich trug hier eine immense Verantwortung – das Risiko, Gott zu beschädigen, durfte ich nicht eingehen.

Einmal gab es eine Schrecksekunde: Klappern ertönte von hinten, die Ladetür war aufgesprungen. War die Fracht herausgefallen? Glücklicherweise nicht – der Topf war aber umgekippt und drohte, ins Nichts zu rollen. Ich hechtete über den Führersitz in den Laderaum und machte blitzschnell die Tür wieder zu. Hoffentlich war die Lichtfrucht durch diesen Vorfall nicht in Mitleidenschaft gezogen worden – sah sie nicht ein bisschen eingedrückt aus? Blasser als zuvor, kränklich, runzliger? Was, wenn sie wegen falscher Behandlung oder Vernachlässigung meinerseits einging?

Theologische Überlegungen dominierten die nächsten Tage. Sie fielen allerdings nicht so tiefschürfend aus, wie sie es angesichts der Situation wahrscheinlich hätten tun müssen.

Dann, gegen Ende des sechsten Tages, plötzlich: angestrengtes Ächzen. Der Schlag meines hölzernen Herzens beschleunigte sich. Im Innenrückspiegel konnte ich sehen: die Prostata hatte zu pulsieren begonnen. Zuckte immer wilder. Zog sich krampfhaft zusammen. Spie ploppend ein glitzerndes Pulver aus – Sternenstaub, dachte ich in einem poetischen Anflug. Wie zauberhaft! War es das?

Nein: nach einer Weile folgte noch etwas. Ein kleines goldenes plumpste zu Boden. Dort tat es keinen Wank.

Wenn dieses tatsächlich Gott war, war er eine Enttäuschung, das musste man ehrlich sagen. Eine riesige Enttäuschung. Dann wäre es wohl das beste gewesen, den Topf eigenhändig über Bord zu werfen.

Schnarchen drang aus dem Ding; offenbar schlief es. Unfassbar. Was für ein schwacher Auftritt.

«Hallo», fuhr ich es an. «Aufwachen!»

Keine Reaktion.

«Jetzt ist es aber genug», enervierte ich mich und stupste es energisch an. Ich war richtig aufgebracht, hatte ich für seine Rettung doch Kopf und Kragen riskiert.

«Ach, ich bin so müde», murmelte das . «Ich muss mich noch etwas ausruhen.»

«Das macht doch einfach keine Gattung», stiess ich hervor. «Du solltest dich schämen, ein derart klägliches Bild von Gott abzuliefern.»

«Ich bin nicht Gott, wie ich betonen möchte», wurde ich mit träger Stimme korrigiert. «Noch nicht.»

«Was?»

«Ich habe mich noch nicht ganz dazu durchringen können, mich zu Ende zu erschaffen. Es gibt so vieles, was dagegen spricht … so viele

Nach diesen Worten nickte Gott – respektive der Noch-nicht-Gott – wieder ein.

Ich war konsterniert. Dieser unglaubliche Faulpelz. Er hatte nichts mit dem vor Schöpferkraft nur so strotzenden Gott aus dem Alten Testament gemein. Er war das pure Gegenteil.

Ich starrte durch die Frontscheibe ins Nichts. Jehova respektive Pendants aus anderen Religionen hätten schon längst mit der Arbeit begonnen.

Nun, so einfach würde mir der Drückeberger nicht davonkommen. Es gab da einige Dinge, die zu erschaffen ich ihn notfalls mit gezücktem Bleistift zwingen würde, Stichwort «Ariane». Die schöne Sängerin aus Altdorf konnte ich einfach nicht vergessen. Aber auch Stichwort «phantastischer Körper für mich». Meinen abstossenden Holzkörper mit den Holzschuppen und Holztentakeln hatte ich endgültig satt.

«He da», brüllte ich. «Ans Werk!»

Das tat aufgeschreckt einen Satz nach vorn.

«Ich bin so unendlich müde», klagte es.

«Ja, die Leier kenne ich schon», winkte ich brüsk ab. «Schau einmal raus – vielleicht fällt dir etwas auf. Nein? Nun, das ist nicht besonders verwunderlich, denn…»

«Ich weiss ungefähr, was von mir erwartet wird», seufzte das Phlegma. «Himmel … Erde … Solcherlei, nicht wahr. Diese Mühsal. Diese Mühsal. Ach …»

«‹Himmel› ist sicherlich keine schlechte Idee», bestätigte ich. «Tatsächlich gibt es schon jede Menge Ideen vom Himmel. Wichtig ist jetzt, die beste davon zu realisieren.»

«Die beste?»

«Nun, die paradiesischste.»

«Und die wäre?»

Mit dieser Frage hatte mich der kleine Kerl erwischt. Welcher war der paradiesischste Ort? Der Garten Eden? Was gab es sonst noch? Der Himmel der Muslime mit den 72 Jungfrauen pro Mann, die in der korrekten Übersetzung allerdings nur 72 kristallene Flächen respektive Trauben sein sollen? Nein, für Kristalltrauben konnte ich mich nicht sonderlich erwärmen. Wenn ich ehrlich sein wollte, dann war der paradiesischste mir bekannte Ort…

«Der Media Markt», sagte ich mit fester Stimme. «Ja, der Media Markt in C*** ist der Ort, an dem ich am glücklichsten war. Die atemberaubendsten technischen Geräte gab es dort zu bestaunen, vom PC bis zur Waschmaschine. Und die tollsten CDs und DVDs gab es auch zu kaufen. Diese Riesenauswahl an allem, dieses elektrische Kribbeln, das in der Luft lag, diese ganz spezielle Atmosphäre – erregend. Ergreifend. Einmalig. Der Media Markt war immer für mich da. Im Media Markt gab es stets etwas Neues zu entdecken. Im Media Markt wurde es mir nie langweilig – und das ist zweifellos das Wichtigste an einer für die Unendlichkeit gedachten Institution wie der Himmel, nicht wahr.»

Die Möglichkeit, gezielt auf Gottes Schöpfung Einfluss zu nehmen, brachte mich mächtig in Fahrt.

In allen Einzelheiten schilderte ich ihm den Media Markt in C***, wie ich ihn in Erinnerung hatte, begeistert alle architektonischen Besonderheiten sowie die raffinierte Raumaufteilung unterstreichend.

Als ich fertig war, musste ich feststellen, dass Gott erneut eingeschlafen war.

«Du hast überhaupt nicht zugehört», zischte ich beleidigt.

«Habe ich wohl», fuhr Gott hastig auf, «Staubsaugerabteilung – Kaffeemaschinenabteilung – Küchenwaagenabteilung… Du hast mich voll überzeugt. Ja, das klingt alles hervorragend. Exakt so machen wir es. Der Media-Markt-Himmel ist beschlossene Sache.»

Ich war komplett überrumpelt.

«Was heisst das genau?», erkundigte ich mich skeptisch.

Gott gähnte.

«Jetzt schau du einmal raus», empfahl er mir. «Vielleicht fällt dir etwas auf.»

2. Kapitel: New Heaven

Ich schaute hinaus – und wollte meinen Augen nicht trauen. Vor mir erstreckte sich eine riesige betonierte Fläche, grell beleuchtet von Strassenlaternen, unterteilt in Parkplätze – Abertausende von Parkplätzen.

Und am Horizont erhob sich ein Gebäude von gigantischen Ausmassen. Seine Farbe war rot, doch dieses Rot war nicht irgendein Rot, sondern das typische Media-Markt-Rot.

Ich steuerte das Wägelchen Richtung Haupteingang, über dem turmhohe Plastiklettern angebracht waren, die die Wörter «Media Markt» bildeten. Wenige Schritte davor brachte ich es zur Landung.

Ich kletterte aus dem Gefährt und schritt ehrfürchtig auf das Portal zu. Die gläsernen Schiebetüren glitten lautlos zur Seite.

Kein Zweifel: ich war im Himmel. Im richtigen, wirklichen. Der Himmel, den ich zuvor kennengelernt hatte – der Seifenhimmel – kam mir nun erst recht wie ein billiger Scherz vor. Dieser Media Markt war in unendlichem Masse echter als jeder Media Markt, den ich Zeit meines Lebens betreten hatte (diese waren ja auch samt und sonders nur Ideen von Media Märkten gewesen).

Grenzenlosen Spass würde ich hier haben! Wo war die DVD-Abteilung? Geradeaus, dann links, entnahm ich die Antwort einem von der Decke hängenden Schild.

Die DVD-Abteilung – ach, was soll ich sagen? Sie übertraf meine kühnsten Erwartungen. Nicht nur waren in ihr alle Filme zu finden, die je gedreht worden waren, nein: auch jene, die nie gedreht worden waren, aber theoretisch hätten gedreht werden können, standen in den Regalen. Was bedeutete, dass ich bis in alle Ewigkeit etwas zu gucken haben würde.

Zügig lief ich den Gestellen entlang; zuerst kamen die Filme, deren Titel mit dem Buchstaben A begannen. Nach einer halben Stunde war ich noch immer nicht bei B angelangt, sondern erst bei Ab: «Ab April wird alles besser» – «ABBA: The Movie» – «Ab Dilli Dur Nahin» – «Ab durch die Wand» – «Ab heute erwachsen» – «Ab heute heisst du Klaus» – «Ab in die Zukunft» – «Ab inne Kiste» – «Ab Minor» – «Ab morgen haben wir Humor» – «Ab nach Rio» – «AB Negative» – «Abnormal Beauty»…

Jeden Film gab es in unzähligen Versionen («Director’s cut», «Extended director’s cut», «Extended editon», «Special extended editon», «Deluxe extended editon», «Premium edition», «Hongkong edition», «in 3D», «Mit einem einminütigen Spezialauftritt von Stephen Hawking», «Mit einem zweiminütigen Spezialauftritt von Stephen Hawking», «Mit einem dreiminütigen Spezialauftritt von Stephen Hawking», «Mit völlig unerwartetem Happy-End», «Mit noch nie gesehenen Knetanimationen», et cetera).

Bei «Ab ovo/homoknyomok» kehrte ich um.

Gott hatte sich inzwischen auch ins Gebäude geschleppt.

«Grossartig», jubelte ich ihm entgegen. «Genauso habe ich mir das vorgestellt! Der Himmel ist ein Meisterwerk geworden. Was mir jetzt noch fehlt zur vollkommenen Glückseligkeit, ist ein anständiger Körper. Einer mit Armen und Beinen und … so etwas in dieser Art, siehst du.»

Ich zog eine DVD-Hülle heraus, auf der der österreichische Entertainer Peter Alexander posierte. Er trug einen silbernen Glitzersmoking und präsentierte sich dynamisch und schalkhaft. Im Hintergrund war ein Orchester zu erkennen.

«Das hier», erklärte ich Gott und deutete auf Alexander, «das ist ein Mensch. Ein solcher war ich einst.»

«Und so möchtest du ausschauen?», wollte Gott wissen. «Nun, so sei es.»

Im nächsten Moment hatte ich die Gestalt Peter Alexanders angenommen.

*Siehe das Buch «Die Andouillette oder Etwas Ähnliches wie die Göttliche Komödie»

werkgespräche Gion Mathias Cavelty

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