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Geständnis eines vom Liebespfeil getroffenen Rezensenten

Elisabeth Binder: «Orfeo». Stuttgart: Klett-Cotta, 2007.

Dass einem das widerfahren kann: sich in ein Buch, seinen Rhythmus, seine zarte Sprache regelrecht zu verlieben. Ungehörig für jemanden, der sich anschickte, ein kritisches Wort über diese «Orfeo» betitelte Prosakomposition zu schreiben, die klingt, als handle es sich um ein in Prosa aufgelöstes Libretto für leise, gedämpfte Stimmen.

Entweder lieben oder kritisieren oder aus Liebe kritisieren oder durch Kritik einen Liebesbeweis leisten: Wo käme man denn dahin, wenn ein Kunstrichter damals, als Tracey Emin in der Londoner Tate ein ungemachtes Bett ausstellte, sich einfach in dasselbe gelegt und sich darin wohl gefühlt hätte, wohlig darin eingeschlafen wäre und einen erotischen Traum geträumt hätte? Nicht auszudenken, wenn sich ein Musikkritiker bei einem neuen Stück von, sagen wir, Arvo Pärt, John Tavener oder Philip Glass wie in Trance wiegte und gleichsam in Klanghypnose verfiele.

Da bespricht man über ein Vierteljahrhundert Bücher, hält seinen kritischen Blick für recht geübt und dann greift man nach einem Buch, Orfeo betitelt, mit einem Schutzumschlag, der Venedig in Grau zeigt; die Laternen zartrosa; der Einband blütenweiss, Unbeflecktheit vortäuschend, gewiss, da kann schon so manches geschehen, aber dann das, dass man geständig wird. Der erste Satz dieser Prosa hatte ja noch nichts Spektakuläres an sich: «Nun lag auch Mailand schon hinter ihm.» Auf der Zugfahrt von Zürich nach Venedig. Aber am «auch» lag es, dass ich neugierig wurde. Ich blätterte, um mir die Struktur des Textes zu vergegenwärtigen: fünf Teile, ja, ganz wie in Thomas Manns «Der Tod in Venedig». Fünf verspricht etwas Klassisches, womöglich Tragisches: ein älterer Herr auf der Suche nach seiner früheren Frau, der (noch immer) viel zu schönen Stella, die ihrerseits von einem anderen Angebeteten träumt; irgendwo im slowenischen Karst vermutet sie ihn. Der vermögende ältere Herr aus Zürich namens Hans Bauer findet seine Schöne von einst in Venedig; sie laufen nebeneinander her, machen sich auf nach Triest; auch Gustav Aschenbach wollte ja damals nach Abbazia bei Triest, konnte sich aber von Venedig nicht mehr befreien. Er war Venedig verfallen; Hans Bauer und die schöne Stella mit Hund sind der Erinnerung verfallen, dem Suchen, den Spuren. Sie hoffen auf ein neuerliches Zünden des Liebesfunkens. Aber die Wirklichkeit in Triest ist triste; der Karst keine Augenweide, der Weg zurück nach Venedig unumgänglich. Am Ende dieser Prosadichtung, denn um eine solche handelt es sich, nicht um einen Roman, leidet zwar niemand an Cholera und jedem steht der Weg offen, zurück nach Zürich oder irgendwohin, aber es bleibt bei einem letzten Blick auf das Meer, ohne Tadzio, aber auf eine Fähre, eine griechische dazu noch: «Sie fuhr sehr langsam, so dass man sie lange noch sah. Und als man sie nicht mehr sah, konnte man sich doch vorstellen, in welches Abendlicht sie hinausfuhr, in welche Bläue.» Ja, das ist ganz einfach schön. Und «Orfeo» heisst diese Prosadichtung nicht nur wegen des Mottos aus Monteverdis Oper («Was bleibt mir denn noch,/wenn du mich verlässt, süsseste Hoffnung?»), sondern weil Hans Bauers Blick in Stellas Zimmer auf eine Karte mit Coneglianos «Orpheus»-Zeichnung fällt, weil er selbst ein Orpheus sein will, der seine für ihn verlorene Eurydike sucht, aber selbst nicht wirklich zum Sänger wird.

Ja, man kann sich in diese zarte Prosa verlieben, in dieses Gewebe aus Vertrautem und Ungeahntem, aus leisester Tod-in-Venedig-Parodie und genuiner Darstellung einer späten, aber nie zu späten Sehnsucht. Oder wie es das Liebesgedicht Heines nahelegt («Im wunderschönen Monat Mai»): es kommt darauf an, sich und dem anderen seine Sehnsucht und sein Verlangen einzugestehen, sich zu seinen Gefühlen zu bekennen und die poetischen Bilder fliessen zu lassen. Die Prosa dieser Autorin ist selbst wie eine Gondel, in der wir auf dem Canal Grande wahrer Empfindungen gleiten können.

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