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Gavrilo Princips Brüder

Wäre der Erste Weltkrieg vermeidbar gewesen, wie Niall Ferguson in diesem Magazin behauptet? Die Weltkriegsforschung streitet sich seit 100 Jahren über historische Details, verliert sich in Mächtepsychologie und vernachlässigt einen Faktor: die Demographie.

Eindeutig identifizierbare Kriegstreiber gab es 1914 auf keiner Seite: So lautet, maximal zugespitzt, der neue Tenor der historischen Wissenschaft zum Ersten Weltkrieg. Damit nähert sich die Erkenntnissumme all der neuen Weltkriegsbücher der 1924er Einsicht des damals 25jährigen Bankensohns, Soldaten und französischen Journalisten Alfred Fabre-Luce (1899–1983): «Die Schuld lag nicht bei Deutschland» («Non, l’Allemagne n’était pas coupable»).1

Zwar wächst das historische Detailwissen stetig, aber zwischen dem Befund einer allgemeinen «Einkreisungsangst»2 und der «imperialistischen Paranoia» aller Grossmächte3 gibt es nur semantische Fortschritte. «Keiner der wichtigen Akteure von 1914 war bedeutend, einfallsreich und mutig genug, dem Druck Richtung Krieg zu widerstehen», lautet das Fazit der in Oxford lehrenden kanadischen Historikerin Margaret MacMillan4. Niall Ferguson meint ebenfalls, «dass der Erste Weltkrieg ein Fehler war, der nicht hätte sein müssen», wenn nur all die «unglaublichen Fehlkalkulationen» unterblieben wären.5 Man fahndet zwar nicht mehr nach Tätern mit Rang und Namen, aber irgendwo werden doch – und das auf allen Seiten – bisher namenlose Kriegstreiber erahnt, die man einfach nicht zu fassen bekommt.

Ein erfrischendes Erstaunen leistet sich dagegen ein Altmeister der Zunft, der 2010 verstorbene Historiker Michael Salewski, Autor von «Der Erste Weltkrieg» (2003):

«Das Rätsel der zehn Millionen Kriegstoten wird nicht gelüftet. […] Jederzeit war diplomatisch gesehen alles möglich. […] Als der Krieg zur Verblüffung aller wirklich da war, wollte niemand schuld gewesen sein. […] Alles lief prachtvoll, die Zeiten wurden immer besser, die Massen immer friedlicher, weil satter. […] Es scheint, dass wirklich und wahrhaftig allein dieser Mann [Gavrilo Princip, 1894–1918] am 28. Juni 1914 den Ersten Weltkrieg nicht nur ausgelöst, sondern verursacht hat. Ist das nicht eine absurde Vorstellung? […] Die Sache ist buchstäblich verrückt, unerklärlich. […] Es gibt nichts mehr in der Wirklichkeit der Welt von 1914, das wir nicht zu wissen glauben. Und trotzdem wissen wir das Wesentliche nicht.»6

Druck baut sich auf. Getriebene sitzen an den Schalthebeln. Doch was dahinter in den Vernichtungskrieg drängt, bleibt rätselhaft. Geht man in die fortschrittssatte und brotreiche Friedenszeit von 1871 bis 1914 zurück, so fällt im Jahre 1882 Friedrich Nietzsche (1844–1900) als einem an Scharfsinnigkeit kaum zu überbietenden Ausnahmekopf der Epoche doch etwas auf. Im 38. Aphorismus der «Fröhlichen Wissenschaft» ist er «explosiven» jungen Männern auf der Spur, deren Richtungslosigkeit an das politische Spitzenpersonal gemahnt. Diese zornigen Jünglinge hungern nicht nach Brot, sondern nach Triumph und Bedeutung:

«Erwägt man, wie explosionsbedürftig die Kraft junger Männer daliegt, so wundert man sich nicht, sie so unfein und so wenig wählerisch sich für diese oder jene Sache entscheiden zu sehen: Das, was sie reizt, ist der Anblick des Eifers, der um eine Sache ist, und gleichsam der Anblick der brennenden Lunte – nicht die Sache selber. Die feineren Verführer verstehen sich deshalb darauf, ihnen die Explosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung ihrer Sache abzusehen: mit Gründen gewinnt man diese Pulverfässer nicht!»7

 

Explosive Kraft

Europas seinerzeit meistgelesener Truppenlehrer und Militärhistoriker, Colmar von der Goltz (1843–1916), will ein Jahr nach Nietzsche in seinem bekanntesten Buch eben diese explosive Kraft für Deutschlands zukünftige Kriege nutzbar machen. Siebzehnjährige, die an Familie noch nicht denken, sind beliebig einsetzbar, «weil das Land Söhne genug für Heer und Arbeit besitzt»; und weiter:

«Leicht trennt nur die Jugend sich vom Leben. […] Die Sehnsucht nach Erlebnissen macht sie kriegslustig. […] Sie tritt mit Freude und Sorglosigkeit in den Kampf, die beide zu der blutigen Arbeit nothwendig sind.»8

Doch woher kommen die immer neuen Jungscharen, die – noch ohne Selfies und Videos – auf die Schlachtfelder drängen? Wie heute die Kriegshistoriker kümmerten sich damals die Denker nicht um die Demographie. Das aber tut der französische Soziologe Gaston Bouthoul (1896–1980), der 1945 zusammen mit der elsässischen Schriftstellerin Louise Weiss (1893–1983) die «Polémologie» (Kriegslehre) auf den Weg bringt. In «Nachgeholte Kindestötung» («L’infanticide différé» 1970) fragt er:

«Ist es möglich, den Prozentsatz junger Männer zu bestimmen, bei dem es den Massen wie den Regierungen notwendig scheint, einen kriegerischen Ausflug ins Auge zu fassen? […] Gibt es einen Kriegsindex? / Die grossen kriegerischen Vorstösse ergeben sich aus der Tatsache, dass der Anteil an jungen Männern zwischen achtzehn und fünfunddreissig Jahren […] eine besonders grosse Zahl umfasst. […] Die demographische Inflation zieht den Völkermord nach sich.»

Bis 1915 keucht Europa (mit der Ausnahme Frankreichs) unter Geburtenraten wie heute in Gaza, Irak oder Nigeria, wo für Hamas, das Kalifat oder Boko Haram die Jugend sich vom Leben trennt. Erst 1916 fallen die Geburtenraten von 5 bis 6 auf unter 3. Deshalb können sich die Generäle im nächsten Weltkrieg die Soldaten, gerne als «Menschenmaterial» oder «cannon fodder» verbucht, nicht mehr sorglos aus der demographischen Portokasse nehmen. An allen Fronten werden auch einzige Söhne in den Tod geschickt, so dass Europa nach 1945 friedlich wird und auf dem Weg zur aktuellen Geburtenrate von 1,5 die Menschheit sogar als pazifistischer Musterschüler in Erstaunen setzen kann.

 

Vom Krieg zum Kampf

Gavrilo Princip, der das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand verübt, ist eines von neun Kindern eines Postboten. Doch nicht nur seine, sondern fast jede Familie in Serbien oder im übrigen Europa kann Söhne verlieren und dennoch weiterexistieren. Der Kriegsindex (das Verhältnis von 15- bis 19-Jährigen zu 55- bis 59-Jährigen) lag damals zwischen 3 und 6. Heute folgen in Deutschland auf 100 rentennahe Männer nur noch 70 in den Beruf eintretende Jünglinge (Kriegsindex: 0,7). In der Schweiz sind es 83. Alle haben gute Chancen. Damals aber kämpften 300 bis 600 um 100 freiwerdende Positionen. Weil dabei akzeptable Karrieren für viele aussichtlos blieben, wurden auch Sieg oder Heldentod ernsthafte Lebensentwürfe. Was seinerzeit für Europa galt, wirkt momentan zwischen Gaza und Jemen, wo der Index bei 5 oder höher liegt. Gavrilo Princip erschiesst zuerst Franz Ferdinands Gattin, Sophie von Hohenberg. Sie wächst selbst als eines von acht Geschwistern auf und ist nach vier Geburten im Alter von 46 Jahren angeblich von neuem schwanger. Verhütung, die heutige Teenager mehrmals pro Woche schaffen, stand damals von ganz unten bis ganz oben unter Strafe. Als schwerste Versündigung galt jede sexuelle Aktivität, die nicht als ehelicher Fortpflanzungsakt angelegt wurde.

Europas imperiale Periode, in der es von 1493 (zweite Kolumbusreise; mit Siedlern, Vieh, Soldaten und Priestern) bis 1918 wie ein nicht endender Mongolensturm um die Welt tobt, ist heute so schwer zu verstehen, weil seine Demographie ausgeblendet bleibt. Bis 1918 unterwirft es sich 90 Prozent der Erde und besiedelt die Hälfte ihrer Fläche mit dem eigenen Menschenüberschuss (neben Amerika auch Nordasien, Südafrika und Australien). Ungeachtet aller Kriegs-, Seuchen- und Emigrationsverluste springt die Alte Welt im selben Zeitraum von 50 auf 500 Millionen Menschen.

1914 hatten 27 Prozent der Erdbewohner – so viele wohnten seinerzeit in Europa – mit den modernsten Waffen der Geschichte nur ihresgleichen zu fürchten. Heute steht der Kontinent bei zehn Prozent der Weltbevölkerung, weshalb kein Land allein im Guten wie im Schlechten noch sonderlich viel ausrichten kann. Während man sich 1914 mit überzähligen Söhnen bekriegte, jagt man sich 2014 gegenseitig die raren Talente ab. Wenn irgendwo eine militärische Intervention geboten ist, gibt es nirgendwo mehr Freiwillige vor den Rekrutierungsbüros. Um das Jahr 2040 herum dürfte Europa mit geschätzten sieben Prozent der Weltbevölkerung und einem Durchschnittsalter nahe bei fünfzig Jahren nur noch als demographische Marginalie unter den Völkern leben. Das schafft durchaus Probleme, aber Nietzsches explosive Jungmännermassen, die – gewiss immer noch einfallslose – Politiker in neue Weltkriege treiben, gehören nicht dazu.

 


1 Das überlieferte Zitat von Fabre-Luce, formuliert im Essay «La Victoire», ist der Titel eines neuen Buches zum Thema. Siehe Philippe Simonnot: «Die Schuld lag nicht bei Deutschland»: Anmerkungen zur Verantwortung für den Ersten Weltkrieg. Berlin: Edition Europolis, 2014.

2 Vgl. Stephen Schröder: Die englisch-russische Marinekonvention. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.
3 Vgl. Christopher Clark: Die Schlafwandler. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2013.
4 Margaret MacMillan: The War that Ended Peace. London: Randomhouse 2013.
5 Vgl. Florian Rittmeyer trifft Niall Ferguson: Am Rande des Chaos. In: Schweizer Monat 1018, Juli/August 2014, S. 12–17.
6 Michael Salewski: Unfähige Maschinisten des Machtgetriebes. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.3.2007, Nr. 68 / Seite L21.
7 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: Werke II. München: Carl Hanser 1980, S. 64.
8 Colmar von der Goltz: Das Volk in Waffen. Berlin 1883, S. 26 f.
9 C. McEvedy, R. M. Jones: Atlas of World Population History (1978). Jan Lahmeyer: Population Statistics: historical demography of all countries, their divisions and towns (2006).

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