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«ganz konkret»

Das Zürcher Museum Haus Konstruktiv

Der Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wird von grundlegenden Neuerungen in der Kunst begleitet. Die Künstler wenden sich zunehmend von einer wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe des Sichtbaren ab und entwickeln einen freieren Umgang mit den bildnerischen Mitteln Farbe, Form und Fläche. Nicht mehr die Darstellung der bereits existierenden Gegenstandswelt, sondern die Sichtbarmachung unsichtbarer Welten rückt in den Fokus.

Die ungebrochene Lebendigkeit der konkret-konstruktiven Kunst bis heute mag angesichts der zahllosen Kunstrichtungen, die parallel zu ihr aufkamen und wieder schwanden, verwundern. Unerklärlich aber ist sie nicht. Ihre Präsenz und stetige Weiterentwicklung lässt sich darauf zurückführen, dass sie die Grundlagen des künstlerischen Schaffens selbst zum Thema hat – und mithin auf einen schier unerschöpflichen Fundus an Gestaltungsmitteln und Formfragen zugreifen kann.

Sei es in Hochschulen, Ausstellungen oder auf Kunstmessen, überall und weltweit begegnen wir erfrischend vielfältigen Formen eines neuen Minimalismus. Denn die Rückgriffe auf die Themen der klassischen Avantgarde, des Konstruktivismus, der konkreten Kunst und auf die Anfänge der Konzeptkunst, sind ebenso zeitlos wie frei. Fast möchte man von einer Neuen konkreten Bewegung sprechen, die sich die Erfahrungen, Einsichten und Kenntnisse des ganzen 20. Jahrhunderts einverleibt und heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, ein verändertes Selbstbewusstsein entwickelt hat. Eines, das sich nicht mehr durch Abgrenzung behauptet, sondern durch das Vertrauen in die künstlerische Behauptung an sich.

Die Eigengesetzlichkeit der Farben und Formen auszuloten, der Proportionen und Strukturen, der künstlerischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, und verschiedene Materialien gestalterisch zu untersuchen, ist die Aufgabe und zugleich das grosse Potential der konkret-konstruktiven und konzeptuell geprägten Kunst. Ihre Kernfragen sind also heute noch die gleichen wir vor hundert oder fünfzig Jahren; nur der künstlerische Blick darauf hat sich seither vielfach verändert. Immer wieder werden neue Aspekte, neue Diskurse, neue Medien und technische Möglichkeiten in die künstlerische Arbeit integriert und wird das Spektrum der möglichen Ansätze kontinuierlich erweitert.

Das Museum Haus Konstruktiv – aus der Zürcher Geschichte der konkreten Kunst hervorgegangen – beschäftigt sich seit einigen Jahren mit genau diesem generationenübergreifenden Dialog zwischen künstlerischen Positionen der Vergangenheit und ihrer Weiterführung in der Gegenwart. Kunstgeschichte entwickelt sich einerseits auf einer fortlaufenden Zeitachse und bringt einen anderseits immer wieder zum Staunen, wenn genau diese Zeitachse auch ausser Kraft gesetzt wird. Arbeiten der frühen Konkreten oder der ersten Konzeptkünstler sehen heute frischer aus denn je, und die Künstler der Enkelgeneration zeigen einen bewundernden und gleichzeitig selbstwussten Umgang mit diesem Erbe. Woran liegt das? Dieser Frage möchten wir in unserem Ausstellungsprojekt «ganz konkret» nachgehen.

Das Museum Haus Konstruktiv befindet sich auf einer Spurensuche nach den Anfängen, den Erscheinungsformen und den Entwicklungslinien reduktionistischer Ansätze und entwirft eine Auslegeordnung, in der auf vier Stockwerken über 100 Jahre Kunstgeschichte aufleben. Unser Credo lautet, dass die Klarheit und Sinnlichkeit der reduktionistischen Kunst einen reichen Fundus an zeitlosen Ideen bereithält, deren Durchleuchtung stets neue, faszinierende Erkenntnisse hervorbringt. Ausgehend von den Themen der hauseigenen Sammlung, deren Umfang sich in den letzten sechs Jahren fast verdoppelt hat, haben wir das umfassende Ausstellungsprojekt «ganz konkret» entwickelt. Mit zahlreichen wichtigen Werken aus unserer Sammlung, hochkarätigen Leihgaben und spannenden Einzelpräsentationen sowohl historisch relevanter wie auch junger Künstlerpositionen entsteht in zwei Folgen und verschiedenen Kapiteln ein wahres Feuerwerk ganz konkreter Ansätze.

Russland gilt als die Wiege des Konstruktivismus. Wladimir Tatlin, Kasimir Malewitsch, El Lissitzky, Ljubow Popowa oder auch Naum Gabo zählen zu den Pionieren der russischen Avantgarde. 1915 schreibt Malewitsch das Manifest «Vom Kubismus zum Suprematismus». 1930 verfasst der niederländische Künstler und Theoretiker Theo van Doesburg gemeinsam mit seinen Künstlerkollegen Otto Gustav Carlsund, Jean Hélion, Léon Tutundjian und Marcel Wantz das Manifest «Die Grundlage der konkreten Malerei».

Folgt man Max Bill, so setzt die Entwicklung der konkreten Kunst im Jahre 1910 mit einem Aquarell von Wassily Kandinsky ein. Als «première œuvre concrète» präsentierte Bill dieses Werk 1960 in seiner mittlerweile legendären Ausstellung «konkrete kunst – 50 jahre entwicklung» im Helmhaus Zürich. Nach Bills Zeitrechnung würden wir also in diesem Jahr das 100jährige Jubiläum der konkreten Kunst feiern. Nach Richard Paul Lohse hingegen sind die Anfänge der konkreten Kunst bereits um das Jahr 1900 auszumachen, nämlich in den geometrisch angelegten Pastellen Augusto Giacomettis. Und nicht zu vergessen: schon im 18. und 19. Jahrhundert findet sich in manch einem Gemälde ein konstruktivistisch geprägtes Bildverständnis.

Das Ausstellungsprojekt «ganz konkret» dokumentiert jedoch keinen Expertenstreit, sondern möchte das Zeitfenster öffnen und das Publikum in die spannende Historie der konkreten Kunst hineinziehen, deren Beginn sich vielleicht nicht ausschliesslich an einem Werk festmachen lässt, deren Innovationskraft jedoch seit dem frühen 20. Jahrhundert wegweisend weiterwirkt.

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