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Gedankensplitter

Über Realitätsverweigerung – Von René Scheu

Harmonie I

Der französische (und nicht nur der französische) Staat hat seinen gutgläubigen Bürgern einige schöne Dinge versprochen – zum Beispiel, dass sie mit 60 in Rente gehen dürfen. Diese magische Zahl beruht freilich nicht auf einem Naturgesetz, sondern auf einem politischen Entscheid, der aufgrund allzu positiver (sprich: geschönter) Annahmen über Lebenserwartung und demographische Entwicklung einst getroffen wurde. Politiker, von Natur aus begnadete Schönredner und Realitätsverweigerer, können die Illusion nicht mehr aufrechterhalten und heben das Rentenalter auf 62. Die nächste Illusion für die nächsten paar Jahre ist geboren. Allein, wen kümmert’s? Die meisten Bürger haben die Technik der Realitätsverweigerung längst verinnerlicht. Sie halten heute am Rentenalter 60 fest und morgen am Rentenalter 62, als wäre es ein Naturgesetz. Denn was der Staat dekretiert, ist Gesetz – bis zum nächsten Dekret. Und zum nächsten Gesetz. Wenn das keine prästabilierte Harmonie von Staat und Bürger ist!

Harmonie II

Realitätsverweigerung findet auch in der Schweiz statt. Pensionskassen müssen (jawohl: müssen!) Altersguthaben der Versicherten im nächsten Jahr weiterhin mit mindestens zwei Prozent verzinsen: dies hat der Bundesrat entschieden. Die einen schreien nun auf: Was, bloss zwei Prozent? Eine Frechheit! Die Politik bringt uns um die Früchte unserer Arbeit! Die anderen hingegen fragen sich, wie die Politik überhaupt auf die Idee kommt, einen Mindestzinssatz festzusetzen. Ist der Zinssatz zu hoch, geraten die Pensionskassen in Unterdeckung und bringen uns tatsächlich um die Früchte unserer Arbeit! Leider bekommt man im Moment nirgends risikolos zwei Prozent Zins. Warum macht man also den BVG-Zins nicht vom Marktzins abhängig? Ganz einfach: weil die Politik dann keine Versprechungen mehr machen könnte und die Bürger eben Versprechungen lieben. So werden auch die Pensionskassen zu Umverteilungsagenturen – die heutigen Beitragszahler beginnen die heutigen Empfänger mitzufinanzieren. Jene, die Versprechungen lieben, dürfte dies freilich kaum stören. Sie haben die Politiker auf ihrer Seite. Und die wissen: notfalls kann man immer noch die Beiträge erhöhen. Prästabilierte Harmonie!

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