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Gesichtsschreibung

Zum 100-Jahr-Jubiläum macht sich der Schweizer Baustoffkonzern Holcim zum Objekt der Kunst. Die Photographen Marco Grob, David Hiepler und Fritz Brunier destillieren aus den Gesichtern der Mitarbeiter Geschichten und erzeugen aus den Werkstätten klare Landschaften. Die Photographien sind in Bern zu sehen.

Gesichtsschreibung

Herr Frehner, Sie haben einen geschulten Blick für Ästhetik. Beginnen wir fundamental: Was macht eine Photographie zur Kunst?

Nun, dann lassen Sie mich fundamental antworten. Sie muss Wirklichkeit im Ausschnitt so zeigen, dass Grundsätzliches sichtbar wird. Nie wurden so viele Bilder produziert wie heute, Milliarden und Abermilliarden, mit einer Digicam oder einem Handy geschossen, irgendwo, irgendwann. Der gute Photograph aber schafft es, aus der gegebenen Ereignisflut ganz bestimmte Momente zu destillieren. Er hat es abgesehen auf den «moment décisif», wie ihn Henri Cartier-Bresson nannte. Wenn der Photograph die Wirklichkeit aus dem Ereignisfluss herauslöst, entstehen Aufnahmen, die über diesen Augenblick hinaus Gültigkeit haben. In der Auseinandersetzung mit diesen Bildwelten erschliesst sich der Betrachter seine Alltagswelt neu.

Schön gesagt. Aber Sie als Kurator und Museumsdirektor versehen Gegenstände mit dem Prädikat «Kunst», indem Sie sie ausstellen. Also entscheiden letztlich Sie, was Kunst ist und was nicht.

Nicht wirklich. Am Kunstdiskurs sind ganz unterschiedliche In­stanzen beteiligt, die Künstler, die Direktoren, die Kuratoren, der Kritiker, die Rezipienten. Um die Mechanismen zu verstehen, muss man vom Werk her denken. Wenn ein Werk realisiert ist, dann entwickelt es ein Eigenleben. Es muss sich bewähren, nicht nur heute, sondern ständig. Ich stelle zwar ein Werk im Museum aus, aber das heisst eben nur: ich stelle es zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Diskussion. Ein erweiterter Kreis von Kunstkritikern und Kunstliebhabern setzt sich dann mit ihm auseinander. Nehmen wir einmal an, die meisten von ihnen loben das Werk. Aber in zehn Jahren findet plötzlich jemand, die Mehrheit habe sich getäuscht, es sei kein gutes Werk. Also stehen das Werk und sein Prädikat «künstlerisch» von neuem zur Disposition. Und so geht das immer weiter.

Klingt kompliziert. Kunst ist nichts anderes als die Rezeption von Kunst?

Ich würde eher sagen: zur Kunst gehört die ständige Auseinandersetzung. Die Werke sollen uns permanent herausfordern, Denkprozesse auslösen. Das ist es, was die Kunst lebendig macht und uns Kunstmenschen fasziniert. Ein Kunstwerk, das für alle Ewigkeit schön, wahr und gut ist, wäre doch, mit Verlaub, eine langweilige Sache.

Was hat Sie persönlich an den Industriephotographien der Holcim so fasziniert, dass Sie sich entschieden haben, dieses Jubiläumsprojekt im Kunstmuseum auszustellen?

Das Projekt hat mich zuerst einmal auf einer elementaren, dokumentarischen Ebene gereizt. Einerseits haben wir die globalisierte Welt und können scheinbar überall hingehen, anderseits gibt es heikle Zonen, die uns verschlossen sind. Die Bilder von Marco Grob, David Hiepler und Fritz Brunier machen uns genau solche Orte zugänglich, Industriewerkplätze, die sonst gut gehütete Geheimnisse darstellen. Und dann haben die Bilder für mich auch einen starken künstlerischen Aspekt, der die zeitgenössische Photographie herausfordert: die Aufnahmen von Grob, Hiepler und Brunier schaffen durch ihre Überschärfe eine Hyperwirklichkeit, die ich faszinierend finde. Sie nehmen den kühlen Geist der neuen Sachlichkeit auf und verleihen ihm durch die Mittel der Verdichtung eine neue Magie des Präzisen.

So spricht der Kunsthistoriker. Der Laie findet die Aufnahmen – wie sollen wir sagen? – eingängig, gefällig. Man sieht schön porträtierte Menschen und die Orte, an denen sie arbeiten. Wo ist das Herausfordernde?

Gefälligkeit im Sinne von Verharmlosung oder Sentimentalität, das sehe ich nicht. Ebenso wenig findet eine gefühlsmässige Übereinstimmung zwischen Betrachter und Objekt statt. Die abgelichteten Menschen bewahren sich ihr Geheimnis, bleiben auf Distanz. Marco Grob hat die Gesichter der Arbeiter absolut genau ausgeleuchtet und vergegenwärtigt. Man sieht jedes Detail und also mehr, als wir mit einem Blick erfassen können, weil wir immer nur bestimmte Ausschnitte eines Gesichts fokussieren können. Das führt dazu, dass unsere bewährten Wahrnehmungsmuster in diesem Fall nicht mehr greifen. Alles ist gleich überscharf, gleich hyperpräsent, magisch. Diese Gesichter fordern den Betrachter heraus – so hat er Gesichter noch nie gesehen!

Sie waren ebenfalls bei einem Shooting von Marco Grob vor Ort. Wie genau ging er vor?

Er hielt sich nicht an objektive Kriterien. Er vertraute vielmehr seinem künstlerischen Blick, wartete bei Arbeitsbeginn beim Eingang auf die Leute und fragte einzelne, ob sie bereit seien, sich ablichten zu lassen. Sie begleiteten ihn in ein Büro, unterzeichneten eine Einverständniserklärung. Er stellte ihnen sachliche Fragen, gab ihnen sachte Anweisungen, hantierte mit seiner Freihandkamera und hielt sie in ständiger Bewegung. Das ganze Arrangement verlief besonnen und dauerte nur wenige Minuten. Erst im nachhinein wurde mir klar, was er damit bezweckte: er verfolgte eine Strategie der Geschwindigkeit, um die Leute zu überraschen und ihnen die Möglichkeit zu nehmen, sich hinter einer Pose zu verstecken. Marco Grob wollte das Individuum stark machen, seine Geschichte, seine Präsenz, sein Geheimnis.

Es sind kaum Angestellte mit Krawatten zu sehen. Reagiert die Geschäftsleitung da nicht etwas düpiert?

Durchaus, aber Marco Grob hatte sich von Holcim absolute Freiheit in der Auswahl der Menschen ausbedungen. Die Arbeiter waren für ihn interessanter, weil sie im Gegensatz zu öffentlichkeitsgeübten Managern kaum gewohnt sind, das Unternehmen zu repräsentieren. Da waren einige Geschäftsleitungsmitglieder bestimmt enttäuscht, aber so war das nun mal. Das Arrangement war eine Eins-zu-eins-Situation, hier der Photograph, da der Porträtierte. Man spürt die Reserviertheit der Arbeiter, die Distanz, und doch hat der Photograph sie so abgelichtet, dass sie etwas von sich preisgeben. Sie sind gezeichnet durch ihren Arbeitsprozess, ihre Lebenserfahrungen, sie sind vielleicht alkoholsüchtig, haben etwas zu verbergen, fühlen sich unsicher, geschmeichelt, zeigen ihren Stolz. Die existentielle Dimension des Menschseins, das ist es mitunter, was hier sinnlich erfahrbar wird.

Die Photographien der Arbeiter und Industriewerke sind eine Auftragsarbeit. Wie gross war die künstlerische Freiheit?

Maximal. Der Deal war klar definiert: die Photographen mussten die Sicherheitsstandards beachten, beispielsweise die Helm­pflicht, ansonsten waren sie im Rahmen des Projekts in der Wahl ihrer Sujets absolut frei. Auch konnten sie sich auf den Arealen jederzeit völlig frei bewegen; im Gegenzug kann Holcim sagen, dass sie zu ihrem 100-Jahr-Jubiläum ein künstlerisches Projekt unterstützt haben.

Wie sieht es mit der Freiheit des Kurators aus?

Wir agieren selbstverständlich ebenfalls völlig frei und stellen jene Werke aus, die uns überzeugen. Wäre diese Freiheit nicht gegeben, hätten wir uns auf das Projekt gar nie eingelassen.

Dennoch: es ist und bleibt eine Auftragsarbeit.

Klar. Aber was soll daran falsch sein? Wir haben da heute völlig verquere Vorstellungen über den Kunstbetrieb. Künstler leben nicht im luftleeren Raum und auch nicht unbedingt mit Hilfe staatlicher Subventionen, sondern fristen eine mitunter ökonomische Existenz wie die meisten von uns auch. Folglich arbeiten sie, wie wir, unter Druck und meist auch unter bestimmten Erwartungen. Kunst ist immer Auftragskunst gewesen – auch bei Leonardo da Vinci. Nur der Auftraggeber hat gewechselt. Bis zur Moderne waren es Fürsten oder Bischöfe, danach war es die Kunstgalerie bzw. der Kunstkäufer auf dem Kunstmarkt. Der Punkt ist nun, dass aus einem kommerziellen Auftrag etwas hervorgeht, das über den reinen Auftrag hinaus eine künstlerische Relevanz beansprucht – ein solches Werk hat das Potential, sich durchzusetzen. Und das sind die Werke, die uns interessieren.

Das Spannungsfeld von Kunst und Kommerz ist das eine, jenes zwischen Photographie und Werbung das andere. Wie begegnen Sie der aktuellen Kritik, wonach Sie einfach schönen Porträts von Mitarbeitern und Werken von Holcim höhere künstlerische Weihen verliehen haben?

Unter diesem Generalverdacht muss ich fortan wohl oder übel leben. Nein, im Ernst: jedes künstlerische Projekt steht in einem ökonomischen und sozialen Kontext. Wichtig ist, dass die künstlerische Freiheit gewährleistet ist – und dass Werke entstehen, die sich vom Kontext ihrer Genese emanzipieren. Was die Photographie im besonderen angeht, so hat sie eine besonders starke kommerzielle Komponente. Nehmen Sie Helmut Newton, der Aktbilder für den «Playboy» gemacht hat. Und irgendwann waren diese Bilder – Kunst. Sie haben sich eben emanzipiert. Oder nehmen Sie Andy Warhol, der von der Werbung kommt. Er hat neue Kunstwerke geschaffen, indem er die Strategien der Werbung für die Kunst fruchtbar machte. Seine Werke haben sich ebenfalls emanzipiert. In der Kunst ist vieles möglich. Erst mit der Zeit zeigt sich, was Kunst ist und was nicht. Insofern müssten wir uns in 20 Jahren wieder treffen, um über die Werke von Grob, Hiepler und Brunier zu reden.

Oder in 30, dann sieht ja vielleicht alles schon wieder anders aus.

Genau. Wir stellen das Projekt zur Diskussion, und nun schauen wir, wie es sich entwickelt.

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