Genauerer Leser, reichere Lektüre
Peter von Matt ist ein genauer und leidenschaftlicher Leser («Ich bin ein Literaturwissenschafter, der vom einzelnen Satz oft mehr fasziniert ist als vom ganzen Werk»), und er will seine Leser zu ebensolchen machen (oder er erwartet, dass sie solche sind). «Das Wilde und die Ordnung» – der Titel der Aufsatzsammlung ist verlockend, klingt er doch […]
Peter von Matt ist ein genauer und leidenschaftlicher Leser
(«Ich bin ein Literaturwissenschafter, der vom einzelnen Satz
oft mehr fasziniert ist als vom ganzen Werk»), und er will
seine Leser zu ebensolchen machen (oder er erwartet, dass
sie solche sind). «Das Wilde und die Ordnung» – der Titel
der Aufsatzsammlung ist verlockend, klingt er doch nach
Entdeckungen (und ein bisschen nach Levi-Strauss). Und
der Leser wird nicht enttäuscht, wenngleich «das Wilde»
vielleicht doch eine Übertreibung ist. Denn es geht dem
genauen und neugierigen Philologen von Matt nicht um
die völlige Aufl ösung von Ordnung oder des Bekannten,
sondern um die Wahrnehmung dessen, was es dazu und
daneben auch noch zu entdecken gibt. Die genauere Beschreibung
seiner Vorgehensweise hat von Matt seinem
Aufsatz «Freud und das Lesen» (2001) als Untertitel beigegeben:
«Die Entdeckung der Gegenwahrheiten im Text».
Die Arbeiten von Matts sind von der tiefen Überzeugung
durchdrungen, dass auf den genauen Betrachter der Literatur
(und ihrer Sprache) neben dem allzu Bekannten immer
Beobachtungen und Entdeckungen warten, die plötzlich
auch das Gegenteil von dem überlegenswert machen, was
man schon sicher zu wissen glaubte. Alles allzu Monumentale,
Geschlossene, «die Ordnung» eben, ist Peter von Matt
verdächtig. Er versucht den unverstellten Blick auf das zu
richten, was wirklich vorhanden ist, und zwar in seiner ganzen
Fülle. Und das ist immer mehr, als die Wissenschaft
bisher als Bedeutungshorizont anzubieten hatte.
Es geht in diesem Buch also um das Zweideutige, um die
vielfältigen Möglichkeiten, die jedes Leseerlebnis – wenn
es denn eines ist – anbietet. Es kann deshalb nicht überraschen,
dass es in von Matts Buch hauptsächlich um Autoren
und Th emen geht, die man im weitesten Sinne «romantisch»
nennen könnte. Zentrale Begriff e sind dabei «Parodie»,
«Ironie», «Witz», «Vorausweisung», der «Riss im Text» und
«in der Welt» und die «Grenze» («Tod», «Niemandszeit»).
Dabei arbeitet von Matt immer philologisch; er will erst
genau lesen und dann zu verstehen versuchen. Für Nichtleser
sind die Aufsätze kaum geeignet, denn den Hinweis
auf das Doppelbödige kann nur geniessen, wer den Boden
kennt (oder kennenlernen will), der hier brüchig und ein
wenig durchlässiger wird. Um bei von Matt zu lernen, ist
es aber nicht nötig, jeden Text genau zu kennen, der hier
besprochen wird. Denn jedem, der schon genau zu lesen
versucht hat, liefert von Matt anschauliche kleine Lehrstükke,
was mit einem Text passieren kann, wenn versucht wird,
seinen Wortlaut wirklich wahrzunehmen.
Gibt es denn gar nichts zu kritisieren? Doch. Einige der
literaturhistorischen Texte sind eher journalistischer Natur
oder aber Gelegenheitsarbeiten für Jubiläumsbände und
ähnliches. Sie schlagen interessante Lesarten vor, aber der
von den stärker ausgearbeiteten Artikeln verwöhnte Leser
wartet vergebens darauf, vom Autor mehr über deren Konsequenzen
zu erfahren. Immerhin leisten aber auch diese
Aufsätze das, was dem Autor wohl am meisten Freude machen
würde: dass sein Leser erwägt, einmal wieder (oder
erstmals) zu Hauff , Mörike oder Nestroy zu greifen oder er
sich erkundigt, wo denn eine Aufnahme von Schumanns
«Genoveva« zu bekommen sei. Das einzige (kleinere) Ärgernis
des Buches hat der Verlag zu verantworten: alle Texte
dieses Bandes können gewinnbringend gelesen werden,
ohne die Anmerkungen zur Kenntnis zu nehmen. Da bei
einigen von ihnen aber nun einmal solche vorhanden sind,
muss gefragt werden, weshalb der Verlag zu der Unsitte
der Endnoten gegriff en hat. Wer nur den Haupttext lesen
will, schaff t dies auch, wenn auf den entsprechenden Seiten
unter dem Strich weiterer Text steht. Deswegen sollte der
interessierte Leser nicht zu der Fingerakrobatik gezwungen
werden, die die angefügten (lesenswerten) Anmerkungen
am Ende des Textes zwangsläufi g mit sich bringen. Doch
dies ändert nichts an der erfreulichen Botschaft dieses Buches:
genaue Leser erzeugen reichere Texte.
besprochen von Michael Mühlenhort, Freiburg
Peter von Matt: «Das Wilde und die Ordnung». München: Hanser, 2007.