Gemeindepolitik: Jenseits der Rhetorik
Im Aufbau der Eidgenossenschaft bildet die politische Gemeinde die kleinste, dem einzelnen Bürger am nächsten stehende Einheit. Hier hat Politik Alltagsrelevanz. Hier ist Mitgestaltung der unmittelbaren Lebenswelt möglich. Aber genau hier wird wenig über konkrete Leitplanken liberaler Politik und ihrer Praxis nachgedacht.
Adolf Gassers Hauptwerk «Gemeindefreiheit als Rettung Europas», erschienen 1947 in Basel, war der vielleicht letzte erfolgreiche Versuch, den Handlungsrahmen einer liberalen Kommunalpolitik zu definieren und diese in einen zeitlosen Kontext zu stellen. Gerade heute sind diese Überlegungen wertvoll. Denn der Kern einer gesunden Demokratie war für Gasser die «freie Gemeinde». In ihr und der ihr eigenen Übersichtlichkeit erkannte der Historiker das Fundament erfolgreicher Demokratien. Dieses Fundament wird jedoch immer mehr aufgeweicht.
Ein Beispiel: Am 18. September 2015 lehnte eine gute Zweidrittelmehrheit der Steiner Einwohner eine Gemeindefusion mit drei weiteren Fricktaler Gemeinden ab. Die ablehnende Gemeinde hätte als einzige nicht von tieferen Steuersätzen profitiert, konnte also losgelöst von finanzpolitischen Anreizen entscheiden. Gelegentlich hilft der Kanton dem freien Willen einzelner Gemeinden nach und finanziert – wie im Fall Wiesendangen und Bertschikon, die Anfang 2014 fusionierten – damit verbundene Aufwände wie Projektkosten und federt Steuerfussunterschiede mittels Transferzahlungen ab. Das Problem dabei ist, dass es just der kantonal vorgeschriebene «Verwaltungsperfektionismus»1 ist, welcher die Fixkosten für Gemeinden kontinuierlich erhöht und sie dadurch zum Teil in Fusionen zwingt. Es ist also der Verursacher der Kosten, der diese für Gemeinden wieder erträglich macht.
Wie kann heute liberale Gemeindepolitik im Geiste Gassers und angesichts eines ausgeklügelten auf Zentralisierung ausgerichteten Anreizsystems umgesetzt werden? Indem mit mehr Freiwilligkeit und Mitverantwortung die Selbstorganisation in Gemeinden gestärkt wird.
Ausgangspunkt für eine liberale Gemeindepolitik ist die Freiwilligkeit des einzelnen, also die grösstmögliche Abwesenheit von Zwang ihm gegenüber. Was heisst das konkret? Die Steuerlast sinkt auf ein Niveau, das die Erfüllung der zwingenden, gesetzlichen Aufgaben ermöglicht – aber nicht mehr. Hierfür finden regelmässige Aufgabenüberprüfungen statt. Eingeschlichene, nicht zwingende Aktivitäten der öffentlichen Hand werden dabei identifiziert und konsequent eliminiert oder ausgelagert. Darüber hinaus tun sich Gemeinden zusammen, um sich auf nächsthöherer, kantonaler Ebene für weniger Kollektivaufgaben – auf kantonaler oder nationaler Stufe – und mehr Gemeindekompetenzen bei gleichzeitiger Finanzierungsverantwortung einzusetzen. Damit gerät eine Beziehung wieder ins Gleichgewicht, die über die letzten Jahrzehnte Abhängigkeiten schaffte, indem neue Aufgaben den Gemeinden übertragen wurden, die Finanzierungsverantwortung aber mindestens teilweise beim Kanton verblieb. So war beispielsweise das starke Anwachsen der Sozialausgaben von 6,5 Prozent des BIP im Jahre 1950 auf 24,2 Prozent im Jahre 20132 auch deshalb möglich, weil die zusätzlichen Ausgaben durch Kanton und Bund (mit)finanziert wurden. Dies schwächte den Widerstand der Gemeinden, die eher «Ja» zu neuen Aufgaben sagten, wenn sie diese nicht vollständig selbst finanzieren mussten. Der jüngste Protest mehrerer Zürcher Gemeinden3, die sich in der «Arbeitsgruppe Sozialkosten» zusammentaten, ist ein Versuch kommunaler Exekutiven, auf den kantonalen Legislativprozess Einfluss zu nehmen. Nur gehen die Bestrebungen der Arbeitsgruppe dahin, dass die Soziallasten möglichst gleichmässig verteilt werden, nicht dass sie flexibilisiert oder gesenkt werden können. Der konkrete Vorschlag kommt dabei ausnahmslos von bürgerlichen Gemeindepolitikern, bleibt aber innerhalb der vorherrschenden Logik einer zentralen Steuerung in der Sozialpolitik und erhöht dabei die Abhängigkeiten der «freien Gemeinde» gegenüber dem Kanton.
Dem Prinzip der Freiwilligkeit wird die Mitverantwortung zur Seite gestellt, was erstere ergänzt und damit das Kräftespiel ausbalanciert. Individuelle Freiheit verbindet sich mit der Verantwortung aus dem eigenen Tun und einem Pflichtgefühl für die eigene Lebenswelt, den Nächsten. Was heisst das konkret? Es bedeutet etwa, dass Integrationsmassnahmen auf Gemeindeebene primär eine Holschuld des Integrationswilligen darstellen. Ihm oder ihr kann und soll zugemutet werden, für sich und seine Familie aktiv zu werden. Platzierungen von Kindern in Betreuungsstrukturen, die allein die Integration befördern sollen, sind demnach in Frage zu stellen. In bezug auf die Mitverantwortung für den anderen heisst das, dass sich jeder in seiner Gemeinde für die Gemeinschaft einsetzt. Dies kann im Schweizer Milizsystem noch immer viel einfacher erfolgen als in professionalisierten Demokratien. Politische Entscheidungsträger haben dem auch Sorge zu tragen und eine demokratische Kontrolle von Leistungen, die nicht vom Wettbewerb diszipliniert werden können, zu fördern. Dazu gehören z.B. Vormundschaft und Fürsorge, nicht dazu gehört aber das Betreiben von Altersheimen, Elektrizitätswerken oder Restaurants – Leistungen, die im freien Markt häufig besser erbracht werden. Mitverantwortung für den anderen heisst aber auch ganz konkret, ihm bei Bedarf unkomplizierte direkte Hilfe zukommen lassen! Sei dies beispielsweise im Rahmen des Engagements für Vereine zur Linderung von Armut oder durch direkte persönliche Hilfe in der Nachbarschaft. Die vielen Hilfsvereine der Schweiz waren eine solche private Initiative. Der Hülfsverein Stäfa, gegründet 1910 auf Antrag des Pfarrers der Gemeinde, hielt als Zweck in seinen Statuten fest, das «Interesse von Almosengenössigen […] zu wahren», und statuiert damit beispielhaft eine durch die lokale Gemeinschaft zu erhaltende Würde des einzelnen. 1880 wurden in der Schweiz noch 1085 solcher selbstregulierten «gegenseitigen Hilfsgesellschaften» gezählt, welche total zirka 200 000 Mitglieder umfassten4. Mittels staatlicher Intervention und Konkurrenzierung wurden diese privaten Initiativen jedoch immer mehr verdrängt. Heute gibt es sie, eine Ausnahme bleibt Stäfa, kaum mehr.
Es ist diese Selbstorganisation, welche die Brücke zwischen den Prinzipien Freiwilligkeit und Mitverantwortung schafft. Selbstorganisation meint damit nichtstaatliche und nur subsidiär öffentlich-rechtliche Leistungserbringung. Was heisst das konkret? Zuerst sind hier private Versicherungen zu nennen, die Folgekosten von Ereignissen wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Sachschaden – möglichst ohne vergesellschaftete Kosten – dem einzelnen anbieten. Darüber hinaus und damit jene einschliessend, die durch private oder genossenschaftlich organisierte Sicherungssysteme hindurchgefallen sind, soll die öffentliche Hand lokal5 unterstützen. Es sind in erster Linie die Gemeinden, die geeignet sind, auf diese Herausforderungen individuell einzugehen. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), organisiert als privatrechtlicher Verein, trägt dieser Erkenntnis Rechnung, indem beispielsweise Gemeinden die durch Steuergelder finanzierten Wohnkosten den Preisen vor Ort anpassen können. Darüber hinaus könnte den Gemeinden aber auch Raum für die Bemessung des Grundbedarfs zugestanden werden, um beispielsweise bei jungen, gesunden Menschen eine sukzessive Reduktion auf die minimale Nothilfe zu realisieren und so den Anreiz zu stärken, bei zunehmender Dauer der Abhängigkeit von der Sozialhilfe wieder auf eigenen Füssen zu stehen. Auch geht beispielsweise die Debatte über mehr Krippen- oder Klassenplätze, die die Gemeinde bereitstellen soll, an der Problemursache vorbei: Vor einer Subjekt- oder gar Objektfinanzierung durch die öffentliche Hand ist die Regulierungslast dieser Branche zu senken, um Anreize für die zu schaffen, die das Problem knapper Krippen- oder Schulplätze mit Hilfe der Selbstorganisation der Gemeindebewohner lösen wollen.
Selbstorganisation auf Stufe der Gemeinde ist demnach nur möglich, wenn Leistungserbringung und Finanzierung wieder stärker vor Ort ausgestaltet werden können. Die Komplexität der Finanzierungsmodelle steht dem jedoch aufgrund des vertikalen Lastenausgleichs zwischen Kanton und Gemeinde sowie des horizontalem Lastenausgleichs zwischen den Gemeinden entgegen. So praktizieren beispielsweise die Kantone Bern, Solothurn, Waadt, Jura und Freiburg einen vollständigen Ausgleich der effektiven Sozialhilfeausgaben zwischen allen Gemeinden.6 Diese Kantone weisen denn auch – mit Ausnahme von Freiburg – Sozialhilfequoten aus, die deutlich über dem nationalen Durchschnitt von 3,2 Prozent7 liegen. Das Auseinanderfallen von Leistungserbringung und Finanzierung könnte ein wichtiger Grund für die überdurchschnittlichen Sozialhilfequoten sein.
Das lebendige Vereinsleben der Schweiz sind starke, nonzentrale Strukturen, welche die Idee der Selbstverwaltung repräsentieren. Die Hälfte der Schweizer Bevölkerung betätigt sich während vierzehn Jahren8 in mindestens einem Verein – bei einer Summe von total 80 000 bis 100 000 Vereinen9. Entscheidungskompetenz und Verantwortung kommen in einem «autonomen Kleinraum» (Gasser) zusammen. Lokale Vereine bezwecken die Organisation eines Teils unserer Lebenswelt und sind vielleicht das wichtigste Element der Selbstorganisation und konkrete Umsetzung des Prinzips der Freiwilligkeit und der Mitverantwortung.
Damit in Gemeinden dieses erfolgreiche Prinzip der Selbstorganisation – sowohl auf der öffentlichen wie auch auf der privaten Seite – aufrechterhalten werden kann, benötigt es vor allem zwei Dinge: das Engagement des einzelnen und den politischen Willen, ihn dazu zu befähigen. Die Schwierigkeit, Freiwillige zu mobilisieren, ist dabei nicht neu. Vereinsprotokolle aus dem 19. und 20. Jahrhundert belegen das allenthalben. Auch das Angebot von Vereinen richtet sich an der Nachfrage aus. Die Vereinnahmung dieser privaten Initiativen mittels Unterstützung durch die öffentliche Hand ist meist gut gemeint und deshalb nicht unproblematisch: öffentliche Gelder werden für Partikularinteressen verwendet und strukturelle Anpassungen unter Umständen verhindert. Liberale müssen sich deshalb für eine lebendige, selbstbestimmte Gemeinde einsetzen und sich sowohl politisch wie privat für mehr Freiwilligkeit und Mitverantwortung stark machen, indem sie die Selbstorganisation der kleinsten sozialen Einheiten – politische Gemeinde und privatrechtliche Vereine – stärken. «Die Demokratie besitzt nur dort im grossen Raume gesunde Entfaltungsmöglichkeiten, wo sie im kleinen Raume täglich praktisch ausgeübt und verwirklicht wird.»10 Hier, vor der Haustür also, beginnt liberale Politik jenseits von Rhetorik.
David Dubach
ist Ökonom und Gemeinderat von Stäfa (Sozialvorstand), wo er auch lebt.
1 Reiner Eichenberger: Gemeindefusionen? Zumeist gibt es viel bessere Alternativen! In: Die Schweizer Bürgergemeinde 1/2010, S. 36 ff.
2 Bundesamt für Statistik, Februar 2016.
3 Neue Zürcher Zeitung, 3.7.2015 und 18.11.2015.
4 Dies entsprach rund 7 Prozent der Gesamtbevölkerung von 2,8 Millionen; Hermann Kinkelin: Die gegenseitigen Hilfsgesellschaften in der Schweiz 1880. Bern: Schmid, Francke & Company, 1887.
5 Dies fordert im Grundsatz auch Friedrich August von Hayek: «Wherever communal action can mitigate disasters against which the individual can neither attempt to guard himself nor make provision for the consequences, such communal action should undoubtedly be taken.» Aus: Friedrich August von Hayek: The Road to Serfdom. London: George Routledge and Son, 1944, S. 125.
6 SKOS-Factsheet «Innerkantonaler Lastenausgleich», 8.2014.
7 Bundesamt für Statistik, 2014.
8 Bundesamt für Statistik, 2004.
9 Bernd Helmig, Hans Lichtsteiner, Markus Gmür (Hrsg.): Der dritte Sektor der Schweiz. Bern: Haupt, 2010.
10 Adolf Gasser: Gemeindefreiheit als Rettung Europas. Grundlinien einer ethischen Geschichtsauffassung. Zweite, stark erweiterte Auflage. Basel: Bücherfreunde, 1947. S. 11.