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Gedankensplitter

Über den Zahlenwahn in Krisenzeiten – von René Scheu

Wahnsinn I

Es ist eigentlich verrückt. Wer noch vor wenigen Jahren behauptete, die westlichen Staaten würden eines nicht allzufernen Tages Konjunktur- und Stützungsprogramme von mehreren hundert Milliarden Euro bzw. Dollar verabschieden, galt als Spinner. Man hat ihm nahegelegt, seinen Zahlenwahn kurieren zu lassen. Die Zeiten haben sich geändert – und wir uns mit ihnen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass fast schon jede Woche weitere Programme, weitere Nullen hinzukommen. Besondere Zeiten verlangen eben nach besonderen Massnahmen. Kein Grund zur Sorge. Das Leben geht weiter. Es herrscht wieder Normalität. Aber könnte es sein, dass diese Normalität eine besonders heimtückische Form von Wahnsinn ist?

Wahnsinn II

Wer noch vor wenigen Monaten wagte, die europäische Währungsunion als ökonomische Fehlkonstruktion zu bezeichnen, wurde als Verräter an den hehren Idealen von Wohlstand, Frieden und Gerechtigkeit hingestellt. Nun ist Bewegung in die Sache gekommen. Adolf Muschg, eigentlich mehr Schriftsteller als Ökonom, schrieb jüngst in der NZZ: «Der Euro, als Treibstoff einer Interessengemeinschaft wirksam, taugt nicht als Bindemittel eines Bündnisses; viel eher aktiviert der Notfall den darin verborgenen Sprengstoff.» Muschg bleibt sich aber immerhin insofern treu, als er das Heil in mehr Politik sieht – ein Europa des «gelebten Föderalismus» muss her (wobei wir Herrn Muschg verdutzt fragen: Soll sich nun die EU verschweizern?). Alles oder nichts, jetzt oder nie. Das ist ja fast apokalyptisches Denken, Geburtsstunde eines neuen Dezisionismus. Auch eine Form des herrschenden Wahnsinns?

Wahnsinn III

Es gibt einstige Euro-Befürworter, die bereits die Seite gewechselt haben. Der Tenor: wir haben es ja irgendwie immer schon gewusst. Der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde schreibt in der NZZ: «Die schlechteste Lehre aus der Krise wäre, den aus Not über Nacht eingeschlagenen Weg einer umfassenden Haftungsgemeinschaft und entsprechender Transferzahlungen ohne weitere Diskussion vertragsrechtlich zu legalisieren und so auf Dauer zu stellen.» Und Hans-Olaf Henkel, ehemaliger Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie: «Eine teilweise Rückabwicklung der Währungsunion in zwei Währungsblöcke wäre allemal besser, als sehenden Auges auf Grund zu laufen.» Die Nullen wachsen, die Haltungen wechseln. Ist das nun Vernunft? Oder auch nur weiterentwickelter Wahnsinn?

Wahnsinn IV

Der amerikanische Präsident Barack Obama, von vielen Europäern als politischer Reformer geradezu verehrt, wurde mittlerweile, wie alle Politiker dieser Welt, durch den politischen Alltag weitgehend entzaubert. Wie reagiert er auf die Krise? Ausbau der Sozialwerke, interventionistische Konjunkturpolitik, Subventionierung der Industrie, Stützung der grossen Finanzinstitute, allenfalls gar Einführung einer nationalen Mehrwertsteuer. Man reibt sich verwundert die Augen. Ist er daran, die USA zu europäisieren, also zu sozialdemokratisieren, während Europa daran ist, für die Politik des verantwortungslosen, kreditbasierten Lebens, Vorsorgens und Geschäftens der letzten Jahrzehnte einen hohen Preis zu bezahlen? Solches konnten sich die USA als reiches Land mit relativ freien Arbeits- und Gütermärkten früher vielleicht leisten. Doch hat sich die Situation in den letzten beiden Jahrzehnten drastisch verändert. Nicht nur die Chinesen sorgen sich um den historisch einmaligen Verschuldungsgrad der USA – nach Berechnungen der Europäischen Zentralbank vom Februar 2010 betrug er im Jahr 2009 65,8 Prozent des Bruttoinlandprodukts, Tendenz steigend. Werden die sozialstaatlichen Verpflichtungen mitgerechnet, beträgt der Verschuldungsgrad gar mehrere hundert Prozent – so genau weiss das niemand. «Griechenland ist überall», schrieb der deutsche Soziologe Ulrich Beck. Ist wahnsinnig, wer fragt: Bald auch in den USA?

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