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Gerichtsluder

Über den Beitrag zweier Gerichtsreporterinnen zum Zerfall journalistischer Sitten

Gerichtsluder

Der Boulevardjournalismus hat seines Amtes gewaltet. Daran ist nichts auszusetzen, denn dieser Versuchung konnte er nicht widerstehen: ein Wettermoderator von medialer Prominenz mit dem leicht verlotterten Charme eines potentiellen Schwiegersohns wird der schweren Vergewaltigung bezichtigt. Dazu die Enthüllung, dass es ihm in seinem Privatleben weniger um Tief-, dafür mehr um Triebdruckgebiete ging, dann ein ganzer Harem von Geliebten, die ihre fünf Minuten Berühmtheit versilbern konnten, indem sie gegen Bezahlung die Türe zu ihren Schlafzimmern weit öffneten. Dort sollen sich zudem Sexualpraktiken abgespielt haben, die Voyeuren den sanften Kitzel des Erschauerns verschafften. Das alles wurde dargeboten im klassischen Boulevardgestus: so genau wollen wir es gar nicht wissen, aber wir erfüllen doch nur unsere Berichterstatterpflicht. Aus den Tiefebenen des Journalismus also nichts Neues seit dem genialischen Einfall, unter das Photo einer grauslich verstümmelten Leiche zu schreiben: solche Bilder wollen wir nie mehr sehen.

Dazu als Trieb- und Treibstoff der Showdown vor Gericht. Animationsmaterial fürs Publikum, das sich als öffentliche Gewalt zum Richter aufschwingen will und weitgehend frei von juristischer Sach- oder Fachkenntnis dank Internet des Volkes Stimme artikulieren darf. Auch daran ist nichts auszusetzen, denn der mündige Konsument ist ja nicht verpflichtet, sich diesen gesamten Unsinn zwecks Zeitvernichtung anzutun. Im Kern ging es darum, dass ein Gericht vor der schwierigen Aufgabe stand, ein mögliches Beziehungsdelikt zu beurteilen, wozu ihm nur konträre Aussagen und interpretierbare Indizien zur Verfügung standen. Ob es dabei zu einem richtigen oder falschen Urteil kam, ist ebenfalls unerheblich, denn Gerechtigkeit ist ja nur ein fernes Ziel, bei dem das Bemühen ums Erreichen zählt.

Auch dass sowohl der Angeklagte wie die Anzeigeerstatterin beschädigt aus diesem Verfahren herausgekommen sind, ist ein Kollateralschaden, den man zu Recht kritisieren, aber nicht vermeiden kann. Denn die Alternative wäre nur eine Geheimjustiz unter vollständigem Ausschluss der Öffentlichkeit. Der Richter brachte dieses Unbehagen auf den Punkt: «Wir entlassen den Angeklagten und die Nebenklägerin mit einem möglicherweise nie mehr aus der Welt zu schaffenden Verdacht – ihn als potentiellen Vergewaltiger, sie als potentielle, rachsüchtige Lügnerin.»

Der eigentliche Skandal
Boulevardjournalismus, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gericht haben ihres Amtes gewaltet, und somit könnte dieser Prozess endgültig ad acta gelegt werden – wenn sich in seinem Verlauf nicht ein Skandal entwickelt hätte, der in seinen Auswirkungen weit über diesen Einzelfall hinausweist. Nämlich eine Verluderung der anspruchsvollen und seriösen Gerichtsberichterstattung. Dieses Metier orientiert sich im deutschen Sprachraum an Galionsfiguren wie Sling (Paul Schlesinger), Egon Erwin Kisch, Peggy Parnass oder Gerhard Mauz. Sie alle sind parteiisch, berührt, meinungsstark, wollten verstehen, aufklären und auch mal enthüllen. Aber sie wussten, dass sie ausschliesslich eines sind: Berichterstatter. Keine Besserwisser, Ankläger, Verteidiger oder gar Richter.

Ein schwerer Sündenfall der Gerichtsberichterstattung liegt schon einige Zeit zurück. Nach einem Mordfall im Jahre 1985 unternahm es ein Schweizer Journalist, mit unermüdlichem Eifer einen verurteilten Mörder freizuschreiben und gar die Eltern des Opfers der Täterschaft zu bezichtigen. Er dengelte beim «Mord in Kehrsatz» so lange auf einem Glied der Indizienkette, einem «Toast Hawaii», herum, bis es zerbrach. Gisela Friedrichsen, die Nachfolgerin von Gerhard Mauz als Gerichtsreporterin des «Spiegels», kritisierte damals, dass die Unterstützer des Mörders als «verschworene Gemeinschaft» Druck auf das Verfahren ausgeübt hätten, das schliesslich in einem Freispruch endete. Geradezu hellseherisch schrieb Friedrichsen über das Agieren des Journalisten: «Er hat die Grenzen, die auch ‹engagiertem› Journalismus gesetzt sind, überschritten. Er hat einem Menschen die Freiheit erkämpft, indem er zwei andere vernichtete.»

In Mannheim ging es zwar nicht um Mord und Totschlag, aber auch hier wurden die Grenzen des «engagierten Journalismus» weit überschritten. Und zwar von ebendieser Gisela Friedrichsen und ihrer «Zeit»-Kollegin Sabine Rückert. Denn heutzutage will ein journalistischer Bote nicht lediglich die Botschaft überbringen, sondern im Scheinwerferlicht stehen und sich selbst zur Nachricht machen, vom Reporter zum Agitator werden.

In ihrem Beitrag «Schuldig auf Verdacht» kritisierte Rückert den Anwalt des Angeklagten: «Ein Verteidiger, der für seinen Mandanten nicht zu den Waffen greift, läuft Gefahr, ungewollt die unausgesprochene fatale Botschaft zu vermitteln, der Vorwurf träfe zu.» Diese Breitseite in einem «Zeit»-Dossier, einer Bastion des gehobenen deutschen Qualitätsjournalismus, könnte man zur Not noch als Recht auf freie Meinungsäusserung durchgehen lassen, wenn sie nicht eine Vorgeschichte hätte. Zuvor hatte sich Rückert nämlich per E-Mail bei ebendiesem Anwalt gemeldet: «Wir können nur zusammenkommen, wenn Ihre Verteidigung in dem angedeuteten Sinne professionalisiert wird, dazu sollten Sie sich überlegen, einen Kollegen einzubinden, der Verfahren dieser Art auch gewachsen ist. Wenn Sie mein Buch gelesen haben, wissen Sie, wen ich in einem solchen Falle wählen würde.»

Eine Journalistin des Qualitätsorgans «Zeit», die in Zusammenarbeit mit einem sogenannten Staranwalt schon Bücher über dessen grossartiges Wirken geschrieben hat, legt dem Verteidiger des Angeklagten den Beizug ihres Spezis nahe und führt in derselben E-Mail auch gleich an einem Beispiel aus der Vergangenheit vor, wie sie sich eine solche Kumpanei zwischen «Zeit» und Verteidigung vorstellt: «Am Tage des Erscheinens der ZEIT lag den Richtern der Wiederaufnahmeantrag Ihres Kollegen vor.» Als der Anwalt auf dieses unsittliche Angebot nicht einging, feuerte Rückert ein ganzes «Zeit»-Dossier gegen ihn ab. Das führte dann nicht zur Entlassung der Journalistin, sondern des Verteidigers, der durch den empfohlenen Krawallanwalt ersetzt wurde.

Gisela Friedrichsen schwang sich zur Richterin über das Gerichtsverfahren auf und fällte ein Urteil nach dem anderen. Sie warf im «Spiegel» und in Talkshows der Staatsanwaltschaft ein «langes Sündenregister» vor, sie «verdreht und unterschlägt Fakten», dem «befangenen und in seiner Befangenheit gefangenen Gericht», es führe «ein Tribunal gegen den Angeklagten», sei dabei «völlig schmerzfrei», oder in einem Satz: «Ich fasse es nicht, wie man da einen Menschen verurteilen will.» Und was für einen Menschen: einen «Luftikus», dessen Fall belege, «dass von einem Prominentenbonus schon längst nicht mehr gesprochen werden darf, eher von einem Malus». Dieser Nachteil äussere sich in einer «massiven Vorverurteilung», natürlich vor allem in gewissen Medien, die das «Rachemotiv» der Anzeigeerstatterin nicht sehen wollten. Gut, dass der arme Wetterfrosch dem gleichen «Spiegel» ein Exklusivinterview geben konnte, in «dessen Verlauf er mehrfach in Tränen ausbrach», wie uns eine Hausmitteilung in bester Boulevardmanier wissen lässt.

Die eigentlichen Schuldigen
Der Angeklagte wurde freigesprochen, aber es gibt Schuldige, denen mit juristischen Mitteln nicht beizukommen ist: alle Journalisten, die sich, ob aus Dummheit, Unfähigkeit, Eitelkeit oder mit Absicht, sei dahingestellt, instrumentalisieren liessen. Als selbstherrliche Richter in fremder Sache oder zur Mehrung der eigenen Prominenz. Nicht alle gehen so weit wie Rückert: statt Fakten beschreiben Fakten schaffen, statt Beobachtung Mitwirkung – öffentlicher Journalismus ergänzt durch das Wirken hinter den Kulissen. Die Gerichtsberichterstatterin wird zum Akteur in eigener Sache, eine ungeheuerliche und bislang ungeahndete Verluderung der journalistischen Sitten.

Boulevardjournalismus muss zuspitzen, sich aufregen, mit dem feinen Sensorium einer Wetterfahne die Lufthoheit über den Stammtischen behalten, Vorurteile bedienen, Kompliziertes zu Banalem entstellen, Gemüt und Seele der Leserschaft massieren. Man mag das als verwerflich oder gefährlich empfinden, gar die Zeitläufte beklagen, in denen solche Organe Millionenauflagen haben. Aber wer keine Büchsenravioli mag, dem ist es freigestellt, zu Kaviar zu greifen. Im Journalismus schauen normalerweise Mitarbeiter von Qualitätszeitschriften wie «Spiegel» oder «Zeit» auf das Treiben ihrer Kollegen von der Abteilung «Busen, Blut und Bomben verkaufen» mit leicht blasiertem Amüsement hinab. Echauffieren sich über Checkbuchjournalismus, Parteilichkeit und das Wühlen in der Intimsphäre von Mitmenschen.

Inzwischen sind zumindest diese beiden Gerichtsberichterstatterinnen aber dem süssen Gift der eigenen Berühmtheit erlegen. Statt über Ereignisse zu berichten, machen sie sich selbst zum Ereignis, zelebrieren sich in unerträglicher Arroganz in Talkshows oder Dokumentarfilmen, wo mangels Auftritten der direkt Beteiligten Journalismus zur reinen Hülle ohne Inhalt degeneriert: Journalisten interviewen Journalisten, der Berichterstatter wird wichtiger als sein Bericht, das Ereignis selbst verkommt zur Nebensache. Denn wohlgemerkt waren die beiden Damen, wie die Öffentlichkeit, von weiten Teilen der Verhandlung ausgeschlossen und sondern ihre Urteile im luftleeren Raum ab. Wer mag da noch die Nase über das Verlangen einiger Gespielinnen des Wettermoderators rümpfen, ihren Moment des unverdienten Ruhms zu geniessen?

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