Germaine de Staël liess ein Stück Leidenschaft in die
Festung der Aufklärung
Die Genferin war nicht nur eine Vorkämpferin für den Liberalismus, sondern entwickelte ihn massgeblich weiter, indem sie ihn mit der Romantik verband. Dadurch versöhnte sie den Liberalismus mit dem Konzept des Nationalstaats.
Es ist nicht so, dass Germaine de Staël, die Tochter des Genfer Bankiers und späteren französischen Finanzministers Jacques Necker, keinen festen Platz im Pantheon des europäischen Liberalismus hätte. Ihre Verbindungen zum Schriftsteller Benjamin Constant, ihre intellektuelle Ausstrahlung von ihrem Refugium in Coppet im heutigen Kanton Waadt aus und ihre Feindschaft zu Napoleon Bonaparte haben ihr einen guten Ruf unter den Liberalen eingebracht. Ihr Nachruhm beruht jedoch vor allem auf der Berühmtheit ihres Geistes, auf ihrer Hartnäckigkeit bei der Verteidigung des verehrten Namens ihres Vaters, auf ihrem Roman «Corinne» und möglicherweise auf ihrem Buch «De l’Allemagne».
Obwohl bekannt ist, dass Constants Werke seiner Geliebten viel verdanken, ist es schwierig, ihren Einfluss wirklich zu ermessen, da es an unwiderlegbaren Quellen mangelt. Mit der Veröffentlichung ihrer politischen Schriften im Jahr 2017 lässt sich die Bedeutung des Denkens von Germaine de Staël für den aufkommenden Liberalismus besser erfassen als allein durch Constant, Tocqueville, Say oder Bastiat.
Eine Tochter der Aufklärung
Germaine de Staël durchdrang, vielleicht mehr als die genannten herausragenden Denker, mit faszinierender Schärfe die Doppelnatur des Liberalismus, der sich an der Schwelle zum 19. Jahrhundert entwickelte. Obwohl sie sich in die Bewegung der Aufklärung einreihte, Condorcet bewunderte und den Kult der Vernunft besang, obwohl sie mit den Philosophen begierig auf das in Grossbritannien herrschende System schielte, begnügte sie sich nicht mit einer platten Wiederholung desselben. Vielmehr vermochte sie es in seiner Ambivalenz zu erfassen – einer Ambivalenz, die von einer Epoche der Widersprüche geprägt war, deren Gefahren, aber auch deren Fruchtbarkeit sie erkannte.
Als Tochter der Aufklärung bekräftigte sie die unveräusserlichen Rechte des Individuums und vor allem seine Fähigkeit, sich selbst zu verwirklichen und zu entwickeln, angetrieben von der Freiheit, die es nun für sich beanspruchte. Inspiriert von Condorcet, den sie bewunderte, erkannte sie das Individuum an, das fähig ist, sich über sein von der göttlichen Vorsehung begrenztes Umfeld hinaus zu entwickeln. Constant sollte die Gedanken seiner Freundin weiterführen.
Auch Germaine de Staël, die von der konstitutionellen Monarchie fasziniert war, legte in ihren um 1800 verfassten «Considérations actuelles qui peuvent terminer la révolution et des principes qui doivent fonder la république» die Organisationsprinzipien dar, auf denen die Liberalen aufbauten. Als Feindin erblicher Privilegien, die jede Rechtsgleichheit untergraben, erkannte sie, dass volksnahe republikanische Institutionen ihre Stärke nur beweisen könnten, wenn sie «einige Ideen der Aristokratie» übernähmen. Damit nahm sie Tocquevilles Überlegungen vorweg.
Ein repräsentatives System kann nur funktionieren, wenn es das von Montesquieu theoretisierte Gleichgewicht der Kräfte akzeptiert: «Das Gleichgewicht der Kräfte ist das Ergebnis von Kombinationen, die sie dazu bringen, sich zu einigen, und nur die öffentliche Meinung in ihrer ganzen Kraft kann in einer freien Regierung eine der beiden Kräfte zum Nachgeben zwingen, wenn sie unglücklicherweise voneinander abweichen.» De Staël, eine Gegnerin der Sklaverei, erscheint somit als treue Kämpferin für den aufkommenden Liberalismus, der die Freiheit in einer subtilen Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre kultiviert.
Der Aufstieg des Gefühls
Die gebürtige Genferin fügte dem Liberalismus jedoch eine Dimension hinzu, die von ihren Kollegen nicht immer wahrgenommen wurde: die Berücksichtigung der Macht der romantischen Bewegung. Diese forderte seit den 1770er-Jahren im Gefolge des Sturm und Drang die Hegemonie der Vernunft, wie sie die Aufklärung vertrat, heraus. Gegen den Rationalismus als alleinigen Massstab des menschlichen Lebens postuliert die Romantik eine Vision des Individuums, das in ein grosses Ganzes eingebettet ist, in dem sich wahre Freiheit entfaltet, die der von einem allzu engen rationalen Korsett befreiten Subjektivität gerecht wird.
Dieses grosse Ganze spiegelt sich in einer besonderen Verbundenheit mit der Natur wider, mit der das zu seiner Authentizität zurückgekehrte Individuum in einer wiederhergestellten Einheit kommuniziert, die die Vernunft in ihrem materialistischen und eroberungssüchtigen Individualismus zerrissen hätte. Der deutsche Maler Caspar David Friedrich, dessen 250. Geburtstag wir in diesem Jahr begehen, hat die mystische Verbundenheit des Menschen mit einer Natur, in der die individuellen Existenzen verschmelzen, auf eindringliche Weise zum Ausdruck gebracht. Germaine de Staël kannte die deutsche Literatur, die zusammen mit der Malerei als Träger der Romantik fungierte. Die Romantik kämpfte gegen den Rationalismus, der die Seele austrocknete, indem er ihr sein Gesetz aufzwang, auf Kosten einer offeneren Annäherung an die Menschlichkeit.
In Luzern schlug der Arzt und Philosoph Ignaz Paul Vital Troxler, einer der Begründer des schweizerischen Liberalismus und ab 1832 dessen radikaler Abspaltung, eine Variante vor. Er scheint de Staël nicht gekannt zu haben. Sie kannte jedoch deutsche Schriftsteller, vor allem durch ihren glühenden Verehrer und Lehrer ihrer Kinder, August Wilhelm Schlegel, einen regelmässigen Gast in Coppet. Er war Mitbegründer der Jenaer Schule der Romantik, die neben den Dichtern Tieck und Novalis eines der Epizentren dieser Bewegung war. Troxler studierte übrigens an der Universität Jena, unter anderem bei dem späteren grossen Theoretiker einer geradezu pantheistischen Romantik, dem Philosophen Schelling.
Schlegel begleitete de Staël 1802 und 1803 auf ihren beiden Reisen nach Deutschland und zeigte ihr ein Land in einer philosophischen Emulsion, das dabei war, eine nationale Identität aufzubauen. Er war auch der Bruder von Friedrich Schlegel, dem Gründer der Zeitschrift «Athaeneum», des Organs der philosophischen Romantik.
De Staël war also von der deutschen Kultur durchdrungen, als sie in die Schweiz zurückkehrte und sich an ihr Werk «De l’Allemagne» machte, das Napoleon nach seiner Veröffentlichung 1810 verbieten sollte. Nicht, dass sie den Reizen Italiens entsagt hätte, das sie auch mit Schlegel besucht hatte und das sie zu ihrer «Corinne» inspirierte, die 1804 ein grosser Publikumserfolg wurde. Aber Deutschland erschien ihr als Gegenmodell zum autoritären, nach Ruhm und Macht strebenden französischen Kaiserreich.
Das Bewusstsein, dass die individuelle Freiheit sich nicht darauf beschränken kann, das Diktat der Vernunft zu reproduzieren, um sich zu entfalten, schärfte sich und führte zu zwei Wegen: einem rationalen und einem romantischen. Beide Wege vereinigten sich schliesslich in einem Verständnis des Individuums, das seine Freiheit nur unter bestimmten Bedingungen geniessen kann: Durch Germaine de Staël trafen sich das rationale und das romantische Ich.
Frei in der Nation
Die gläubige Protestantin de Staël gab der Religion wieder einen zentralen Platz in der Konstruktion des Individuums. Religiöse Toleranz müsse total sein. Anders als Constant, der das religiöse Gefühl in die Privatsphäre verbannen wollte, aber auch anders als Tocqueville, der von der Religion nur einen strukturierenden Rahmen für die Gesellschaft erwartete, wollte de Staël sie weder abschaffen noch missbräuchlich relativieren. Gewiss, meinte sie, «ein abergläubischer Geist unterstützt manchmal die verabscheuungswürdigsten Institutionen», aber man müsse sie korrigieren, nicht verdrängen.
«Die gläubige Protestantin de Staël gab der Religion wieder einen
zentralen Platz in der Konstruktion des Individuums.»
So öffnete sie in der Festung der Aufklärung eine Tür für das Gefühl und die Leidenschaft. Sie unterwanderte den rein rationalistischen Liberalismus, indem sie ihm ein Element einflösste, das er zu verachten pflegte. Religion ist eine Leidenschaft, und es wäre ein Fehler, sie aus der politischen Landschaft zu verbannen. Aber de Staël ging noch weiter. Sie liess sich von der deutschen Philosophie inspirieren, die vom Historismus des Goethe-Freundes Johann Gottfried Herder geprägt war, einem der Pioniere des aufkommenden nationalen Denkens im deutschsprachigen Raum: Sie untermauerte den Liberalismus mit einem nationalen Denken, einer anderen Form des grossen romantischen Ganzen.
Wie Sieyès sprach sie zwar von der «Nation» im Sinne von «Volk» als neuem Souverän und Nachfolger des Königs. Aber sie beliess es nicht dabei. Sie bekräftigte dies laut und deutlich im Schlusswort ihrer «Des circonstances actuelles»: «La première base d’une République, c’est le patriotisme national» (Die erste Grundlage einer Republik ist der nationale Patriotismus).
Der Historiker Michel Winock hat in seinem Vorwort zur 2017 erschienenen Ausgabe der politischen Schriften von Germaine de Staël mit dem treffenden Titel «Madame de Staël: Cœur et Esprit» diesen entscheidenden Aspekt des Denkens von de Staël gut verstanden. Natürlich, so schreibt er, «ist die Verteidigung der nationalen Idee für sie eine andere Art, ihre ‹Liebe zur Freiheit› zu zeigen, die der politische Kompass ihres ganzen Lebens ist».
Tatsächlich bildet die Verteidigung der nationalen Idee, die de Staël zu einem der Grundpfeiler ihres Liberalismus gemacht hat, den existenziellen Rahmen dieses Liberalismus, insofern als die Freiheit des Individuums nur in der Freiheit des menschlichen Ganzen, in dem sie sich ausdrücken soll, ihr Ventil findet. Mit anderen Worten: Die Freiheit des Individuums ist nur unter der Bedingung wirklich, dass das Kollektiv, in dem es sich ausdrückt, ebenfalls frei ist. Und dieses Kollektiv kann nur die Nation sein.
«Die Freiheit des Individuums ist nur unter der Bedingung wirklich, dass das Kollektiv, in dem es sich ausdrückt, ebenfalls frei ist. Und dieses
Kollektiv kann nur die Nation sein.»
Germaine de Staël stellt eine Verbindung her zwischen der Freiheit des Individuums und der Freiheit des Kollektivs, in dem es lebt. Sie beschreibt das Prinzip des Nationalstaates, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr durchsetzt, vor allem im Übergang vom Liberalismus zur Republik. In der Republik konnte sich der Liberalismus voll entfalten.
Ab den 1890er-Jahren wurde der Nationalstaat in vielen Ländern zu einer Ersatzreligion. Bedeutet das, dass Germaine de Staël und durch sie der Liberalismus die Umrisse des späteren Nationalismus gezeichnet haben?
Pas si vite: Der Liberalismus war ganz einfach die erste Idee, die das Prinzip anerkannte, dass jede politische Philosophie einen territorialen Rahmen braucht, um wirksam zu sein, und die gleichzeitig die Möglichkeit schuf, sie zu einem «offenen», später demokratischen Regime zu entwickeln, kurz: sie davor zu bewahren, zum Selbstzweck zu degenerieren. Dass dieses Ziel nicht vollständig erreicht wurde, hatte andere Gründe, die de Staël nichts angingen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in «Le Regard Libre». Aus dem Französischen übersetzt von Lukas Leuzinger.