Georgien ist anders
Mein Georgien-Abenteuer hat vor vier Jahren begonnen, in Zürich, bei einem Abendessen mit Tischgesang. Wie ich das Land im Südkaukasus kennenlernte. Und wie ich neue Freunde und Geschäftspartner fand. Bericht eines involvierten Unternehmers.
Georgien ist anders. Anders, als ich es mir vorgestellt hatte, in vielem anders als die Schweiz, zumeist anders, als Korrespondenten – meist mit Moskaus Brille – darüber berichten. Georgien erlebt, anders als die anderen ehemaligen Republiken der Sowjetunion, seit 1989 die abenteuerliche Wandlung von einer kommunistischen Staats- und Wirtschaftsorganisation hin zu einem betont freiheitlichen, unternehmerfreundlichen und demokratischen Staat mit hohen Wachstumsraten.
Mein eigenes georgisches Abenteuer hat vor mehr als vier Jahren begonnen, als mich die Flötistin Helena Schulthess und der Pianist und Georgienkenner Thomas Häusermann fragten, ob ich sie auf eine zweiwöchige Konzerttournee nach Georgien begleite. Meine Meinung war schnell gemacht: «Nein, was soll ich dort?» Die Einladung zu einem georgischen Abend, der ein paar Wochen später in der unmittelbaren Nähe meiner Firma in Zürich stattfand, schlug ich hingegen nicht aus. Eine Handvoll Georgier, u.a. Metropolit (Oberbischof) David, Äbtissin Ioanna und der damals 34jährige Unternehmer und frühere georgische Landwirtschaftsminister und Provinzgouverneur Miho Svimonishvili, waren eben von einem Besuch der landwirtschaftlichen Schule Plantahof in Landquart nach Zürich zurückgekommen und trafen sich mit einem knappen Dutzend Schweizer zum Essen, Trinken und Singen. Darunter waren, das erfuhr ich allerdings erst später, auch Schweizer, die sich seit vielen Jahren als Mitinvestoren der Unternehmensgruppe von Miho Svimonishvili engagierten.
Der Abend war ein besonderes Erlebnis. Man konnte die Herzlichkeit und die Gastfreundschaft der Georgier und die Energie und den Unternehmerwillen von Miho quasi mit Händen greifen. Da Miho fliessend Deutsch spricht, war das Eis rasch gebrochen. Am Schluss des Abends fragte er mich, ob ich nicht doch auch nach Georgien mitkommen wolle. Ich sagte, jetzt mit einem Zögern, wieder nein.
Miho schrieb mir ein paar Tage später eine E-Mail. Er habe die Website meiner Firma studiert. Er sei sicher, ich könne ihn in vielen Bereichen seiner Firma, die zwar in ganz anderen Branchen tätig sei als ich selber, mit unternehmerischem Know-how unterstützen. Er bitte mich darum ein zweites Mal, ebenfalls mitzukommen. Vielleicht fiel meine Antwort etwas dreist aus: Ja, ich komme mit – unter einer Bedingung: ich möchte sein Land kennenlernen, seine Firmen, Vertreter der lokalen Banken, Minister und deren Berater, den Chef der Zentralbank, die Geschäftsleitung der Börse. Miho schrieb zurück: «Okay, ich werde mir zwei Wochen Zeit für Dich nehmen; Du wirst diese Leute treffen und das Land kennenlernen.»
Bis zu unserer Abreise beschaffte ich mir Informationen über Georgien: Geographie, Klima, Sprachen, Geschichte, Religionen, Kultur, Wirtschaft und Politik. Was dem ausländischen Beobachter sogleich auffällt: die geostrategisch wichtige Lage Georgiens zwischen dem Kaspischen Meer (Aserbaidschan) und dem Schwarzen Meer, zwischen dem Grossen Kaukasus im Norden gegen Russland und dem Kleinen Kaukasus im Süden gegen Armenien und angrenzend an die Türkei. Georgien ist ein unverzichtbares Durchgangsland; früher führte die Nordroute der Seidenstrasse durch das Land, heute bildet es einen Knotenpunkt zwischen den rohstoffreichen Regionen vor allem Aserbaidschans und Kasachstans und Westeuropa. Das Klima entspricht der vielseitigen Landschaft Georgiens: subtropisch am Schwarzen Meer, alpin im Grossen Kaukasus, Landklima gegen Aserbaidschan, ausgewogenes Klima im Zentralbereich. Es gibt einige Gemeinsamkeiten mit der Schweiz: die Lage zwischen zwei Bergzügen, beides Kleinstaaten, die Vielfalt der Regionen, die strategische Lage, die bewegte Geschichte über die letzten siebenhundert Jahre. Viele Dinge sind aber anders: die Bedeutung von Religion und Kultur, der Stand der wirtschaftlichen Entwicklung, die völlig fremde Sprache und, wie ich später dann feststellen sollte, ganz besonders die freiheitliche, unbürokratische Ausrichtung des Landes.
Es war April 2010, der Reisetag kam näher. Wir beschafften kleine Geschenke, von denen wir vermuteten, dass sie den Georgiern Freude bereiten würden: mit Kühen verzierte Kugelschreiber von Caran D’Ache, kleine Taschenmesser von Victorinox, Schokolade von Chocolat Frey, Offiziersgürtel der Schweizer Armee und anderes mehr. Die Reise über München war problemlos. Beim Verlassen des Flugzeugs fragte ich Thomas, wie wir vom Flughafen in die Hauptstadt Tbilisi kommen werden. Er meinte, dass wohl jemand auf uns warten werde. Als wir mit unserem Gepäck die Ankunftszone verliessen, sahen wir unser Empfangskomitee: 14 Personen mit Blumen, und das um vier Uhr in der Frühe. Da spürte ich: Georgien ist wirklich anders.
Nach kurzer Fahrzeit kamen wir bei Mihos Eltern in der Innenstadt von Tbilisi an. Der Empfang war auch hier sehr herzlich. Im Wohnzimmer erwartete uns die nächste Überraschung: ein fünf Meter langer Tisch und darauf eine georgische Tafel. Die Vögel zwitscherten bereits; doch es gab kein Frühstück, wie es bei uns gewesen wäre, sondern eine grosse Zahl von Schüsseln und Tellern mit bekannten und unbekannten warmen und kalten Speisen: Fleisch, Fisch, Kartoffeln, Reis, Polenta, Salate, viele Gemüsesorten, Käse, viele Zutaten und georgische Spezialitäten. Die grosse Runde ass, trank und unterhielt sich, immer wieder unterbrochen durch Trinksprüche des Tamada, des Tischmeisters: auf die Gäste, die Freunde, die Toten, die Abwesenden, die Frauen, Georgien und die Schweiz, den Frieden, die Freiheit. Jene, die um 8 Uhr zur Arbeit mussten, tranken wenig, diejenigen, denen ein paar Stunden Schlaf gegönnt waren, tranken vom feinen georgischen Weiss- und Rotwein. Als wir dann endlich für ein paar Stunden zu Bett gingen, wussten wir, dass wir angekommen waren.
Nun war ich fast rund um die Uhr mit Miho zusammen. Wir besuchten seine Farm mit 600 Stück Schweizer Braunvieh, seine Verarbeitungsfabrik für Gemüse und Früchte in Marneuli, das Landwirtschaftsland am Stadtrand von Tbilisi und im Osten Georgiens. Am nächsten Tag machten wir Halt bei vier Weinbaubetrieben in Kachetien im Nordosten, die teilweise noch nach jahrhundertealten Methoden kelterten. Anschliessend besuchten wir Äbtissin Ioanna, deren Kloster in der Nähe lag. Das Wiedersehen war sehr warm. Den Abend beendeten wir mit einer georgischen Tafel mit Männergesang und Instrumentalmusik in der Weinstadt Telavi.
In den nächsten Tagen absolvierten wir viele Besuche in Tbilisi: einen halben Tag auf dem Finanzministerium, wo ein Teil der Mitarbeiter Engländer oder Amerikaner waren und teilweise auch von diesen Ländern bezahlt wurden, beim Finanzminister, beim Ministerpräsidenten, der Zeit für eine Unterhaltung über sein Land fand und uns gleich zu einem Workshop mit Vertretern grosser Unternehmungen einlud, bei seinen beiden Chefberatern, beim Minister für ökonomische Entwicklung, beim Landwirtschaftsminister, beim Leiter der Zentralbank, bei der Geschäftsleitung der Börse. Wir diskutierten über Möglichkeiten, in Georgien private Pensionskassen zu betreiben, als besonders aufschlussreich erwies sich auch ein Gespräch mit einer Juristin der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit zum Thema Rechtssicherheit und Unternehmertum. Die Vorgaben Georgiens an die ausländischen Berater waren klar: Georgien soll ein freiheitlicher, unternehmerfreundlicher, demokratischer Rechtsstaat sein. Die Kompromisslosigkeit, mit der diese Anforderungen überall formuliert wurden, machte mir Eindruck.
Nach ein paar Tagen ging es in Richtung Westgeorgiens. Die Landschaft wurde immer grüner, die Wälder dichter. Wir überquerten den Rikothi-Pass, die Wasserscheide zwischen Ost- und Westgeorgien, und erreichten die Ebene des Flusses Rioni, der ins Schwarze Meer fliesst. Hier lag das alte Kolchis mit dem Goldenen Vlies, hier findet sich der Kern der Argonautensage. Ausgrabungen belegen eine hochstehende Kultur bereits im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Unser Ziel war jedoch der Hafen und die Freie Industriezone von Poti. Miho und ich sinnierten darüber, dass dem Hafen von Poti, wo flüssige und trockene Güter umgeschlagen werden, wegen der strategischen Lage Georgiens eine grosse Zukunft bevorstehe. Noch immer waren aber viele Hafengebäude in schlechtem Zustand und standen zum Verkauf. Ich wünschte mir, ich hätte ein paar wenige Millionen eigene oder fremde Mittel zur Hand gehabt, um hier Land direkt an der Wasserkante zu erwerben. (Ein Jahr später hat APM Terminals, ein Tochterunternehmen der dänischen Moller-Maersk Group, 80 Prozent des Hafens und der Hafenanlagen erworben und hat begonnen, diese zu erneuern.)
Angrenzend an den Hafen von Poti befindet sich auf rund 300 Hektaren die Freie Industriezone Poti, die von Rakia, einer Firma aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, betrieben wird. Die Zone will Unternehmungen die Möglichkeit bieten, Handel zu betreiben, Güter herzustellen und zu exportieren, möglichst ohne in Berührung mit dem Staat zu kommen. Nach einem Besuch in einer türkischen Kleiderfabrik, wo Leibchen und Hosen für alle berühmten Fussballmannschaften Europas für eine Handvoll US Dollar hergestellt werden, übernachteten wir im nahegelegenen Batumi. Am nächsten Tag ging es in Richtung Tschochatauri in der Provinz Gurien. Auf der Reise fielen mir die vielen Nussbäume, die Haselnusssträucher und die Teeplantagen auf – wichtige Exportgüter Georgiens, wie ich später herausfand. In Nabeghlavi steht die Abfüllanlage für Mineralwasser und Wasser, die zu Mihos Holding Margebeli gehört. Seine Fabrik ist heute der führende Mineralwasseranbieter Georgiens mit mehr als 100 Millionen Flaschen pro Jahr, ausgerüstet mit drei vollautomatischen Abfüllstrassen der deutschen Krones AG. Die Rückfahrt nach Tbilisi via die Parlamentsstadt Kutaisi mit Besuchen bei Verwandten und Freunden sowie einem Treffen mit einem bedeutenden deutschen Unternehmer für Kindernahrung dauerte zwei Tage.
Die letzten Tage meines Aufenthaltes verbrachte ich bei Miho im Büro und mit weiteren Treffen in Tbilisi. Ich nahm an Sitzungen teil, in denen ich unternehmerische Aufbruchstimmung erlebte. Miho wurde täglich mit neuen Projektideen konfrontiert. Dabei ging es immer um die gleichen Fragen: Woher kommt die Managementkapazität für neue Projekte, woher das Eigenkapital? Zwar erwirtschaftete seine Firmengruppe schon damals eine halbe Million US Dollar Gewinn pro Monat. Aber dieses Geld wollten sie in die Entwicklung der bestehenden Firmen investieren. Aufschlussreich war in diesem Zusammenhang das Treffen mit dem Direktor der European Bank for Reconstruction and Development (EBRD) für den Südkaukasus. Die EBRD stellte und stellt, gemessen an den Möglichkeiten der Firma, Eigenkapital und praktisch unbegrenzt viel Fremdkapital zur Verfügung. Miho und seine Partner wollten dieses Angebot aber nicht ausschöpfen; sie wollen vor allem mit Eigenkapital von Privatpersonen und privaten Institutionen wachsen. Es wurde immer klarer, wie eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Mihos Firma und mir aussehen konnte. Dafür musste ich jedoch weitere Informationen über Georgien beschaffen, wozu die Zeit nicht mehr reichte.
Das Land und seine Opportunitäten liessen mich nicht mehr in Ruhe. Ein paar Monate später war ich zurück in Georgien. Ich interessierte mich für das Grundbuch, für die Gründung von Firmen, für den Verkehr mit Ämtern, für die Ausgestaltung der direkten und indirekten Steuern, für Doppelbesteuerungsabkommen. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Anders als die Schweiz besitzt Georgien ein computerbasiertes Grundbuch, ein elektronisches Firmenregister, ein computerbasiertes Notariatsregister. Firmengründungen werden nach einer Vorprüfung in einem halben Tag erledigt. Der Verkehr mit dem Steueramt kann auf Wunsch über Skype erfolgen. Alles ist darauf angelegt, dem Bürger zu dienen und ihn nicht zu belästigen. Die Bürokratie führt praktisch kein Eigenleben. Georgien ist wirklich anders!
Der Eindruck bestätigte sich, als ich die Website der Weltbank, www.doingbusiness.org, konsultierte, wo Länder gemäss «ease of doing business» bewertet werden. Singapur, Hongkong, Neuseeland, die USA und Dänemark liegen auf den ersten Plätzen. Georgien hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert und liegt heute auf dem 8. Platz. Die Schweiz hat im letzten Jahr zwei Positionen verloren und liegt jetzt auf Platz 29 von 189 Ländern.
Bei diesem zweiten Besuch hielt ich eine Vorlesung an der Freien Universität Tbilisi, von der Miho viele Absolventen für seine Firmen rekrutiert. Ich hatte zwei Themen vorbereitet: «Swiss Banking» und «Switzerland’s Political System». Alle Studenten wollten etwas zum zweiten Thema erfahren. Die Diskussionen waren intensiv, teilweise recht heftig. Fragen zu «ease of doing business» in der Schweiz wurden zum Glück nicht gestellt.
Ich hatte viel gesehen, mein Entschluss stand fest. Bei nächster Gelegenheit informierte ich Miho über meine Absicht: Einerseits wollte ich ihn unterstützen, junge Mitarbeiter mit einem Universitätsabschluss für ein Masterstudium in die Schweiz zu schicken. (Die erste Masterstudentin hat ihr Masterstudium vor wenigen Wochen an der Universität Freiburg i.Ue. mit ausgezeichneten Noten abgeschlossen.) Andererseits wollte ich bei vermögenden Privatpersonen und bei juristischen Personen Kapital sammeln, um gemeinsam neue Projekte in Georgien und in den ehemaligen GUS-Staaten zu finanzieren.
Ich war etwas naiv, als ich wenig später Freunden und Bekannten von meiner Absicht erzählte. Ich musste nämlich in der Folge feststellen, dass Rang 104 der Schweiz in «Starting a Business», unmittelbar vor Pakistan und Belize, nicht unverdient ist. Wenn man eine Struktur auf die Beine stellen will, soll sie ja unter anderem handelsrechtlich, steuerrechtlich und regulatorisch korrekt sein. Leider ist die zulässige Schnittmenge der drei Bestimmungen im konkreten Fall, nicht wegen Georgien, sondern wegen der Schweiz, ziemlich klein. Und die Anwälte, die einem helfen, die verbleibende Schnittmenge zu finden, sind teuer.
Der Wunsch der Schweizer Behörden, den Bürger in der Verfolgung von wertschöpfenden Aktivitäten zu unterstützen, ist nicht wirklich spürbar. In diesen Tagen haben wir es jedoch geschafft: Neue Schweizer Investoren werden sich an Mihos Holding beteiligen und auf diesem Weg den Neubau einer deutlich grösseren Abfüllanlage für Wasser und Säfte in Nabeghlavi mitfinanzieren.
Georgien kann von der Schweiz viel profitieren: die handwerkliche Berufsausbildung, Haustechnik, Strassen- und Leitungsbau, die medizinische Versorgung oder die Landwirtschaft stehen auf einem anderen Niveau als in der Schweiz. Es gibt aber ebenso viele umgekehrte Beispiele, wo die Schweiz von Georgien lernen könnte: Schlanke Staatsstrukturen, Staatsangestellte, die den Bürger unterstützen und nicht behindern, Freihandelszonen, ein nicht nur nominell, sondern real flexibler Arbeitsmarkt, echte Wahlfreiheit im Gesundheitsmarkt würden die Freiheit der Bürger und das qualitative Wachstum in der Schweiz ungemein beflügeln. Georgien schafft es, mit einem Bruttosozialprodukt, das nur etwa 10 Prozent der Ausgaben der öffentlichen Haushalte in der Schweiz ausmacht und 30mal kleiner ist als jenes der Schweiz, eine effiziente, freiheitlich ausgerichtete und bürgerfreundliche Verwaltung auf die Beine zu stellen. Worauf warten wir in der Schweiz?