Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Der Anti-Wokeness fehlt ein
positives Fundament

Früher stand das Bürgertum für Solidität und eine bestimmte Moral. Heute konzentriert es sich auf die Ablehnung progressiver Positionen. Wer sich aber nur über den Widerstand gegen andere Meinungen definiert, macht sich von ihnen abhängig.

Der Anti-Wokeness fehlt ein positives Fundament
Pride Parade, Bild: Pixabay/Surprising_SnapShots

Einer der Ersten, der die Political Correctness ins Visier nahm, war George Bush der Ältere. In einer Rede an der Universität Michigan 1991 stellte der damalige US-Präsident fest, dass die freie Meinungsäusserung unter Beschuss geraten sei. Der Begriff der politischen Korrektheit habe über das ganze Land Kontroversen entzündet. Und obwohl diese Bewegung dem guten Wunsch entsprungen sei, Rassismus und Sexismus wegzufegen, ersetze sie alte Vorurteile durch neue. Sie erkläre bestimmte Themen, bestimmte Begriffe und sogar bestimmte Gesten zum Tabu.

Bis die Debatte um Political Correctness den deutschsprachigen Raum erreichte, dauerte es nicht lange. 1994 publizierte beispielsweise «Der Spiegel» erste Artikel dazu. 1 In diesem Jahr erschien in deutscher Übersetzung auch das Buch «Political Correctness oder Die Kunst, sich selbst das Denken zu verbieten» von Robert Hughes. 1995 folgten viele weitere Artikel zum Thema. 2 Auch die ersten deutschsprachigen Bücher dazu wurden veröffentlicht. 3

Die Diskussionen und Auseinandersetzungen darüber haben die westlichen Gesellschaften seither nicht losgelassen und sind jüngst sogar intensiver geworden: Neue Begriffe und Unterthemen sind aufgetaucht, zum Beispiel Cancel Culture, Gender und seit einiger Zeit vor allem Woke beziehungsweise Wokeness. Im Grunde jedoch geht es immer um das Gleiche: Eine riesig gewordene Menge an Publikationen attackiert einen linksgrünen Zeitgeist, der vermeintlich oder tatsächlich das Denken beherrscht und die Gesellschaft umgestaltet.

Nach zirka dreissig Jahren ist es möglich, mit einer gewissen Distanz auf diese Debatten zu schauen. Unter anderem kann man fragen, wie sich die Anti-Correctness- beziehungsweise Anti-Wokeness-Bewegung eigentlich zur Kategorie der Bürgerlichkeit verhält. Auf einen ersten Blick scheint es da eine grosse Nähe, ja Übereinstimmung zu geben. Der eingangs erwähnte George Bush beispielsweise war eine durch und durch bürgerliche Figur. Aber ganz so klar ist das möglicherweise nicht.

Das langsame Verschwinden alter Bürgerlichkeit

In seinem schönen Buch «A War for the Soul of America», in dem er die neueren Kulturkämpfe in den USA nachzeichnet, verwendet der Historiker Andrew Hartmann den Begriff des «normative America». Darunter versteht er Wertvorstellungen, die das amerikanische Denken über viele Jahrzehnte bestimmt haben. Man schätzte harte Arbeit und persönlichen Verdienst hoch, verband Sexualität mit der heterosexuellen Ehe und ging von relativ klaren Geschlechterrollen aus, in denen der Mann arbeitete und die Frau sich in erster Linie um die Kinder kümmerte. Diese Vorstellungen verloren im Zuge dessen, was Ronald F. Inglehart «Die stille Revolution» nannte, sukzessive an Rückhalt. Immaterielle Werte wie Selbstverwirklichung und Genuss gewannen an Bedeutung, während materielle Ziele an Gewicht verloren.

Diese Entwicklungen, die sich ähnlich wie in den USA auch in Europa abspielten, nahmen in den 1960er- und ’70er-Jahren Fahrt auf (Ingleharts Buch erschien 1977). In den 1990er-Jahren, als die Debatte um die Political Correctness einsetzte, hatte die alte Bürgerlichkeit, wie wir sie nennen können, schon viel von ihrer Kraft verloren. Gerade das Ende von George Bushs Amtszeit und der Wechsel zu Bill Clinton 1992 zeigt das an: Nach dem etwas hölzernen Bush, der das alte Ethos geradezu mustergültig verkörperte, kam nun ein neuer Mann, der Saxofon spielte und nicht so genau wusste, ob er Marihuana geraucht hatte oder nicht.

«In den 1990er-Jahren, als die Debatte um die Political Correctness
einsetzte, hatte die alte Bürgerlichkeit, wie wir sie nennen können, schon viel von ihrer Kraft verloren.»

1989 brach der Sozialismus in Osteuropa zusammen. Die Bürgerlichen glaubten noch lange, dass sie auf der Siegerseite stünden und dass bei ihnen nichts passiert sei. Doch auch bei ihnen erodierte seit längerem das ideelle Fundament. Ein Grund dafür war der Bedeutungsverlust der Religion als öffentliche Macht. Die alte bürgerliche Ideenwelt war in weiten Teilen religiös konnotiert gewesen, auch wenn man das nicht so oft aussprach. Die Idee der monogamen, im Prinzip unauflösbaren Ehe beispielsweise speiste sich aus christlichen Quellen. Viele konservative Parteien trugen denn auch das Wort «christlich» im Namen und nannten sich christdemokratisch.

Aber auch den bürgerlichen Politikerinnen und Politikern wurde dieser ideelle Bezug etwas peinlich; auch sie wollten sich locker zeigen, auch in ihren Biografien wurden Abweichungen vom alten moralischen Kodex häufiger. In dieser Situation schien die Anti-Correctness Kompensation zu leisten. Das erklärt wohl die Kraft dieser Bewegung; sie füllt eine gewisse Lücke.

Die Anti-Correctness beziehungsweise Anti-Wokeness schien quasi nahtlos an alte bürgerliche Überzeugungen anzuschliessen. Doch genau betrachtet gibt es zwischen ihr und der traditionellen Bürgerlichkeit signifikante Unterschiede.

Die verlorene Moral

Der Soziologe James Davidson Hunter veröffentlichte bereits 1991 sein Buch «Culture Wars – The Struggle to Define America» zu den kulturellen Konflikten der Gegenwart. Er porträtiert darin verschiedene Personen auf beiden Seiten der Konfliktlinie. Etwas, was die konservativen Figuren eint, ist, dass sie in ihrer eigenen Wahrnehmung gegen den moralischen Verfall kämpfen. Im Epilog des Buches gipfelt das in der Aussage: «Indeed, the very word ‹morality› has become a right-wing word.» 4

Moral war einmal eine konservative Angelegenheit. Der politisch einflussreiche Prediger Jerry Falwell gründete 1979 die Organisation «Moral Majority», welche die Moral im Titel trug. In Europa war es nicht viel anders. Helmut Kohl wurde die Absicht zugeschrieben, eine «geistig-moralische Wende» herbeizuführen (ein Ausdruck, den er selbst allerdings nie verwendete).

In der Nachkriegszeit stand das Bürgertum für eine bestimmte Anständigkeit, für einen Moralkomplex. Gegen diese Moral lehnten sich in den 1960er- und ’70er-Jahren die sozialen Bewegungen auf, mit Experimenten wie dem Leben in der Kommune und ihren Liberalisierungsforderungen. In der Konstellation der Zeit waren sie die Unanständigen, die Zotteligen und Dubiosen.

Seither haben sich die Dinge seltsam umgekehrt. Nun steht eher die Linke für die Moral, während die Rechten, und besonders die Exponenten der Anti-Woke-Bewegung, sich häufig von der Moral beziehungsweise dem «Moralismus» distanzieren. Die Berufung auf den Moralismus lässt zwar die Möglichkeit offen, weiterhin für die Moral zu sein. Aber besonders weil der Begriff des Moralismus reichlich offen ist, fällt die Grenzziehung in der allgemeinen Wahrnehmung nicht so klar aus. Zudem sind auch Losungen zu vernehmen, die sich gegen die Moral selbst wenden. Für das allgemeine Publikum jedenfalls ist der Eindruck heute der, dass die Moral sich mit linken Positionen verbindet, etwa in Umwelt- oder Migrationsfragen.

«Nun steht eher die Linke für die Moral, während die Rechten,
und besonders die Exponenten der Anti-Woke-Bewegung, sich häufig von der Moral beziehungsweise dem ‹Moralismus› distanzieren.»

Die Moral ist wahrscheinlich das Thema, bei dem sich alte Bürgerlichkeit und neue Anti-Wokeness am deutlichsten trennen. Die Vertreter der Letzteren haben die Moral weitgehend preisgegeben. Sie scheinen darin kein besonderes Problem zu sehen, doch dürfte dies ein Irrtum sein. So gut wie jeder Mensch hat Mühe damit, in einer moralisch suspekten Ecke zu stehen. Es gibt eigentlich niemanden, der von sich ohne Weiteres sagen würde, er sei ein schlechter oder unmoralischer Mensch. Der Verlust der Moral führt dazu, dass sich die Bürgerlich-Konservativen in einer strukturellen Defensive befinden. Sie sind immer schon in der Rolle der Verdächtigen und damit diskursiv im Nachteil.

Stilwandel

Ein zweiter Punkt, der eine Differenz markiert, ist der Stil. Die alten Bürgerlichen sahen anders aus als die neuen Antikorrekten. Sie hatten ein Erscheinungsbild, das vor allem Seriosität vermitteln sollte. Betrachtet man prominente nominell konservative Exponenten unserer Zeit wie etwa Donald Trump und Boris Johnson, so könnte der Unterschied nicht deutlicher sein. Diese bemühen sich dezidiert nicht mehr, als seriös zu erscheinen. Die irische Journalistin Angela Nagle hebt in «Kill All Normies» hervor, dass die Anti-Woken selbst Kinder der Kulturrevolution der 1960er- und ’70er-Jahre seien. Sie seien individualistisch, ironisch, postmodern und damit stilistisch dem nahe, wofür die linken Opponenten einmal von der bürgerlichen Rechten angeklagt worden seien. Trump, 4chan, Alt-Right etc. stellten «eine ziemlich dramatische Abkehr vom zur Kirche gehenden, aufrechten, zugeknöpften Familien-Werte-Konservatismus» dar, den man üblicherweise mit diesem Begriff verbinde, so Nagle. 5

Auch in diesen Belangen sieht der Unterschied auf den ersten Blick unspektakulär aus, hat aber weitreichende Konsequenzen. Denn das Versprechen der bürgerlichen Rechten war ja immer gerade die Seriosität gewesen. Niemand erwartete, wenn er Politiker wie Helmut Kohl oder John Major wählte, dass es bei diesen enorm inspirierend oder originell zugehen würde. Die Erwartung war aber, dass mit diesen Kräften alles in den Bahnen einer gewissen Solidität verlaufen würde. Dieses Angebot können die heutigen Rechten, zumindest was die kämpferische Anti-Wokeness-Fraktion betrifft, nicht mehr glaubwürdig machen.

Ähnlich wie bei der Moral haben sich auch hier die Rollen teilweise vertauscht. Die Exponenten des progressiven Lagers haben überwiegend einen bürgerlicheren, konventionelleren Auftritt angenommen. Die Zeiten, in denen sie mit Strickpullovern und Wollsocken in den Parlamenten sassen, sind längst vorbei. Das Versprechen von Seriosität können sie daher heute oft glaubwürdiger geben als viele nominell Konservative.

Chancen für eine neue Bürgerlichkeit

«Links ≠ woke» lautet der Titel eines Buches von Susan Neiman. Könnte man auch sagen «bürgerlich ≠ anti-woke»? Das ginge wohl etwas zu weit.

Aber zwischen diesen beiden Komplexen besteht ein nicht eindeutiges und nicht unkompliziertes Verhältnis. Die Anti-Wokeness kann das Erbe einer alten Bürgerlichkeit nicht einfach so übernehmen. Sie ist in vielem anders gestrickt. Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass die traditionelle Bürgerlichkeit ein positives Lebensmodell vermittelt hat. Ein solches fehlt bei der Anti-Correctness beziehungsweise Anti-Wokeness. Diese ist, wie der Begriff schon zeigt, negativ bestimmt, im Kern reaktiv. Sie ist mental abhängig von den Entwicklungen im progressiven Spektrum, auf die sie ablehnend reagiert.

Mit Blick in die Zukunft stellt sich die Frage, ob die Konservativen wieder stärker an eine traditionelle Bürgerlichkeit anschliessen könnten oder sollten. Eine alte Bürgerlichkeit im Stil der 1960er-Jahre wird nie mehr kommen, das ist klar. Sie hat ihre Grundlagen verloren und findet keine Akzeptanz mehr. Doch die Kulturkämpfe unserer Zeit wirken oft seltsam steril und ausweglos. Im Grunde tut sich nicht viel, aber die gegenseitige Frustration wird immer grösser, die Nerven liegen immer öfter blank.

«Die Kulturkämpfe unserer Zeit wirken oft seltsam steril und ausweglos.»

In dieser Konstellation könnte eine neue Bürgerlichkeit vielleicht sogar wieder Chancen haben. Dazu müsste das bürgerliche Denken sich seiner Fundamente aber wieder stärker vergewissern und insbesondere auch moralisch wieder sprechfähig werden. In vielen bürgerlichen Anliegen stecken moralische Postulate und Gerechtigkeitsüberlegungen, die sich die Protagonisten oft nicht bewusst machen.

Wenn in Deutschland beispielsweise kritisiert wird, dass Sozialhilfebezüger in manchen Fällen ein ähnliches Einkommen erzielen wie Menschen, die arbeiten, so geht es dabei auch um Gerechtigkeit: Es ist nicht gerecht, dass jemand, der nicht arbeitet, obwohl er es könnte, am Ende ähnlich viel bekommt wie jemand, der täglich zur Arbeit geht. Die Kritik an solchen Zuständen ist teilweise moralisch, kann das aber in der Regel nicht artikulieren und kommt daher unmoralisch daher.

Sich die positiven Motive wieder bewusster zu machen, könnte den bürgerlichen Kräften helfen, neues Selbstbewusstsein zu gewinnen und eigenständige Positionen zu markieren. Für solche gibt es einen Bedarf. Das ganze Geschrei, das wir auf Social Media sehen, tut niemandem gut. Eine zeitgemässe Form von Zivilität, die ein Feld jenseits unproduktiver Konfrontationen und destruktiver Energien markiert, ist nötiger denn je.

  1. «Die Etikette der Gleichheit»; «Dickwanst im Dunst», beide in: Der Spiegel, 10.7.1994.

  2. Beispielsweise von Cora Stephan («Political Correctness, Identität und Werterelativismus». In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 19. Mai 1995), Klaus Harpprecht («Die Torheit der Gesinnungswächter». In: Die Zeit, 27. Januar 1995) oder Michael Klonovsky («Die Guten auf dem Kriegspfad». In: Focus, 15. April 1995).

  3. «‹Politische Korrektheit› in Deutschland. Eine Gefahr für die Demokratie» von Michael Behrens und Robert von Rimscha sowie «Deutsches Phrasen-Lexikon. Politisch korrekt von A bis Z» von Klaus Rainer Röhl.

  4. James Davidson Hunter: Culture Wars – The Struggle to Define America. BasicBooks, New York 1991, S. 232.

  5. Angela Nagle: Kill All Normies – Online Culture Wars from 4chan and Tumblr to Trump and the Alt-Right, Zero Books, Winchester 2017, S. 56 f.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!