Gefährliche Passage
Die junge Frau hat das Kind in ein reinweisses Tuch gehüllt und trägt es eilig an den fremden Männern vorüber. In den billigen Plastiksandalen geht sie so schnell, wie sie kann. Noch wenige Schritte, und die Gefahr ist vorbei. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie, was hinter ihrem Rücken geschieht. Um nicht die Blicke der Männer […]
Die junge Frau hat das Kind in ein reinweisses Tuch gehüllt und trägt es eilig an den fremden Männern vorüber. In den billigen Plastiksandalen geht sie so schnell, wie sie kann. Noch wenige Schritte, und die Gefahr ist vorbei. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie, was hinter ihrem Rücken geschieht. Um nicht die Blicke der Männer auf sich zu ziehen, darf sie keinesfalls schneller laufen. Nur Unauffälligkeit bietet Sicherheit. Sie will weder gesehen noch gehört werden. Doch wie stellt man es an, unsichtbar zu sein, wenn man unmöglich zu übersehen ist?
Zwar haben sich an diesem Morgen mehrere Frauen auf die Strassen gewagt. In grünen und blauen Kanistern bringen sie Wasser und Lebensmittel in ihre Behausungen. Aber die Krieger, die kürzlich das halbverwüstete Viertel besetzt haben, sind zu allem fähig. Sie allein tragen Waffen. Von ihren Untaten weiss man aus Berichten und Gerüchten. Ihrem Mutwillen haben die Bewohner nichts entgegenzusetzen, seitdem die Garden des alten Präsidenten die Gegend räumen mussten. Einige Frauen bieten den Eroberern Kolanüsse an, als Zeichen der Gastfreundschaft und Friedfertigkeit. Andere riskieren sogar einen kurzen Wortwechsel. Doch die meisten eilen in sicherer Entfernung an den Patrouillen vorbei. Bis zuletzt galt das Elendsquartier Yopougon in Abidjan, der Wirtschaftsmetropole der Elfenbeinküste, als Hochburg des Despoten Laurent Gbagbo. Die Bewohner wissen, dass sie von den Gefolgsleuten des Wahlsiegers Alassane Quattara Rache und Willkür zu befürchten haben.
Die Eroberer sind ganz mit sich selbst beschäftigt. In der Hocke sitzend, bilden sie einen geschlossenen Kreis. So pflegen sie gemeinsam zu essen oder Kriegsrat abzuhalten. Gerade scheinen sie zu bereden, in welche Richtung sie weitermarschieren sollen.
Der Anführer zeigt mit ausgestrecktem Arm und beringten Fingern nach links, ein anderer in Richtung der Kamera. Offenbar verfügen sie weder über einen Stadtplan noch einen Kompass, um sich zuverlässig zu orientieren. Sie sind fremd in der Stadt, und das Slumviertel ist nur eine Zwischenstation zum Palais des alten Regimes. Obwohl sie offiziell der Republikanischen Armee Quattaras zugehören, sind sie in Abidjan nicht überall willkommen. Viele entstammen den berüchtigten «Forces Nouvelles», die in den
letzten Jahren unzählige Massaker begangen haben, andere sind übergelaufene Soldaten, Gendarmen und Polizisten oder junge Männer, die sich auf die Seite der Sieger geschlagen haben. Als Beute winkt nicht nur das Plündergut aus den Geschäften,
sondern auch die Macht über die Frauen und den Tod. Obwohl die meisten Uniformen und Gewehre tragen, zeigen Schuhe und Kopfbedeckungen, wie zusammengewürfelt die Truppe ist. Der MG-Schütze trägt eine weiss leuchtende Schirmmütze, der Anführer eine bräunliche Stoffhaube mit seitlichen Troddeln. Neben roten Baretts sieht man schwarze und beige Kappen. Es fehlen nur die Sonnenbrillen und magischen Amulette, und die Maskerade der Verwegenheit wäre perfekt.
Der geschlossene Kreis hält die Gruppe zusammen und schirmt sie nach aussen ab. Er nivelliert die Rangunterschiede und gibt jedem das Gefühl der Zugehörigkeit, auch dem Neuling in den hellbeigen Stiefeln. So eng ist der Kreis gezogen, dass sich einige
mit dem Gewehr aussen abstützen müssen. Vor dem nächsten Scharmützel versichert die Gruppe sich ihres Zusammenhalts. Wie eine verschworene Gemeinschaft stecken sie die Köpfe zusammen, mit Ausnahme eines Verräters. Er blickt als einziger der jungen Frau in dem blauen Wickelrock hinterher. Die anderen sind in die Notwendigkeiten des Krieges vertieft. So hält der Kreis nicht nur die Gruppe zusammen, er schützt Frau und Kind vor den Gelüsten männlicher Überwältigung.
Das Photo von Rebecca Blackwell zeigt den Zusammenprall zweierWelten. Es bietet ein Sinnbild für den Zustand der Gesellschaft im Krieg der Marodeure. Hier die Angst der Frauen, dort die Übermacht der bewaffneten Horden, hier die individuelle Fürsorge, dort die Gemeinschaft des Krieges, hier das künftige Leben, dort der Tod. Die Wahlen, die gemeinhin als Ende von Bürgerkrieg und Tyrannei gefeiert werden, haben den Schusswechsel nicht in ein friedliches Wortgefecht überführt. Demokratische Wahlen können chronische Kriegszustände verschärfen. Auch nach dem Dienstantritt des gewählten Präsidenten wird sich daran wenig ändern. Die Gegensätze überdauern den Machtwechsel – der Antagonismus zwischen den Geschlechtern, zwischen den Volksgruppen, Stämmen und Klassen, zwischen Siegern und Besiegten.