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Geistes Schwäche

Geisteswissenschaften produzieren Sinn. Darum braucht es sie – eine Verteidigung.

Geist denkt, Geld lenkt. Was Oswald Spengler in seinem vor bald einem Jahrhundert geschriebenen Buch «Der Untergang des Abendlandes» für Europa prognostiziert hat, scheint in einer beunruhigenden Weise Wirklichkeit geworden zu sein. Umgeben von unbeschwert auftrumpfenden Maschinen- und Ingenieurwissenschaften, Ökonomen und Betriebswirten, geraten Geisteswissenschaften, die mit der Frage konfrontiert werden, welchen Nutzen sie denn hätten, alsogleich in Rücklage.

Die Selbstverteidigung der Geistes- und Kulturwissenschaften nimmt viel Zeit und Papier in Anspruch und gipfelt, wie im gerade erschienenen neuesten Heft der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (4, 2007), in der pessimistischen Feststellung, dass die Frage nach dem Nutzen der Geisteswissenschaften leider nicht viel Handfestes zu Tage fördere. Wobei unsere Gesellschaft, und hier kommt ein leicht drohender Unterton ins Spiel, ohne geistige, kulturelle und soziale Anstrengung ihre schöpferische Substanz verliere.

Was hier dunkel angetönt wird, lässt sich scharf benennen: Geistes- und Kulturwissenschaften haben eine besondere Aufgabe. Sie sind kein Begleitprogramm, kein Beipackzettel der technisch, wirtschaftlich und gestalterisch tätigen Wissenschaften, sondern deren Grundlage. Aber ihre Produktion ist, um es wirtschaftstechnisch auszudrücken, von völlig anderer Natur. Sie produzieren Lesarten, Deutungen, Sinn. Und Sinn ist in einer modernen Gesellschaft nicht mehr vorgegeben, sondern aufgegeben.

Auch die Wirtschaft braucht Sinn. Wenn die Innovationskraft der Elektroniker immer grössere Flachbildschirme und immer leichtere Notebooks hervorbringt, verbirgt sich dahinter ein Sinn. Und wenn die Forschung der Maschinen-ingenieure Himmel und Erde erzittern lassen, ist diese getragen von Sinn. Auch Arbeitswillen und Motivation zehren von Sinn. Dass der Bedarf an Sinnproduktion akut ist, zeigt der Strom von Lebenssinnfindungsliteratur – von Hape Kerkeling «Ich bin dann mal weg» bis «Und plötzlich guckst du bis zum lieben Gott» von Markus Lanz. Die Welt stellt Fragen, die sich weder durch federleichte Computer noch durch immer grössere Flachbildschirme und auch nicht durch Pilgerfahrten beantworten lassen. Geben die Wirtschaftswissenschaften, die Betriebswirtschaft und die Managementlehre eine Antwort? Haben Technik und Mathematik und Informatik, deren Nutzen so unbestreitbar ist, eine Idee davon, auf welcher Grundlage sie eigentlich arbeiten? Was ist der Sinn des glänzenden Schauspiels der westlichen Zivilisation?

Bildung heisst, über die Welt im Bilde zu sein und sagen zu können, woher dieser grossartige Einsatz rührt, der zu diesem historischen Maximum an Möglichkeiten geführt hat, das wir staunend sehen. Ob in den Wunderwerken der technischen Zivilisation eine christliche Heilsbotschaft in verweltlichter Form noch schlummert – vielleicht. Ob die vorwärtseilende Wirtschaft, einschliesslich des derzeit instruktiven Börsengeschehens, noch Restbestände göttlicher Vorsehung impliziert – kann sein. Aber es gibt keine imperative Deutung des Weltgeschehens mehr, keine grosse Erzählung. Die Kraft der Moderne liegt in ihrer Selbstüberarbeitungsfähigkeit, im Erzeugen von Neuem, auch neuen Weltdeutungen und Denkmöglichkeiten.

Bildung in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, in Fächern wie Anthropologie, Ethnologie, Religionswissenschaften, Kunstwissenschaft oder Germanistik, heisst Lesarten der Welt, ihrer Herausforderungen, ihrer Artefakte und Texte entwickeln zu lernen. Zu lernen, in Möglichkeiten und Alternativen zu denken. Eine freie und offene Gesellschaft denkt in mögliche Zukünfte hinein und testet Räume aus, von denen die Physik nichts weiss. Wer diese Möglichkeitsproduktion unterdrückt, zersetzt die Grundlagen einer freiheitlichen und offenen Gesellschaft und schnürt mit der Propagierung eines universellen Nutzenimperativs die Basis der eigenen Wissensproduktion ab.

Der Geist denkt, das Geld lenkt. Geld, der quantitative Ausweis des Nutzens, scheint das ultimative Sinnfindungsmittel, und materieller Wohlstand das Endergebnis geschichtlicher Sinnfindungsprozesse zu sein. Wirtschaftsfreundlichkeit und nicht Kultur- oder Geistfreundlichkeit ist Attest für die Wahlfähigkeit als Politiker und die Annehmbarkeit als Liberaler. Die Marktwirtschaft ist freilich selber keine wirtschaftliche, sondern eine kulturelle Innovation.

Man muss sich heute Sorgen machen um den Geist und die Wissenschaften, die sich ihm verpflichtet haben. Sie müssen gefordert werden und haben sich selber zu explizieren. Ihr blosses Dasein entfaltet nicht von sich aus schon eine heilsame Wirkung. Sie müssen ihren Sinn selbst explizieren, einen Sinn, der über eine Verteidigung ihrer Nichtnützlichkeit hinausgeht. Sonst widerfährt ihnen dasselbe, wie wenn sie sich als clowneskes Beiprogramm zu den wirtschaf

tsnahen Disziplinen anbieten: sie werden marginalisiert.

PETER GROSS, geboren1941, ist emeritierter Professor für Soziologie an

der Universität St. Gallen. 2007 erschien von ihm «Jenseits der Erlösung».

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