Gefährdet Mark Twain die Jugend?
Im Zuge des Kulturkampfs in den USA versuchen sowohl Konservative als auch Progressive zunehmend, unerwünschte Bücher zu verbieten. Das begründet nicht selten deren Erfolg.
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Egal, was aus Ron DeSantis noch wird, eine Hinterlassenschaft ist dem Gouverneur Floridas bereits gewiss: Mit den als «Don’t Say Gay» und «Stop W.O.K.E.» bekannt gewordenen Gesetzen, die sexuelle Inhalte aus dem Unter- und Mittelstufenlehrangebot an öffentlichen Schulen in dem Gliedstaat werfen, hat er sich als Buchverbanner verewigt. Gemäss PEN America, einer Organisation für den Schutz der Redefreiheit in Literatur und Geisteswissenschaften, wurden vor diesem gesetzlichen Hintergrund im vergangenen Schuljahr in Florida 1406 Bücher verbannt. Gemessen an den 5894 Bücherverboten, die PEN von 2021 bis 2023 in 41 Gliedstaaten und 247 öffentlichen Schuldistrikten gezählt hat, macht das DeSantis’ Staat zum Spitzenreiter der Buchverbanner. Im Schuldistrikt des Escambia County im Westen Floridas wurden im Januar 1600 weitere Bücher indiziert; wegen der Darstellung sexueller Handlungen fielen auch Wörterbücher und Enzyklopädien wie Merriam Webster’s «Dictionary for Students» darunter.
Auch wenn gegen Escambias Dekret bereits geklagt wird, sollte man die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen. Listen verbotener Bücher sind Vorboten einer Intoleranz, die im Nationalsozialismus 1933 in Bücherverbrennungen gipfelte, von den darauffolgenden 12 Anni horribiles zu schweigen. Die Geschichte von Bücherverboten in den USA passt bestens zu Orwell’schen Narrativen von politisch-literarischer Gedankenkontrolle im gegenwärtigen Kulturkampf. Konservative wie DeSantis lassen die USA immer mehr ins religiös Repressive und Diktatorische abdriften.
Bücherverbrennung in Brugg
Dabei sind Versuche der Indizierung oder von Verboten von Büchern kein Novum, sondern quasi ein historisches Kontinuum, und zwar weltweit. Hierzu muss man nicht einmal auf den Index Librorum Prohibitorum zurückgreifen, der von 1556 bis 1966 Werke von Giordano Bruno bis Simone de Beauvoir verzeichnete, welche der katholischen Doktrin zuwiderliefen. Selbst im aargauischen Brugg übergab ein Lehrer 1965 einen Haufen von «Schund- und Schmutzliteratur» dem Feuer, weil sie an der sittlichen Verrohung der lokalen Jugend schuld sein sollten – darunter Wildwest-Heftli, deutsche Illustrierte und Comics.
Auch heute sind Bücher nicht nur durch Gesetzesparagrafen gefährdet wie den StGB-Artikel 86 in Deutschland, der die Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda unter Strafe stellt und verdächtigen Schriften nur im wissenschaftlichen, künstlerischen oder journalistischen Ausnahmefall Salonfähigkeit zugesteht («Mein Kampf» darf erst seit 2022 als kritische, kommentierte Ausgabe wieder verkauft werden).
Mindestens so aktiv gebannt wird im Namen des Jugendschutzes. Die deutsche Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz etwa führt einen vierteljährlich aktualisierten Index von Werken, deren Verbreitung und Bewerbung an Jugendliche wegen pornografischer oder politisch extremistischer Inhalte eingeschränkt wird. Selbst in der Schweiz, wo es kein Bundesgesetz zum Jugendschutz gibt, definieren Kantone Alters- und Zulassungsbegrenzungen zu nicht jugendfreien Inhalten.
Auch in den USA hält hauptsächlich der Jugendschutz als Argument für den Bann von Büchern her – überwiegend an Schulbibliotheken. Die Zahlen von «verbannten» Schulbüchern erscheinen dabei aufgrund der laschen Definition von PEN America aufgebläht. Unter einen Buchbann fällt demnach jegliche Art der Restriktion von Inhalten – von der vollständigen Entfernung von anstössigen Büchern aus Präsenzbibliotheken für Vorkindergärtler bis Mittelstufenschüler über die obligatorische elterliche Erlaubnis, ein Buch auszuleihen, bis hin zur Redaktion von Wörtern, welche die lieben Kleinen triggern oder traumatisieren könnten.
Dennoch ist eine dem Jugendschutz verpflichtete Beschränkung nicht gleich eine literarische Diktatur. Gemäss einer Analyse der «Washington Post» sind überwiegend Jugendbücher betroffen; 61 Prozent davon, weil sie (porno)grafisch über sexuelle Erfahrungen, etwa von jungen LGTBQ-Menschen, erzählen. Man kann es Eltern nicht verdenken, wenn sie Einspruch erheben, dass (vor)pubertäre Kids in der Schule über Masturbation als Hilfe beim Dildo-induzierten Analsex lernen (so zu lesen in «This Book Is Gay» von Juno Dawson oder «Gender Queer» von Maia Kobabe, zwei der Lieblingsziele der Buchbanner).
Neue Eskalationsstufe
Die Verbannungswut unter Berufung auf den Jugendschutz macht indes auch vor Klassikern nicht halt, wenn sie etwa das N-Wort (z.B. Harper Lees «Wer die Nachtigall stört») oder anderweitig heikle Themen wie den Holocaust (in Art Spiegelmans Comic «Maus») behandeln. Auch das ist nicht neu: Mark Twains «Tom Sawyer» und «Huckleberry Finn» stehen seit über einem Jahrhundert im Fadenkreuz der Zensoren. In Bännen und der Empörung darüber spiegelt sich die Polarisierung im Kulturkampf: Progressive gehen gegen die Einschränkung von «woken» Stoffen oder der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison auf die Barrikaden, stören sich aber weniger daran, wenn ein Klassiker wegen antiquierten rassistischen Worten aus dem Regal verschwindet. Wertkonservativen und Religiösen geht es umgekehrt. Aber derzeit eskaliert die Situation. Die Bannpraxis läuft offensichtlich aus dem Ruder.
Möglich macht dies (wie so oft) ein Interpretationsdisput zum in den USA vielbemühten ersten Verfassungszusatz der Redefreiheit. Seit der Oberste Gerichtshof 1982 im Fall Island Trees School District v. Pico die Frage der Verfassungsmässigkeit von Buchbännen an Schulen behandelte, herrscht nämlich Konfusion. Das Gericht befand zwar, dass Bücher zu verbieten aufgrund von Inhalts- und Ideenkritik dem First Amendment zuwiderlaufe und mithin verfassungswidrig sei, allerdings unter einem Vorbehalt: Sind die Bücher «nicht erziehungsgeeignet», kann man sie trotzdem aus der Bibliothek verbannen.
Weil je vier Richter entgegengesetzter Meinung waren und der Chief Justice den Präzedenzfall schliesslich abwies, hielt sich die Sachlage in der Schwebe. Seither erlaubt der faule Kompromiss besorgten Eltern, vor der Schulpflege oder der Erziehungsbehörde zu beantragen, dass ein Titel nicht erziehungsgeeignet und aus Schulbibliotheken zu entfernen sei. Ob dieser sogenannten «Challenge» stattgegeben wird, entscheiden letztlich die lokalen Schul- und Gemeindebehörden.
Kontraproduktive Resultate
Im Idealfall ist das grunddemokratisch. Weniger ideal ist, dass aktivistische Gruppen mittlerweile systematisch so vorgehen. Wie die «Washington Post» auswies, gingen fast zwei Drittel aller Bannanträge auf das Konto einer kleinen, aber gut organisierten Gruppe militanter Eltern: der in Florida ansässigen, Trump-freundlichen Grassroots-Organisation «Moms for Liberty». Mittlerweile ist deren moralisch-religiöse Empörung gegen unsittliche und obszöne Inhalte landesweit bekannt. Unlängst haben die «Moms for Liberty» in South Carolina gar eine eigene schmuddelfreie, aber mit Steuergeldern finanzierte Charter School eröffnet. Der Buchbann bleibt ein beliebtes Vehikel für eine moralische Message zur Durchsetzung eines politischen Ziels.
Daran ändert auch nichts, dass der Bannschuss in der Empörungs- und Aufmerksamkeitsökonomie zuweilen nach hinten losgeht: Nach der Kontroverse zum Bann von Art Spiegelmans «Maus» etwa schoss der Comic an die Spitze der Bestsellerlisten. Der Buchbann wird zum Marketing-Tool – manchem Autor kann gar nichts Besseres passieren.
Selbst derlei kontraproduktive Resultate haben den Buchbann immer noch nicht vollends ad absurdum geführt. Das schafften unlängst besonders findige Anwälte der Jugendtauglichkeit. Sie invertierten kurzerhand die konservative Werteskala und pochten darauf, die Bibel zu verbannen. Denn aufgrund mannigfaltiger Darstellungen von Gewalt, Inzest, Bestialität und Onanie bis hin zum Kindermord, so eine Gruppe klagender, wenn auch satirisch begabter Eltern aus Utah, sei die Bibel pornografisch und für Minderjährige ungeeignet.
Realistisch betrachtet, erreicht ein Buchbann offenbar oft das Gegenteil der erwünschten Wirkung in Bezug auf die Bekanntheit und Akzeptanz des literarischen Inhalts. Das wird hingenommen, solange die Debatte darüber nur in die Verbreitung grundsätzlicher politischer Positionen im Rampenlicht der Öffentlichkeit mündet. Es geht womöglich tatsächlich weniger um religiöse oder anderweitige Intoleranz gegenüber literarischen Inhalten als um missionarischen Eifer zugunsten einer politischen Ideologie. Das bestätigen sowohl Konservative wie Ron DeSantis und die «Moms for Liberty» auf der einen wie auch PEN America und seine progressiven Interessengruppen auf der anderen Seite. Was bleibt, ist ein heilloses, polemisches Durcheinander.
Das macht die Unterdrückung von Buchinhalten freilich nicht vernachlässigbar, unbedenklich oder gar legitim. Aber vielleicht erscheint das Phänomen des Buchbanns so in realistischerem Licht: Alles ist politisch, und Bücher ganz besonders. Umso wichtiger wäre daher, literarischen Unfug und Schrott als ebensolchen zu bezeichnen, wenn man sie denn gelesen hat. Scharfe Rezension und harsche Kritik sind immer noch toleranter als Repression und Zensur.
«Alles ist politisch, und Bücher ganz
besonders. Umso wichtiger wäre
daher, literarischen Unfug und Schrott als ebensolchen zu bezeichnen, wenn man sie denn gelesen hat.»