Gemeindeautonomie ist weder links noch rechts – sondern zukunftsweisend
Ob Verkehrspolitik, Schule oder Windräder: Der Gestaltungsspielraum der Gemeinden wird laufend untergraben. Ein Deal könnte die politischen Gräben überwinden.

Zwischen der Stadt und dem Kanton Zürich tobt ein Streit um die Geschwindigkeit. Die Stadt pocht darauf, autonom Tempo 30 einführen zu dürfen – selbst auf Hauptstrassen. Der Kanton will das mit übergeordnetem Recht verbieten.
Anders bei der Windenergie. Der grüne Baudirektor Martin Neukom will im ganzen Kanton rund 100 Windräder von bis zu 220 Metern Höhe errichten. Die betroffenen Gemeinden haben aus seiner Sicht keine Entscheidungskompetenz in dieser Frage. Doch viele der oft bürgerlichen Landgemeinden wehren sich gegen die Windräder und die hoheitliche Machtanmassung der Kantonsregierung.
Dass sich rot-grüne Stadtzürcher über das verkehrspolitische Machtwort des Kantons echauffieren, ist verständlich. Doch die gleichen Leute, die hier auf der Gemeindeautonomie beharren, bejubeln die Bevormundung von Landgemeinden, wenn dadurch erneuerbare Energien gefördert werden können. Umgekehrt zucken Bürgerliche, welche die Souveränität von Gemeinden bei der Windenergie hochhalten, mit den Schultern, wenn der Kanton der Stadt Zürich Tempovorschriften macht. Kommunale Souveränität scheint nur dann etwas zu gelten, wenn sie einem selber nützt. Das Prinzip der Gemeindeautonomie ist jedoch zu wichtig, um es politisch zu instrumentalisieren.
Natürlich kann man legitimerweise argumentieren, dass nicht nur Stadtbewohner, sondern auch Auswärtige von den Geschwindigkeitsbegrenzungen in den Städten betroffen seien und deshalb der Kanton der richtige Entscheidungsträger sei. Ebenso kann man den Zubau der erneuerbaren Energie als derart zentral ansehen, dass er das Übergehen der Gemeinden rechtfertige. Doch mit solchen Argumenten kann man jede noch so geringe Entscheidungskompetenz einer unteren Einheit ausschalten. Schliesslich hat jeder Entscheid in irgendeiner Form Auswirkungen über die jeweilige Gemeinde oder den Kanton hinaus.
Die Schweiz funktioniert anders. Sie ist von unten nach oben aufgebaut. Will heissen: Grundsätzlich entscheiden die Gemeinden, erst subsidiär der Kanton und erst subsidiär dazu der Bund. Im Streitfall sollte die Entscheidungskompetenz daher auf der jeweils unteren Ebene liegen.
Die politische Realität ist freilich eine andere. In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist nicht nur der Föderalismus ausgehöhlt worden, indem der Bund stetig seine Kompetenzen ausweitet (zuletzt etwa bei der Finanzierung von Kinderkrippen). Auch die Gemeindeautonomie wird in verschiedenen Bereichen untergraben. Ein paar Anschauungsbeispiele aus dem Kanton Zürich:
- 2017 verfügte der zuständige Stadtrat, dass die Zürcher Stadtpolizei die Nationalität von Tätern in Polizeimeldungen nicht mehr nennen dürfe. Es ist das gute Recht einer demokratisch gewählten Regierung, weltfremde und kontraproduktive Massnahmen zu beschliessen – könnte man meinen. Doch der Entscheid löste eine Gegenreaktion auf kantonaler Ebene aus, und 2021 entschied das Volk, dass die Polizei im ganzen Kanton die Nationalität zwingend nennen muss.
- In der Volksschule macht der Kanton Zürich den Gemeinden detaillierte Vorgaben, wie viele Schüler in einer Klasse sein sollen, wie viele Heilpädagogen oder Schulsozialarbeiterinnen es braucht und welche Betreuung die Kinder ausserhalb der Unterrichtszeiten erhalten. Die Gemeinden haben fast nichts zu sagen – nur zu bezahlen.
- Hier sind wir bei einem Grundproblem. Die Gemeinden haben zwar Budgetautonomie, zugleich müssen sie immer mehr Vorschriften von oben umsetzen. Ihre Ausgaben sind zu rund drei Vierteln gebunden, sprich: von oben vorgegeben. Es ist paradox: Die Gemeinden können zwar selber Steuern erheben, aber kaum noch entscheiden, wofür sie das Geld ausgeben.
- Jüngst setzte der Kanton auch noch einen obendrauf. Er will sich nun auch noch bei den Einnahmen der Gemeinden bedienen. Die Grundstücksgewinnsteuer, die bislang bei den Gemeinden verblieb, soll künftig zu 25 Prozent an den Kanton fliessen. Das würde den finanziellen Spielraum der Kommunen noch weiter einschränken – und damit ihre Autonomie.
Das sind beunruhigende Zeichen. Dezentrale Strukturen sind effizienter, bürgerfreundlicher und sinnvoller – gerade in Zeiten der politischen Polarisierung. Wenn sich Stadt und Land nicht einig sind über Verkehrs- oder Bildungspolitik, warum sollen nicht einfach die Gemeinden selbstständig entscheiden?
Die Gemeindeautonomie wäre ein Thema, wo Rechte und Linke eine gemeinsame Schnittmenge ihrer Interessen finden könnten. Wie wäre es mit diesem Deal: Die Gemeinden dürfen grundsätzlich eigenständig über Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Strassen entscheiden, die sie selber bezahlen, – und auch über Energieanlagen auf ihrem Gebiet. Dazu könnte in der Kantonsverfassung das Prinzip der Gemeindeautonomie griffiger formuliert werden.
Der Dezentralisierung gehört die Zukunft. Die Schweiz kann dabei eine Vorreiterrolle übernehmen – angefangen auf der unteren Staatsebene.