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Gerade in einer Pandemie ist Eigenverantwortung unabdingbar
Konstantin Beck, zvg.

Gerade in einer Pandemie ist Eigenverantwortung unabdingbar

Wer es während der Coronakrise wagte, von Eigenverantwortung zu sprechen, sah sich schon bald der Gruppe unbelehrbarer «Covidioten» zugeordnet. Dabei minimiert sie auch in Ausnahmesituationen Schadenrisiko und -höhe.

 

Seit zwei Jahren ist Abkanzeln der Eigenverantwortung eine Art Trendsport auf Twitter: «…ich denke, das Projekt Eigenverantwortung ist gescheitert», heisst es dann etwa. «Covid-Todesfälle übertreffen Schweden und USA. Die Strategie der Eigenverantwortung ist offenbar für (zu) viele tödlich.» Oder «in einer Pandemie» könne «die Eigenverantwortung per Definition nicht funktionieren», um nur drei zu nennen.1 Das deutsche Webprojekt «Floskelwolke» ernannte «Eigenverantwortung» gar zur Floskel des Jahres 2021.2

Können wir für ein Prinzip eintreten, das per Definition versagt? Die Antwort vorweg: Ohne Eigenverantwortung funktioniert kaum etwas. Sogar für eine perfekt informierte Behörde, die nur richtige Entscheide trifft, ist eigenverantwortliches Handeln der Bevölkerung das unerlässliche Schmiermittel für eine gelingende Pandemiepolitik.

Schwarmintelligenz kontra Diktat

Die meisten Kritiker der Eigenverantwortung gehen unausgesprochen davon aus, dass die Anweisungen der Behörden richtig sind oder wenigstens annähernd perfekt – eine Tatsache, an der nicht zu rütteln sei. Einzig verbohrte Egoisten würden das nicht einsehen wollen. Wirklichkeitsnäher dürfte jedoch sein, dass sich sowohl Individuen als auch Behörden irren können. Alle entscheiden nach bestem Wissen und Gewissen, aber niemand vermag Fehlentscheide vollkommen auszuschliessen. Auch Wissenschafter irren sich zuweilen – oder waren unsere Spitäler im Februar 2022 tatsächlich an der Kapazitätsgrenze, wie das die Task-Force prognostiziert hatte?

Auch ist es nicht so, dass sich viele Leute unsolidarisch oder bösartig verhalten. Zumindest entspricht das nicht der empirischen Forschung zum Sozialverhalten. Natürlich gibt es irrationale und bösartige Menschen. Wären es aber viele, könnte etwa die direkte Demokratie gar nicht funktionieren. Und ob man notorische Querulanten mittels Strafandrohung auf Kurs bringen kann, ist auch fraglich.

In der Regel entwickelt die Gesellschaft gewisse Strategien – eine Art «Herdenimmunität» – gegen Asoziale, was deren Protest ins Leere laufen lässt. So können Personen, die überhaupt keine Pandemiemassnahme beachten, sozial isoliert werden, was für diese unangenehm ist und den Schaden ihres Verhaltens minimiert. Ein Kinobetreiber kann beispielsweise einer unaufhörlich hustenden Person den Zugang zur Vorführung verweigern. Dafür braucht er kein Notrecht, sein Hausrecht genügt.

Zurück zum Problem des Irrtums: Auch wohlmeinende Individuen können sich irren, was Kosten zur Folge hat. Beschränken sich die Kosten auf die Entscheider selbst, dann motiviert dies zur Suche nach dem richtigen Entscheid, um schwere Schädigungen zu vermeiden. Mit zunehmender Dauer werden einige merken, dass sie sich irren, so dass der Anteil richtiger Entscheide kontinuierlich ansteigt. Das ist Schwarmintelligenz.

Das moralische Problem entsteht dann, wenn falsches Verhalten der einen zu Krankheit und Tod bei anderen führt. Ökonomen sprechen in diesen Fällen von negativen Externalitäten. Allein das Vorliegen von Externalitäten genügt allerdings nicht, um die Entscheidungskompetenz zwingend einer zentralen Pandemiebehörde zu übergeben. Warum? Auch bei Externalitäten kann die Schwarmintelligenz dem Entscheid der Behörde überlegen sein und zu besseren Entscheidungen führen – vorausgesetzt, dass Individuen im Schwarm schneller aus Fehlentscheiden lernen als die zentrale Behörde.

Klumpenrisiko der zentralen Entscheidung

Machen wir ein Gedankenexperiment. Eine Bevölkerung muss sich einer Virusattacke stellen und kann die richtigen oder falschen Massnahmen treffen. Wählt sie die falschen, so werden die Vulnerablen innerhalb dieser Bevölkerung am Virus sterben, die Entscheidung für die richtigen Massnahmen hält sie hingegen am Leben. Wir nehmen an, dass am Anfang sowohl der Schwarm wie auch die zentrale Behörde eine Irrtumswahrscheinlichkeit von 50 Prozent aufweisen.

Die Frage ist: Soll die Behörde die Massnahmen zwingend vorgeben, oder soll die Bevölkerung eigenverantwortlich entscheiden? Sogar wenn der Schwarm nicht dazulernen kann, weil sich zum Beispiel die Infektionen rasend schnell ausbreiten, bleibt eine zentral entscheidende Behörde ein grosses Risiko. Liegt die Behörde richtig, überleben alle Vulnerablen. Liegt die Behörde falsch, sterben im schlimmsten Fall alle.

Erkennt die Bevölkerung den Fehler der Behörde, dann kann sie sich nur durch gesetzwidriges Verhalten vor den fatalen Folgen der behördlichen Vorgabe schützen. Sind die Menschen autoritätsgläubig oder sind die Strafen drakonisch, werden das nur wenige tun.

Wie schneidet nun eigenverantwortliches Entscheiden ab? Auch die einzelnen Individuen irren sich annahmegemäss zu 50 Prozent. Das hat im schlimmsten Fall den Tod der Hälfte der Vulnerablen zur Folge. Je nachdem, wie rasch der Schwarm dazulernt, sterben jedoch weniger als 50 Prozent.

«Würden sich alle Schweizer wie

Deutschschweizer verhalten,

wären möglicherweise 1300 Todesfälle

weniger zu beklagen.»

Natürlich geht es dem Kollektiv am besten, wenn die Behörde richtig entscheidet und damit alle Vulnerablen rettet. Das tritt aber nur mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit ein. Zusammengefasst ergibt sich das folgende Bild: Ist die Bevölkerung lernfähig, aber auch folgsam, so sterben im Fall des Behördenentscheids im Durchschnitt die Hälfte, im schlimmsten Fall alle. Bei eigenverantwortlichem Entscheiden sterben im Durchschnitt weniger als die Hälfte, im schlimmsten Fall die Hälfte, aber nie alle.

Ja sogar wenn die Behörde objektiv besser entscheidet als die Individuen, die Schwarmintelligenz aber zu einer raschen Entscheidungskorrektur führt, kann individuelles Entscheiden besser sein. Die produktivere Alternative zum verbindlichen Dekret ist darum die behördliche Empfehlung. Empfehlungen können die individuellen Entscheide zum Guten beeinflussen. Sie lassen den Individuen aber die Möglichkeit, erkennbare Fehlentwicklungen der Behörde auf individueller Ebene zu korrigieren.

Und was tat die Schweiz?

Eine ganze Reihe konkreter Beispiele unterstreicht die Bedeutung der Entscheidungsfreiheit:

  • Vielerorts gingen die Ansteckungen im März 2020 bereits vor dem Lockdown zurück, was beweist, dass das individuelle, eigenverantwortliche Präventionsverhalten ausreichend gewesen wäre, um die erste Welle zu brechen.3
  • Der Bundesrat wählte sehr oft das Mittel der Empfehlung. So ging beispielsweise die Isolierung der Senioren in Alters- und Pflegeheimen lediglich auf ein BAG-Informationsschreiben und nicht auf eine verbindliche Verordnung zurück.4
  • Während der Bundesrat den Spitälern in der ersten Welle die Durchführung von nicht dringlichen Behandlungen untersagte, verzichtete er in der zweiten, viel heftigeren Welle auf dieses Verbot. Die Spitäler nutzten die dadurch gewonnene Eigenverantwortung, um ihre Intensivstationen und ihre Operationssäle erfolgreich durch die Pandemie zu steuern.5
  • Der Eigeninitiative entsprang das Basler Dreidrittelmodell für Geschäftsliegenschaften. Dabei mussten Mieter bei einer entsprechenden Einigung mit dem Vermieter nur ein Drittel ihres Mietzinses zahlen. Ein weiteres Drittel übernahm der Kanton, während die Vermieter ihrerseits auf ein Drittel der Mieteinnahmen verzichteten. Der Kanton Zürich wählte mit seiner unbürokratischen Existenzsicherung einen eigenständigen Ansatz zur Unterstützung von Kulturschaffenden.6
  • Es fällt auf, dass im Jahr 2020, also vor Einführung der Impfung, jene Regionen der Schweiz, die sich seit Jahren durch mehr Eigenverantwortung bei gesundheitlichen Fragen auszeichneten, auch weniger Covid-Tote bei den Senioren aufzuweisen hatten. Würden sich alle Schweizer wie Deutschschweizer verhalten, wären möglicherweise 1300 Todesfälle weniger zu beklagen. Denn alle deutschsprachigen Kantone (ausser St. Gallen, Thurgau und Schwyz) wiesen signifikant weniger Covid-19-Todesfälle auf als statistisch erwartet.7 In der lateinischen Schweiz (mit Ausnahme des Kantons Jura) war die Covid-19-Sterblichkeit hingegen überdurchschnittlich. Weil die Massnahmen des Bundes schweizweit Gültigkeit hatten, können diese Unterschiede nicht mit unterschiedlichen Massnahmen erklärt werden. Auch Unterschiede in der Bevölkerungsdichte oder im Gesundheitszustand versagen ihren Dienst. Es ist hingegen seit Jahren bekannt, dass die französische Schweiz bei gleichen Symptomen mehr schulmedizinische Behandlung nachfragt und weniger bereit ist, Selbstverantwortung zu übernehmen, beispielsweise durch freiwillige Einschränkung ihrer Arztwahl.8
  • Wer an Covid-19 erkrankt war, aber noch nicht das Spital aufsuchen musste, konnte sich einzig in den sozialen Medien erkundigen, mit welchen Mitteln ein Spitaleintritt möglicherweise zu vermeiden wäre. Während sich die Mainstream-Medien oder die Homepage des BAG dazu bestenfalls ausschwiegen, half hier das Engagement zahlreicher Internetnutzer.
  • Während der Bund nie den Eindruck machte, dass er aufgrund systematisch erhobener Daten einen evidenzbasierten Weg einschlagen wollte – Bundesrat Berset sprach während Monaten vom Blindflug – , tat genau das der Kanton Graubünden eigenverantwortlich und konnte damit dem Bundesrat, konträr zur Task-Force-Empfehlung, die Grundlage für den Aufhebungsentscheid im Frühling 2022 liefern.

Doppelter Fehlentscheid der Behörde

Mit der Zertifikatspflicht ab September 2021 gingen die Wogen im Streit um die Coronamassnahmen erst recht hoch. Der Bundesrat wollte zwei externe Effekte eindämmen: die Übertragung des Virus und die Überlastung der Spitäler. Die Übertragungen konnten jedoch durch die Impfung gar nicht gestoppt werden. Die Überlastung der Spitäler, wäre sie denn überhaupt je eingetreten, wäre kein externer Effekt gewesen, sondern ein Mangel an staatlich bereitgestellter Kapazität, also ein betriebswirtschaftliches Versagen.

Stellen Sie sich vor, die Betreiber des Gotthardtunnels würden eines Tages dessen Schliessung verkünden, weil sie nicht in der Lage seien, genügend Personal für den Betrieb zu rekrutieren. Die Folge wäre nicht die Schliessung des Tunnels, sondern die Entlassung der Betreiber. Im Fall von Intensivstationen kam jedoch niemand auf die Idee, die Betreiber zur Verantwortung zu ziehen. Das unflexible Verhalten der Spitalbranche, weitab von der gesellschaftlichen Herausforderung, hätte nie die Grundlage für eine Impfkampagne mit einem notfallmässig zugelassenen Wirkstoff sein dürfen.

Allerdings verhinderten die unkritischen Massnahmenbefürworter gezielt, dass kompetente Stimmen, die vor der Impfung junger Erwachsener warnten, gehört wurden. Heute ist nachweisbar, dass das Todesfallrisiko für junge Geimpfte grösser war als für Ungeimpfte gleichen Alters – von nichttödlichen Nebenwirkungen gar nicht zu sprechen. Es ist zudem auch nicht besonders sinnvoll, sämtliche 540 000 Schweizer Männer zwischen 20 und 29 zu impfen, um damit nicht einmal einen einzigen Mann, sondern statistisch lediglich ¼ Mann, vor einem tödlichen Ausgang zu schützen.9

Wer hat sich zu verantworten?

Die Pandemiepolitik der Schweiz wird heute oft als vergleichsweise erfolgreich dargestellt. Das soll hier nicht abschliessend kommentiert werden. Es ist allerdings klar, dass nur darum von einem gewissen Erfolg gesprochen werden kann, weil die Schweiz immer wieder auf Eigenverantwortung gesetzt hat. Im Rückblick sind es nun nicht die zahlreichen eigenverantwortlich entscheidenden Individuen, die sich hinterfragen müssen, obwohl deren Entscheidungen oft als dumm und falsch hingestellt worden sind, beispielsweise im Fall der sogenannten Impfverweigerer. Im Gegenteil, es sind die Behörden, welche mit ihren Vorschriften die Eigenverantwortung mehr als nötig einschränkten und so zu vermeidbarem Leid geführt haben: Sie stehen heute in der Pflicht, sich zu rechtfertigen.

  1. Twitter-Zitate von Esther-Mirjam de Boer (18.11.2020), Astrid nicht mild und Peter Mauderli (7.12.2021).

  2. http://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/unwort-des-jahres-das-sind-deutschlands-woerter-und-floskeln-des-jahres-2021/27966982.html

  3. Konstantin Beck und Werner Widmer, 2021. Corona in der Schweiz, http://www.corona-in-der-schweiz.ch, S. 77.

  4. Andreas Kley, 2022. Die Covid-19-Rechtssetzung des Bundesrats als ­Krisen- und Angstkommunikation, in: Beck, Kley, Rohner, Vernazza (Hrsg.): Der Corona-Elefant. Versus, Zürich, S. 63.

  5. Werner Widmer, 2022. Sechs Lehren für die Spitäler im Hinblick auf eine nächste Pandemie, in: Beck, Kley, Rohner, Vernazza (Hrsg.): Der ­Corona-Elefant. Versus, Zürich, S. 76 – 81.

  6. Jacqueline Fehr, 12.5.2022, Konferenzen – eine sprudelnde Quelle für Missverständnisse, in: NZZ, S. 18.

  7. Konstantin Beck, 2022. Eigenverantwortung in Zeiten von Corona, in: Beck, Kley, Rohner, Vernazza (Hrsg.): Der Corona-Elefant. Versus, Zürich, S. 197.

  8. Ebenda.

  9. Konstantin Beck, 2022. Zu wackelige Grundlagen, um Junge zur ­Impfung zu nötigen. In: Infosperber.ch, 25.4.2022.

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