Genügsamkeit und Weite
Am 20. Juni dieses Jahres wurde der Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier 90 Jahre alt. Wir drucken im folgenden die Geburtstagsansprache von Werner Morlang, gehalten am 25. Juni 2007 im Schauspielhaus Zürich.
Wie man weiss, ist Gerhard Meier in der siebten oder achten
Klasse der Niederbipper Sekundarschule zum erstenmal
der Literatur begegnet, als der Deutschlehrer Tolstois
Erzählung «Wieviel Erde braucht der Mensch?» vorlas. Sie
habe ihn als etwas getroff en, «mit dem ich immer gelebt hatte,
aber dort wurde es mir bewusst», sagt er in den «Amrainer
Gesprächen». Man darf somit diese Begegnung, die sich
übrigens in einem erhalten gebliebenen Schüleraufsatz niedergeschlagen
hat, getrost zu jener «Mitgift fürs Leben» zählen,
von der Meiers Alter ego Kaspar Baur zu Beginn der
«Toteninsel» spricht. Tolstois Geschichte handelt vom russischen
Bauern Pachom, den es auf der Suche nach immer
mehr Grundbesitz zu den Baschkiren verschlägt, die ihm für
tausend Rubel so viel Land anbieten, wie er bei Tageslicht
umschreiten könne. Allerdings müsse er vor Sonnenuntergang
wieder den Ausgangspunkt erreicht haben, ansonsten
er Land und Geld verspiele. Der Bauer bricht frühmorgens
wohlgemut auf und teilt seine Kräfte klug ein, um zuletzt
dann doch der Masslosigkeit zu erliegen. Zwar gelingt es
ihm knapp, rechtzeitig zurückzukehren, aber er sinkt vor
Erschöpfung tot zu Boden und gewinnt gerade soviel Land,
«wie er vom Kopf bis zu den Füssen misst»: die Ausdehnung
seines Grabes.
Es fällt nicht schwer, Tolstois Erzählung als Präludium
zu Gerhard Meiers späterem Leben und Schreiben zu begreifen.
Die Genügsamkeit, gegen deren Gebot der Bauer
Pachom verstösst, scheint ja recht eigentlich Gerhard Meiers
Sache zu sein. Er hat die Grenzen seines Landstücks
exakt in dem ihm zuträglichen Mass abgesteckt und wohnt,
von einigen Niederlassungsprovisorien und Reisen abgesehen,
bis heute in seinem Geburtshaus. Dessen Innenräume
samt Mobiliar und Wandschmuck sind jedem Meier-Leser
vertraut, so der untere Arbeitsbereich mit dem Kachelofen,
dem Staketen-Sessel, dem runden Tisch, der Clown-Zeichnung
seines Enkels – Objekten, um die herum sich Isidor
A. im Roman «Der schnurgerade Kanal» angelegentlich zu
schaff en macht, oder das obere Stübchen, wo im Verlauf
eines Spaghetti-Essens die bewegliche Aussenwelt als Spiegelung
über einige an den Wänden hängende Gras-Stiche
huscht und wo zuletzt Baurs Witwe Katharina an einer
Decke häkelt, als würde sie mit Baurs Romankonzeption
eines handgewobenen Teppichs wetteifern. Und natürlich
hat das Siedlungsgebilde am Jurasüdfuss «beliebt» oder «geruht
« – um Meiers zärtliche Anthropomorphismen zu verwenden
–, sich in den Amrainer Kosmos zu verwandeln. Er
versteht sich aber auch auf Friedhöfe und ihre eineinhalb
Meter tiefen Parzellen, zumal jenes mit porzellanfarbenen
Winterastern verzierte Grab, aus dem Baur zu einer letzten
Rede ausholen darf. «Feldherren», heisst es einmal lakonisch,
«sind wir alle».
Eines der poesieträchtigsten Gelände liegt vor dem Niederbipper
Wohnhaus, dem Anschein nach eine profane
Wiese, die sich aber in Gerhard Meiers imaginativ angereicherter
Erinnerung als ein höchst belebter Tummelplatz
erweist. Auf diese «Matte des Eierhändlers» fahren die pompösen
Jauchezüge des Viehhändlers Joachim Schwarz, der
mit Schlachtereiabfällen der Flora so arg zusetzt, dass am
Ende nur noch Hahnenfuss wächst. Hier weiden Pferde,
die bisweilen der Donaumonarchie Kaiser Franz Josefs
und Joseph Roths seligen Angedenkens nachhängen, wenn
sie nicht gerade Glück in ihren Bäuchen erzeugen. Hier
steht eines Nachts ein rotweiss gestreiftes Festzelt, das von
volkstümlichem Treiben und Gesang erfüllt wird. Und damit
nicht genug. Von besagter Matte aus reitet der Erzähler
auf seinem schwarzen Pegasusschimmel ins jenseitige
«Sneewittchenland», wo er seine geliebten älteren Kollegen
Proust, Simon, Beckett, Tolstoi und Virginia Woolf antriff t.
Off enbar rumort es beträchtlich in diesem dörfl ichen Einerlei,
das der überzeugte Provinzler in seinen Kindertagen als
«unglaublich statisch» empfunden hat.
Die Aufschwünge ins «Sneewittchenland» führen aber
immer wieder zu den trüben, dürftigen Realien zurück.
Das fi ligrane Gewirk von Gerhard Meiers Prosa, in dem
die entlegensten Dinge unversehens zueinander fi nden und
die vielfältigsten Beziehungen eingehen, ist von der Prosa
des Alltags nicht wegzudenken. Gewiss, der Himmel überwölbt
die unteren Regionen, aber es sind Spiegelscherben,
die – wie es in einem frühen Gedicht heisst – den Wolkenzug
einfangen. Gerhard Meier ist den kleinen, banalen
Erscheinungen nicht minder zugetan als den grossen,
erhabenen. Im Roman «Der Besuch» verharrt der Patient
einer psychiatrischen Klinik auf seinem Zimmer und tröstet
sich über den ausbleibenden Besuch hinweg, indem er
sich an frühere familiäre Begegnungen erinnert. Da ihm ein
Ansprechpartner fehlt, übt er ein «Gerede» im Konjunktiv,
dem er eine wahre Tour de Force angedeihen lässt. Das
hindert ihn freilich nicht daran, jegliche Bewegungen, Gebärden,
Geräusche, Sprachfetzen und Hüstler, wie sie ihm
sein Vorstellungsvermögen eingibt, getreu festzuhalten. Bei
solch groteskem Tun nimmt er mit Vorliebe eine napoleonische
Pose ein, als blickte er von St. Helena aus einem
erlauchten Besuch, der auf einem Schiff entschwindenden
Gräfi n Walewska, alias Greta Garbo nach. Die Hinfälligkeit
seines Verhaltens mag schon daraus erhellen, dass sein
Zimmer die Nummer 212 trägt, eine Zahl, die – kann man
verschiedenen Stellen in Meiers Werken entnehmen – der
Anzahl Knochen entspricht, die das menschliche Skelett
ausmachen. So wird die triste Befi ndlichkeit des einsamen
Pechvogels von einer clownesken Komik grundiert:, einer
Dimension, die Gerhard Meiers Texten öfter eignet, als
man gemeinhin annimmt.
Auch die «Amrainer Tetralogie» enthält unzählige aus
dem Alltag geschöpfte Slapstick-Müsterchen. Was immer
im poetischen Überbau der beiden redseligen Lustwandler
geschieht – auf der allzumenschlichen Ebene von Baurs
Schrittweise, Schuhbändel, Bügelfalten, Hosentaschen und
Händen ist auch einiges los und sei es nur, dass Baur zwischen
Daumen und Zeigefi nger ein Rosskastanienblatt hin
und her wendet und solchermassen ein «fl atterndes Huhn
simuliert». Doch inmitten des Oltner Strassenverkehrs evoziert
Bindschädler aus der Erinnerung jene Szene, da ein
Mädchen mit einer Puppe und einem Blatt, begleitet von
der unhörbaren Musik einer steinernen Flötenspielerin, ein
unvergleichlich anmutiges Ballett auff ührt. Der Wind ist
der heimliche Choreograph und Animator des reizvollen
Tableaus, und wenn Gerhard Meier versichert, er habe seine
schönsten Texte in den Wind geschrieben, stellen wir fest,
dass seinen dem Papier und dem Druck anvertrauten Texten
ebenfalls etwas Windgebürtiges zukommt.
Zur Genügsamkeit dieses Autors gehört nicht zuletzt
seine Sprache, die keinerlei wohlfeile Lyrismen oder aufgeplusterten
Prunk duldet, sondern auch in dieser Hinsicht
der Gewöhnlichkeit verschworen ist. Dennoch hat sie ihr
unverwechselbares Gepräge; in Vokabular und Syntax erkennt
man Meiers Sätze – darin der Ausdrucksweise Robert
Walsers vergleichbar – sogleich als die seinen. Er hat sich
nie gescheut, helvetische Wendungen in seine Texte einzustreuen,
und wenn sie einmal auftauchen, sind sie fortan
fester Bestandteil seines dichterischen Habitus. Wer ein
Auge dafür hat, kann so die Karriere einzelner Wörter, die
allmähliche Herausbildung seines Schreibstils von Buch zu
Buch verfolgen. Man hat sich gelegentlich gewundert, dass
die Arbeitswelt, jene dreiunddreissig in der Lampenfabrik
AKA zugebrachten Jahre, in den Büchern keine Spuren hinterlassen
hätten. Hier, in der sprachlichen Beschaff enheit,
mithin in den widerspenstigen Alltäglichkeiten seiner Texte
sind sie manifest.
Lieber Gerhard, ich habe dein bisheriges Leben und
Schaff en im Zeichen der Genügsamkeit dargestellt, dabei
ist sie, deine Genügsamkeit, doch nur die Kehrseite, vielmehr
die Voraussetzung von etwas ganz Anderem. Zwar ist
es mir nie gelungen, die Spar-Ration deiner Walser-Lektüre
um «Die Geschwister Tanner» und den «Gehülfen» zu erweitern,
doch wenn wir deine Bücher lesen, werden wir ja
nicht mit Brosamen abgespeist, sondern im Gegenteil an
einer reich gedeckten Tafel bewirtet. Dabei sind mancherlei
magische Vorkehrungen am Werk. Wenn du Tolstois Natascha
mit dem Fürsten Andrej zu einer imaginären Insel
des Onegasees hinüberruderst, verbreitet sich ein Duft jener
Eierpilze, die deine Mutter so köstlich zuzubereiten wusste.
Auf den Gleitbahnen deiner Einbildungskraft gelangen wir
von Ankers Mädchen auf rotem Grund zum Meretlein aus
dem «Grünen Heinrich», um alsdann auf Th eodor Storms
Leonore Beauregard zu stossen. Schmeissfl iegen versetzen
uns bald in ein Gedicht von Dámaso Alonso, bald in einen
Italowestern von Sergio Leone, oder auch in die Alte
Brauerei, wo Schmeissfl iegen anstelle zahlender Gäste für
die Geräuschkulisse sorgen. Die Amrainer Birken führen
uns in dein östliches Sehnsuchtsland. Lässt Bindschädler
die Grillen zirpen, glauben wir mit dir in der Kirche zu
Raron und in der Solothurner Jesuitenkirche das Zirpen
aus dem Getriebe des Kosmos zu erlauschen. Und wenn
wir, nach dem Vorbild der Witwen beim Leichenmahl ihrer
Männer, mit feuchten Fingern den Rändern der Weingläser
entlangstreichen, katapultierst du uns gar in den Spiralnebel
im Sternzeichen der Jagdhunde, wo der grosse Klang
erzeugt wird. In der «Toteninsel» hat Baur versuchsweise
das Wesen der Welt als Poesie, Bewegung, Stille, Liebe und
Licht gedeutet, ohne sich auf einen Begriff festzulegen. Wie
immer es darum bestellt sein mag, soviel steht fest: dein
Amrainer Kosmos ist von solcher Poesie, Bewegung. Stille,
Liebe, Licht und anderem mehr erfüllt, und davon bringen
uns nun deine sechs Kollegen* etliches zu Gehör.
* Es lasen: Lukas Bärfuss, Urs Faes, Reto Hänny, Gertrud Leutenegger, Michel Mettler und Anne Weber.
Werner Morlang, geboren 1949, lebt als Literaturkritiker und
Schriftsteller in Zürich.