Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Gegen den Richterstaat

Eine Kritik am exekutiv-richterlichen Komplex

Wer die real existierende EU analysiert, entdeckt schnell

einmal den hohen Stellenwert jener Institutionen, die das

Vertragsrecht anwenden und verbindlich auslegen: der Kommission

(Exekutive) und des EU-Gerichtshofs. Obwohl sie

eigentlich dazu nicht berufen sind, nehmen sie in hohem

Masse gesetzgeberische Funktionen wahr. Grundlegende

allgemeinverbindliche Regeln wie etwa das Cassis-de-Dijon-

Prinzip, das den Handel im Binnenmarkt liberalisiert,

wurden von Richtern erlassen. Sie gelten allerdings nur auf

Abruf, «solange keine gemeinsame Regulierung getroff en ist»

und sind darum als provisorisches Verfassungsrecht zwar erfahrungsgemäss

relativ dauerhaft, aber weder rechtsstaatlich

noch demokratisch fundiert.

Wir haben es hier mit einer politisch wertenden Justiz zu

tun. Der deutsche Ökonom Roland Vaubel hat in verschiedenen

Beiträgen empirisch nachgewiesen, dass oberste Verfassungsgerichte

weltweit keine verlässlichen Wächter über

die in der Verfassung garantierten Freiheiten sind. Auch

in der EU ist die richterliche Gewalt nicht jenes Bollwerk,

das für die Individualrechte und gegen die Zentralbürokratie

errichtet wurde, sondern der kooperative Partner der

Kommission, der die Macht der Exekutive stützt und legitimiert.

Dasselbe gilt für das Verhältnis von Zentralmacht und

Mitgliedstaat, unabhängig davon, ob man es mit einem

Staatenbund, einem Staatenverbund oder mit einem Bundesstaat

zu tun hat. Die wirksamsten und schonungslosesten

Abbauer gliedstaatlicher Eigenständigkeit sind die Verfassungsgerichte

gewesen. Was sich im Staatenverbund EU abspielt,

ist im Bundesstaat USA im Lauf der letzten 80 Jahre

vorexerziert worden: eine schrittweise Verstärkung der Zentralregierung

mit Hilfe höchstrichterlicher Entscheidungen

und ohne Einbezug der eigentlich zuständigen Parlamente,

kurz, Politik durch Richterrecht.

Die grosse Schwäche der EU im Bereich der Legislative

hängt mit der Tatsache zusammen, dass man in einem

Staatenverbund, der an sich noch weniger zentralistisch sein

sollte als ein Bundesstaat, eine einzige, schlecht legitimierte

zentralistische Institution geschaff en hat, die angeblich die

auf den Verfassungsvertrag abgestützten allgemeinverbindlichen

Gesetze erlässt. So wird ein Zentralstaat einem Kontinent

aufgezwungen, dessen historisch-politische Strukturen

höchstens eine nach aussen off ene Freihandelsassoziation

und allenfalls noch einen auf Frieden und gemeinsame Sicherheit

ausgerichteten Staatenbund verkraften. Schon ein

Bundesstaat mit einem funktionierenden Zweikammersystem,

in dem die Kleinen, Bevölkerungsschwachen gleiche

legislative Mitbestimmungsmöglichkeiten hätten wie die

Grossen, wäre – anders als in den USA und in der Schweiz

– in der EU nicht konsensfähig.

Das eigentliche Th ema, das staatspolitisch analysiert

und diskutiert werden müsste, ist nicht der Gegensatz von

Rechtsstaat und Demokratie, sondern der off enbar unaufhaltsame

Vormarsch des Richterstaats, der an die Stelle des

klassischen Gesetzgebungsstaates tritt. Das rechtsstaatliche

und das föderalistische Prinzip der checks and balances wird

damit ausgehebelt.

Dieser Prozess ist nicht nur in der EU im Gange. Er lässt

sich auch in der Schweiz beobachten. Das Bundesgericht

übt immer weniger Zurückhaltung, wenn es Entscheide

zu fällen hat, die politische Grundfragen betreff en und die

auf einer weitgehend politischen Interpretation von Verfassungs-

und Gesetzesgrundlagen beruhen. Wer sich mit den

jeweiligen höchstrichterlichen Entscheiden identifi ziert und

im zunehmenden Zentralismus und Etatismus einen Fortschritt

sieht, mag diese Entwicklung begrüssen, selbst wenn

er an sich das Prinzip der Gewaltentrennung befürwortet.

Aber die Zahl der Menschen, die an Prinzipien auch dann

festhalten, wenn sie Resultate hervorbringen, die eigenen

Auff assungen und Interessen zuwiderlaufen, ist ohnehin begrenzt.

Viele sind für Demokratie, solange die Demokratie

für sie ist, und für «mehr Demokratie», wenn sie damit Sukkurs

für ihre eigenen politischen Anliegen wittern. Dasselbe

gilt für den Rechtsstaat. Die schwammige Gegenüberstellung

von Rechtsstaat und Demokratie ist darum so attraktiv,

weil sie eine Prinzipientreue à la carte ermöglicht. Im Fall

von Widersprüchen hat man mindestens eines der Prinzipien

auf seiner Seite.

Der weltweit zu beobachtende Trend, dass Verfassungsgerichte

tendenziell gouvernemental, zentralistisch und

auch wohlfahrtsstaatlich entscheiden, hat höchst komplexe

Ursachen. Der Rechtsstaat ist im 20. Jahrhundert (dem

Jahrhundert der Weltkriege) mit dem Sozialstaat faktisch

verschmolzen worden. Sozialpolitisch motivierte Umverteilung,

ursprünglich eine auf die fi nanziellen Möglichkeiten

des Gemeinwesens abzustimmende Massnahme im Ermessensbereich,

ist zu einem Bündel von Rechtsansprüchen

umfunktioniert worden.

Der Berner Staatsrechtslehrer Walther Burckhardt hat

in seinem Buch «Die Organisation der Rechtsgemeinschaft

» (Basel 1927) auf die grundsätzlichen Unterschiede

zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung hingewiesen.

«Der wesentliche Unterschied zwischen Rechtsetzung

und Rechtsanwendung ist also, dass Rechtsetzung neues Recht

schaff t, auf selbständigem Werturteil beruht, während die

Rechtsanwendung nur die tatsächlichen Voraussetzungen des

geltenden Rechts festsetzt und rechtlich nichts Neues schaff t.»

Für Burckhardt geht das gesetzte Recht (aller Stufen) der

Rechtsidee vor, und der Rechtsanwender darf daher seine

eigenen diesbezüglichen Vorstellungen nicht in sein Urteil

einfl iessen lassen, auch nicht auf dem Weg der stets «gut

gemeinten» Interpretation. Während in der EU diese Unterscheidung

längst missachtet wird, gibt es in der Schweiz

noch die Chance einer Rückbesinnung.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!