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Gesunder Menschenverstand, wo bist du nur geblieben?
Bild: Babette Sigg Frank, Urs Flüeler/Keystone.

Gesunder Menschenverstand, wo bist du nur geblieben?

Gesundheitsbehörden drängen darauf, dass der Nutri-Score, ein plakatives Nährwertlabel für Lebensmittel, zum Obligatorium wird. Der Nutzen für den Konsumenten ist zweifelhaft.

 

Er flutet je länger, je mehr die Verpackungen unserer Nahrungsprodukte: der Nutri-Score, die farbige Kennzeichnung, wie «gesund» die Wahl eines Lebens­mittels für uns sei.

Woher kommt er, was will er, was bringt er? Die Anfänge des Nutri-Scores reichen ins Jahr 2001 zurück, als in Frankreich Stimmen laut wurden, die, um die Volksgesundheit zu fördern, ein neues, einfaches Kennsystem für verarbeitete Lebensmittel forderten. Nach zwanzig Jahren Deuteln, Zanken und Denken ist es nun so weit: In Spanien, Frankreich, Belgien und Deutschland sind seit diesem Jahr verarbeitete Lebensmittel mit ebendiesem Nutri-Score auszuloben. Und die Schweiz? Macht vorsichtshalber auch gleich mit. Somit kennzeichnen vor allem internationale Firmen wie Danone oder Nestlé, zunehmend aber auch unsere grossen Detailhändler zähneknirschend ihre Produkte mit dem Label. Dies bleibe hierzulande allerdings auf freiwilliger Basis, will man uns weismachen.

Übergewicht und Fettleibigkeit sind unschöne Ergebnisse unserer Wohlstandsgesellschaft. Was wir noch vor zwanzig, dreissig Jahren staunend vor allem in den USA zur Kenntnis nahmen, nämlich schwer adipöse Menschen – für die nicht nur spezielle Modelinien entstanden, sondern auch breitere Sitze in Bussen und Flugzeugen installiert werden mussten –, ist auch hierzulande keine Seltenheit mehr. Diese rasante Zunahme sogenannter Zivilisationskrankheiten versuchen die Bundesämter BLV und BAG einigermassen hektisch zu bremsen.

Nur noch Grün oder Rot sehen

Anscheinend sind immer weniger Menschen in der Lage, die auf sämtlichen Produkten seit Jahrzehnten aufgedruckten Nährwerttabellen zu lesen und zu interpretieren. Dazu braucht es lediglich eine mathematische Grundkenntnis, die uns bereits in der Primarschule vermittelt wird und mit der wir doch recht gut durchs Leben kommen: nämlich den Dreisatz. Das Wort Dreisatz ist aber heute nicht mehr en vogue, man nennt ihn heute Proportionalität oder umgekehrte Proportionalität, wie man ja grundsätzlich gern alles neu benennt, und dies möglichst so, dass man nicht mehr weiss, was es zu bedeuten hat. Kurz kann man die Ausgangslage so zusammenfassen: Weil die Bevölkerung nicht mehr in der Lage sei, eine schlichte Nährwerttabelle, die alles Wissenswerte enthält, zu verstehen, muss Farbe ins Spiel kommen. Autofahren kann ja auch jeder, und von dort wissen wir: rot = Stop, grün = Go!

Doch wie kommen Stop und Go des zweifarbigen und fünfstufigen Nutri-Scores zustande? Der Berechnung des ausgeklügelten Punktesystems zugrunde liegt – einer gewissen Ironie nicht entbehrend – die bereits zitierte Nährwerttabelle: Wenige Punkte sollen der Gesundheit dienen und führen zur Farbe Grün und zum Buchstaben A, viele Punkte seien des Guten zu viel und führen zur Farbe Rot und zum Buchstaben E. Die vereinfachende Farbgebung suggeriert allerdings etwas, das der Nutri-Score nicht zu halten vermag. Ein Konsument, der sich ausschliesslich darauf verlässt, ernährt sich keineswegs automatisch gesünder.

Ein klassisches Beispiel ist das von Nestlé 1948 in den USA eingeführte Kakaogetränk Nesquik. Die Schoggimilch erhält ein hellgrünes «B». Trotz sehr hohem Zuckeranteil schneidet das Pulver in der Skala gut ab, da Milch an sich eine gute Bewertung erhält. Dem eifrigen Nesquiktrinker wohl nicht bewusst ist, dass die hellgrüne Bewertung nur für das Anrühren in fettarmer Milch gilt. Und nicht nur das. Für alle diejenigen, die sich angewöhnt haben, pro Glas zwei oder drei gehäufte Löffel Schoggipulver einzurühren, kommt nun der herbe Schlag: Nur ein Kaffeelöffel ist erlaubt! Andernfalls kippt das Getränk gefährlich in die Richtung Dunkelrot. Mit Nutri-Score wähnt sich der Konsument also in falscher Sicherheit. Gesunder Menschenverstand, wo bist du geblieben?

«Die vereinfachende Farbgebung

­suggeriert etwas,

das der Nutri-Score

nicht zu halten ­vermag.»

Mündige Konsumenten

Es ist keine amtliche Stelle, wie zum Beispiel ein offizielles Labor, die den Score verleiht, er wird von den Produzenten selber festgelegt, aufgrund der Nährwerte. Befürworter des Ampelsystems fordern bereits jetzt, sämtliche verarbeiteten Produkte mit dem Nutri-Score auszustatten, um die Vergleichbarkeit von ähnlichen Produkten zu fördern. Sie betonen, dass der Nutri-Score nicht für gesündere Produkte stehe, sondern dem Vergleich innerhalb einer Produktgruppe, wie zum Beispiel Joghurts, dienen soll. Aber, um bei den Joghurts zu bleiben: Gerade die sogenannten gesünderen Varianten werden vom Produzenten selbst entsprechend beworben. Nämlich mit «enthält weniger Zucker – nur natürliche Früchte – nur Fruchtzucker – mit fettarmer Milch».

Steht da beispielsweise «mit Rahm angereichert», da weiss ein Konsument auch ohne Hilfe, dass er hier ein Produkt mit Fettgehalt einkauft. Dieses Verständnis können wir von mündigen Konsumenten erwarten. Eine unter dem Strich nur Verwirrung stiftende Hilfe, um nochmals auf die Schoggimilch zurückzukommen, macht es jedenfalls nicht besser.

Fett, Zucker – sie machen es aus, ob mir mein Joghurt oder meine Frühstücksflocken schmecken, denn sie sind Geschmacksträger par excellence. Jeder, der sich schon einmal den Leiden einer Diät hingegeben hat, weiss dies nur zu gut. Alle kalorienreduzierten Produkte, seien es Milch, Aufschnitt oder Cerealien, schmecken einfach nicht so gut wie die vollwertigen Varianten. Und nicht nur das: Man weiss mittlerweile, dass diese Surrogate den Hunger eher ankurbeln. Diättreibende mit Disziplinproblemen – also die grosse Mehrheit – neigen dazu, diesen Hunger zu kompensieren und viele Extrakalorien zu konsumieren. Das wirkt sich dann sehr ungünstig aus, ein Jo-Jo-Effekt ist garantiert.

Verzichten wir nun auf unsere liebgewordenen Produkte, wenn sie von staatlichen Stellen nicht empfohlen werden? Natürlich nicht. Wir konsumieren sie weiterhin. Nun aber mit schlechtem Gewissen. Und das ist die allerschlechteste Variante. Lüften wir besser das Geheimnis der Ernährung: alles, aber mit Mass und ausgewogen. Dann liegen auch vermeintliche Sünden drin. Wer sich an diese Maxime hält, muss sich keine Gedanken über «gesunde» Ernährung machen. Schliesslich ist Genuss mindestens genauso wichtig für das Wohlbefinden.

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