Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Gesinnungsdiktatoren nehmen die Gesellschaft in Geiselhaft

Die Freiheit des Einzelnen soll im Namen einer angeblichen Toleranz eingeschränkt werden. Doch Gedanken und Überzeugungen sind frei. Sanktioniert werden müssen lediglich destruktive Handlungen.

Gesinnungsdiktatoren nehmen die Gesellschaft in Geiselhaft
Pendler drängen sich am Bahnhof Winterthur in einen Zug. Bild: Keystone/Markus Läng.

Im Gewühl der Rushhour, eingezwängt in einem überfüllten Tram, umgeben von erschöpften Gestalten. Die Luft ist schwer, jeder Ruck bringt eine fremde Berührung. Sie lehnen am kalten Metall der Tür. Zu stehen, weil kein Sitz bleibt, wird zum Zeugnis der Toleranz, zur stillen Lektion in Erduldung. Ein unausgesprochener Pakt unter Pendelnden: «Ich teile eure Last.» Hier wird Toleranz zur Tat – das Unbequeme mit Würde zu umfassen.

Der Begriff Toleranz kommt vom lateinischen Wort «tolerare». Man kann es mit «erdulden» oder «ertragen» übersetzen. Dazu gehört vor allem auch das Erdulden anderer Meinungen. Menschen sind tolerant, wenn sie billigen, dass andere Menschen anders denken und anders leben, auch wenn sie selber dies nicht besonders gut finden. Das Motto lautet: Leben und leben lassen.

Das Paradoxon unserer Zeit besteht darin, dass insbesondere «woke» Kreise der Toleranz im Sinne der Aufklärung den Kampf ansagen. Sie nehmen für sich in Anspruch, die einzig «richtige» Sicht auf Ethik zu haben, und definieren selbst, was unter Toleranz zu verstehen sei. Woke Toleranz neigt dazu, selektiv zu sein, indem sie aktiv bestimmte Minderheiten oder Meinungen unterstützt, die mit eigenen Überzeugungen übereinstimmen, während sie andere Ansichten oder Gruppen, die nicht ins eigene Weltbild passen, geringschätzt. «Keine Toleranz mit den Intoleranten», lautet der Kampfruf der selbsternannten Moralhüter. Doch wie können wir Toleranz üben, wenn wir nicht bereit sind, uns mit dem zu konfrontieren, was uns stört oder unbehaglich macht?

Die Ironie ist, dass Toleranz das Aushalten von Unbehagen voraussetzt. Wenn das ethische Ideal jedoch lautet, dass niemand «verletzt» werden oder sich «unwohl» fühlen darf, wird Toleranz verunmöglicht. Toleranz kann nicht gelebt werden, wenn alles, was uns stört, aus der Welt geschafft wird. Wir können nur etwas tolerieren, wenn es existiert.

«Toleranz kann nicht gelebt werden, wenn alles, was uns stört, aus der Welt geschafft wird. Wir können nur etwas tolerieren, wenn es existiert.»

Worte können an sich nicht verletzen, bloss stören. Es ist die Reaktion des Empfängers, die aus Worten Verletzungen macht. Wie der römische Staatsmann und Stoiker Seneca einst sagte: «Nicht der Dinge selbst wegen sind wir beunruhigt, sondern wegen unserer Meinung über die Dinge.» Ein Mensch, der gelassen und gleichmütig auf Meinungen, Beleidigungen und Dummheiten reagiert, der seine Emotionen kontrolliert und stoisch bleibt, ist wahrhaft tolerant.

Das Kernproblem in der Debatte über die Toleranz liegt darin, dass nicht mehr unterschieden wird zwischen Überzeugungen, Ansichten oder Lebensweisen und konkreten Handlungen, die daraus resultieren können. In einer liberalen Gesellschaft geht es nicht darum, Meinungen, Glaubensrichtungen, politische Ausrichtungen, sexuelle Orientierungen oder Lebensstile an sich zu bewerten oder einzuschränken. Als intolerabel können nur Handlungen betrachtet werden, die das Leben, die Freiheit oder das Eigentum anderer Menschen konkret gefährden.

«Das Kernproblem in der Debatte über die Toleranz liegt darin, dass nicht mehr unterschieden wird zwischen Überzeugungen, Ansichten oder

Lebensweisen und konkreten Handlungen, die daraus resultieren können.»

Nur Handlungen richten Schaden an

Zur Veranschaulichung kann der Vergleich mit einer Waffe dienen. Es ist nicht die Waffe an sich, die verletzt oder tötet. Eine Waffe ist für sich betrachtet nur bearbeiteter Stahl. Erst durch Entscheid und Handlung eines Menschen richtet eine Waffe Schaden an. Ähnlich verhält es sich mit Religionen, Weltanschauungen oder Ideologien. Diese werden erst dann problematisch, wenn Menschen im Namen dieser Überzeugungen gewalttätige oder schädigende Handlungen vollziehen.

«Religionen, Weltanschauungen oder Ideologien werden erst

dann problematisch, wenn Menschen im Namen dieser Überzeugungen

gewalttätige oder schädigende Handlungen vollziehen.»

Dieser Unterschied ist von zentraler Bedeutung: In einer freien Gesellschaft sollten nur destruktive Handlungen sanktioniert werden, keine Gedanken oder Überzeugungen. Die USA gehen diesen Weg konsequent, dort darf man auch heute noch alles sagen. Die Schweiz und andere europäische Staaten gehen einen anderen Weg. Der Mainstream gibt vor, was man zu denken und fühlen hat. Alle Männer sind potentielle Gewalttäter, Frauen grundsätzlich Opfer. Jede Mutter soll arbeiten, der Mann Kinder betreuen. Kulturelle und christliche Traditionen sind doof, Multikulti und Queer sind das Alleinseligmachende. Du sollst möglichst vegan leben, nicht Auto fahren und keine Flugreisen unternehmen.

Die Grenze zwischen Toleranz und Akzeptanz verschwimmt zusehends, was eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellt, nämlich jene der Indoktrination. Die Forderung nach Akzeptanz geht über die blosse Duldung hinaus und verlangt eine positive Annahme oder Billigung dessen, was der Staat oder moralisierende Eliten für «richtig» oder «falsch» halten.

Akzeptanz erfordert eine Wertschätzung sämtlicher Ausprägungen menschlichen Daseins und sogar eine aktive Unterstützung allfälliger Unterschiede. Ein Beispiel ist die Aufforderung, nicht nur nicht rassistisch, sondern aktiv antirassistisch zu sein. Dies impliziert, dass es nicht ausreicht, kein Rassist zu sein; vielmehr wird von Einzelnen erwartet, sich aktiv gegen Rassismus einzusetzen und in manchen Fällen gar sich selbst aufgrund der weissen Hautfarbe herabzusetzen oder schuldig zu fühlen. Das Gleiche gilt im Zusammenhang mit Feminismus. Bei der angewandten Rhetorik bekommt «Mann» den Eindruck, dass er sich für Ungerechtigkeiten schuldig fühlen muss, welche andere Männer in vergangenen Zeiten begangen haben.

In ähnlicher Weise führt die Forderung nach Akzeptanz verschiedener sexueller Ausrichtungen dazu, dass in Bildungseinrichtungen, sogar im Kindergarten, Aktivitäten wie Auftritte von Dragqueens stattfinden. Wer das nicht gut findet, sondern «nur» toleriert, riskiert als queerfeindlich gebrandmarkt zu werden. Solche Tendenzen grenzen an Indoktrination, bestimmte Weltanschauungen aktiv zu fördern und andere auszumerzen.

Uniformierte Gedankenwelt

«Woke» Kreise versuchen, im Namen der angeblichen Toleranz und des kollektiven Wohls die Freiheiten Einzelner einzuschränken, was zu einer Atmosphäre des Misstrauens und der Angst führt. Wenn Menschen zögern, ihre Meinungen offen auszudrücken, aus Furcht vor Repression oder sozialer Ächtung, verliert die Gesellschaft ihre innovative Kraft. Die Folgen sind moralischer Einheitsbrei und gesellschaftlicher Stillstand sowie eine Kultur des Neids, des Hasses und der Humorlosigkeit.

Diese Entwicklung ist problematisch, denn sie führt zu einer Gesellschaft, in der nicht mehr die Freiheit des Denkens und Fühlens, sondern eine uniformierte Akzeptanz vorgegeben wird. Ich pflege zu sagen: Man muss nicht immer anständig denken oder fühlen, aber anständig handeln. Handlungen und nicht Gedanken oder Gefühle sollten die Grundlage für moralisches Verhalten in der Gesellschaft sein.

«Man muss nicht immer anständig denken oder fühlen, aber anständig handeln.»

Oder frei nach Voltaire: «Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür geben, dass du es sagen darfst.» Diese Worte illustrieren das Wesen der Toleranz – die Freiheit des Ausdrucks, auch bei unterschiedlichen Werthaltungen. Die Forderung nach Akzeptanz jedoch untergräbt diese Freiheit und führt zu einer uniformierten Gedankenwelt, die der Vielfalt und Kreativität einer Gesellschaft abträglich ist.

Die Vorstellung, dass individuelle Freiheiten dem höheren kollektiven Wohl geopfert werden müssen, spiegelt eine düstere Vision wider, die stark an George Orwells dystopischen Roman «1984» erinnert. In diesem Werk wird eine Gesellschaft porträtiert, in der «die Wahrheit» durch die Partei manipuliert und die Geschichte umgeschrieben wird, um die herrschende Ideologie zu stützen. Ein prägnantes Beispiel aus dem Buch ist der Slogan der Partei: «Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke.» Durch sprachliche Verzerrung und ideologische Umdeutung wird die Realität verkehrt, damit die Partei ihre Macht erhalten kann.

Die heutigen Parallelen zu Orwells Vision sind unübersehbar: Je mehr wir zulassen, dass die Freiheit der Einzelnen im Namen einer vorgegebenen kollektiven Moral eingeschränkt wird, desto näher kommen wir einer Gesellschaft, die sich in der Geiselhaft angeblicher «Wahrheiten» befindet. Daher ist es entscheidend, dass wir wachsam bleiben und die Grundwerte von Freiheit und Eigenverantwortung verteidigen, um eine Zukunft zu vermeiden, die George Orwells düsteren Visionen ähnelt.

«Die heutigen Parallelen zu Orwells Vision sind unübersehbar: Je mehr wir zulassen, dass die Freiheit der Einzelnen im Namen

einer vorgegebenen kollektiven Moral eingeschränkt wird, desto näher kommen wir einer Gesellschaft, die sich in der Geiselhaft angeblicher «Wahrheiten» befindet.»

Die Macht über den eigenen Geist

Es ist an uns, an uns selbst zu arbeiten, unsere emotionalen Reaktionen zu meistern und nicht anderen die Macht zu geben, uns zu «verletzen». Wie Marcus Aurelius es treffend formulierte: «Du hast Macht über deinen Geist – nicht über äussere Ereignisse. Erkenne dies, und du wirst Stärke finden.»

Es ist an der Zeit, die Weichen für eine Gesellschaft zu stellen, in der Freiheit und Verantwortung Hand in Hand gehen, eine Gesellschaft, in der wir durch unsere Entscheidungen und Handlungen, nicht durch unsere Emotionen oder die Meinungen anderer definiert werden. Wir sind die Architekten unserer eigenen Zukunft – es liegt an uns, eine Gesellschaft zu gestalten, deren Eckpfeiler Liberalismus, Toleranz, persönliche Verantwortung und Menschlichkeit sind.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!