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Gedehnte Gegenwart,
globalisierte Kunst

Philip Ursprung: «Die Kunst der Gegenwart. 1960 bis heute». München: Beck, 2010.

«Gesichertes Wissen», wie es die Becksche Reihe darbieten will, ist im volatilen Bereich der Gegenwartskunst nicht zu haben. Der in Zürich lehrende Kunsthistoriker Philip Ursprung hat sich deshalb für einen Zugang entschieden, den er performativ nennt. Der Umstand, dass jede Geschichte der Kunst abhängig von einem subjektiven Standpunkt erzählt werden muss, soll zum Prinzip der Darstellung gemacht werden. Folgerichtig beginnt das Buch mit der Erinnerung des Autors an einen Abend in den 1970er Jahren, als sein Vater das Buch «Die Grenzen des Wachstums» nach Hause brachte, oder es werden Künstler ins Spiel gebracht, die Ursprung persönlich kennt, etwa Jeff Wall, Dan Graham, Ingrid Wildi oder Pipilotti Rist.

Das schmale, aber konzentrierte und anregende Bändchen ist damit weder eine Darstellung in der Art von «Die 50 bedeutendsten Künstler», die ein berechtigtes Bedürfnis nach Orientierungswissen auf oberflächliche Weise zu stillen versuchen würde. Noch ist es eine Überblicksdarstellung über Kunstrichtungen, die das Schwergewicht auf innerästhetische Probleme legen würde. Diese Aspekte werden zwar auch berührt – etwa wenn die Kunst der 1960er und 1970er Jahre unter dem Titel «Vom Objekt zum Prozess» dargestellt wird oder wenn für die 1980er Jahre von einem «Hunger nach Bildern» gesprochen wird. Die eigentliche Absicht geht tiefer. Es soll die seltsame Dehnung der Gegenwartskunst, die nun schon ein halbes Jahrhundert andauert, ihre longue durée, verständlich gemacht werden, und zwar jenseits ungenauer Begriffe wie Neo-Avantgarde oder Postmoderne.

Die «Kunst der Gegenwart», das ist die Kunst der Industrienationen zwischen 1960 und heute, und damit ist sie untrennbar mit der Globalisierung verbunden. Nicht, dass sie diese «ausdrücken» oder «abbilden» würde. Sie macht Veränderungen, die uns alle betreffen, spürbar, lange bevor sie begrifflich fassbar sind. So zeigen die seriellen Strukturen der Minimal Art ebenso neue Raum-Zeit-Erfahrungen wie die allgegenwärtige Figur des Loop. Oder es bringen Warhols Selbstporträts eine Entsubjektivierung zu einem Zeitpunkt zur Sprache, da noch die Emanzipation des Subjekts propagiert wird.

Der (etwas knapp abgesteckte) theoretische Rahmen, in dem Globalisierung gefasst werden soll – vor allem für die Zeit des langen Endes des Kalten Krieges –, ist «Empire» von Hardt und Negri (1993). Entsprechend interessiert sich Ursprung im letzten Kapitel auch für Kunstwerke, die am Rand des Empires sich diesem zu entziehen versuchen, etwa die chilenische Künstlergruppe CADA, oder Ai Weiwei.

Zentral sind die Überlegungen zum «Triumph des Museums». Mit der Documenta 5 unter der Leitung von Harald Szeemann (1972), so die These, entschied der Kurator den Kampf um die Deutungshoheit und Führerschaft auf dem Feld der Gegenwartskunst für sich. Fortan sollte endgültig nicht mehr der Kritiker beurteilen, was er ausgestellt findet, um auf diese Weise die Arbeit der Galerien zu bestimmen. Vielmehr legt der Kurator nun fest, was überhaupt ausgestellt wird, und beeinflusst so die (Preis-)Politik der Galerien. Damit hängt der von Ursprung diagnostizierte Niedergang der Kunstkritik ebenso zusammen wie die von der universitären Beschäftigung mit der Gegenwartskunst an den Tag gelegte Mühe, Distanz zum kulturindustriellen Betrieb zu finden.

Ursprungs Konzept einer performativen Kunstgeschichte stellt den Versuch dar, aus dieser Not eine Tugend zu machen. In der Offenlegung persönlicher und institutioneller Verflechtungen soll die Herrschaftsweise des Empire wenigstens transparent gemacht werden. Hier liegt der heimliche Sinn, warum uns der Autor selbst aus einer der Abbildungen schelmisch entgegenlächelt und dabei das Nationalstadion in Peking von Herzog & de Meuron, das zu sehen sein müsste, ostentativ verdeckt. Das Performative öffnet durch das offene Verstellen den Blick.

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