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«Ganoven der Postmoderne» oder «Wo ist der Platz im Leben»?

Mein Roman «Der kurze Weg nach Hause» fängt damit an, dass eine Mutter der kleinen Tochter erklärt, was Ganoven sind. Ganoven seien Menschen, die ihren Platz auf der Welt noch nicht gefunden haben, meint sie. Das ist auch ein Kommentar zur Situation der zwei jungen Protagonisten, Luca und Ovidiu, die am Ende einer Reise angelangt […]

«Ganoven der Postmoderne» oder «Wo ist der Platz im Leben»?

Mein Roman «Der kurze Weg nach Hause» fängt damit an, dass eine Mutter der kleinen Tochter erklärt, was Ganoven sind. Ganoven seien Menschen, die ihren Platz auf der Welt noch nicht gefunden haben, meint sie. Das ist auch ein Kommentar zur Situation der zwei jungen Protagonisten, Luca und Ovidiu, die am Ende einer Reise angelangt sind, die sie von Zürich über Wien, Budapest, Timisoara bis an die Schwarzmeerküste Rumäniens geführt hat. Sie müssen sich fragen: Wozu das alles? Wozu die Raserei über den halben Kontinent? Wozu die Sehnsucht nach einer Heimat, die nicht mehr ist, wie man sie zurückgelassen hat, allein schon, weil man sie jetzt mit Erwachsenenaugen sieht? Wozu unruhig bleiben und nach den vertrauten Gerüchen der Kindheit suchen, nach der Melodie der heimatlichen Sprache, nach den bekannten Bewegungen und Gebärden der Menschen, nach dem Licht und der Landschaft? Und vielleicht mehr als alles andere: Wozu sehnsüchtig bleiben wollen?

Das Leben des Emigranten, vorausgesetzt er ist empfänglich für solche Dimensionen, ist geprägt von einer Art nostalgischen Denkens. Vom Wunsch, jene Kulissen aufzusuchen, die über sich hinausweisen und in eine Welt führen, in der man geborgen ist, bei den Seinen, wo man verstanden wird und versteht, ohne vorher einen Sprachkurs zu absolvieren. Je früher man seine Heimat verlassen hat, desto stärker bleibt sie in der Erinnerung magisch überhöht, und man weist ihr die Qualität der Heilung zu oder der Linderung jener Schmerzen, die das Exil zugefügt hat.

Das ist bis zu einem gewissen Grad auch bei mir der Fall. Ich habe Rumänien am Scheidepunkt von Kindheit und Adoleszenz verlassen. Meine Erinnerungen haben viel mit Gerüchen, Stimmungen, mit Sinnlichem zu tun. Vielleicht nur weil ich Schriftsteller bin und als solcher aufmerksam gegenüber diesen oft vernachlässigten Aspekten des Lebens. Vielleicht aber auch, weil ich keine Zeit hatte, ein realistisches Bild meiner Heimat aufzubauen. Zu korrumpieren und korrupt zu werden, zum Beispiel. Weil das Hässlichste in mein von den Eltern abgeschirmtes Leben noch nicht eingedrungen war, nicht als unmittelbare Erfahrung jedenfalls, höchstens durch die Eltern vermittelt, durch ihre Kommentare und Befürchtungen.

Ich habe mich dort nicht verliebt und wurde nicht enttäuscht und getäuscht. Ich bin dort nicht verzweifelt, da mir die Diktatur jede Möglichkeit nahm, mich als Mensch zu fühlen und dann, als die Diktatur gefallen war, Täuschung und Lüge weiter Bestand hatten. Und ich habe dort nicht gehungert, die schlimmste Erniedrigung vielleicht, die dieses Volk neben der allgegenwärtigen Angst erdulden musste. Ich bin just vor der schlimmsten Zeit, und ein halbes Kind noch, weggegangen und habe meine Haut gerettet, meine Würde, das Bewusstsein, niemals geknickt worden zu sein vor einem sadistischen Milizionär oder Beamten. Herr über meine Entscheidungen zu sein.

Ist Rumänien meine Heimat? Nicht wirklich. Ich bereise es heutzutage flüchtig, zwei, drei Wochen höchstens am Stück. Mit Schweizer Pass und Euros. Wenn man im teuersten Hotel am Platz übernachtet, im teuersten Restaurant sich verköstigt, wenn man sich nicht am Kummer, am bitteren Alltag, aber auch nicht an den guten Seiten des Lebens dauerhaft beteiligt – die Betonung liegt hier auf dauerhaft -, wenn man keine Verpflichtungen eingeht, nicht die Verpflichtung der Liebe oder diejenige, etwas aufzubauen, nicht die Verpflichtung gemeinsam mit andern alles durchzustehen, ohne wahnsinnig zu werden, dann kann es nur eine eindimensionale Heimat sein.

Eine, die an die kindliche Heimat erinnert, so wie ich sie umrissen habe. Man geht dann hin, hat starke Erlebnisse, spürt Melancholie, Trauer, unsagbare Freude, isst seine Lieblingsgerichte, man schüttelt sich mit den Freunden vor Lachen, wischt sich die Tränen weg – und reist wieder ab, wenn einem das Chaos über den Kopf wächst. Rumänien wird also erst dann reelle Heimat sein, vielschichtige und gelebte Heimat, wenn ich dort gründlich geliebt habe, getäuscht worden bin, verzweifelt bin, die Schattenseiten ertragen und bekämpft habe, aber auch die hellen Seiten kennen lernen durfte. Vor allem aber, wenn ich trotz alldem nicht davongelaufen bin, sondern am Ort geblieben, als Augenzeuge meiner Heimat.

Ich sagte schon, dass ich eine sehr sinnliche, unmittelbare Wahrnehmung meiner Heimat habe. Aber diese Dimension lebt in allen fort, auch in solchen Menschen, die ihr Land als Erwachsene verlassen haben. Einer, der in Österreich lebt, erzählte mir mit glänzenden Augen, dass er sich jedes Mal wie elektrisiert fühle, wenn er zu Hause sei. Ein anderer fährt jeden Freitagabend nach der Arbeit von Wien nach Timisoara, achthundert Kilometer, und sonntagabends wieder zurück. Auf dem Hinweg fühlt er sich wie mit Leben aufgepumpt, auf dem Rückweg wird er kurz nach der rumänisch-ungarischen Grenze schläfrig, als ob er nicht ankommen wollte.

Vielleicht zeigen diese Erlebnisse, worum es bei der Heimat gehen könnte. Es ist das Gefühl der Energetisierung, der Durchflutung mit Leben ohne Wenn und Aber, ohne sprachliche Fehler, ohne Angst vor dem Gegenüber. Man taucht in ein warmes Medium ein, wo Heilung möglich ist. Ein verlorener Teil findet zu den anderen Teilen zurück. Man fühlt sich wieder ganz. Ich möchte an dieser Stelle den Begriff des Mediums einführen. Er beschreibt diffuse, sinnliche, oft nonverbale Erfahrungen, die als Ganzes den Eindruck von etwas Altbekanntem und Vertrautem erzeugen. Einige davon habe ich schon erwähnt: die Tonalität und die Melodie der Sprache, die Gebärden und Körperhaltungen, den Geschmack der Gerichte, den Geruch. Im Zusammenspiel ergeben sie einen wichtigen Bestandteil der Heimat.

Selten aber wird diese mediale Erfahrung lange andauern. Die Realität holt einen ein, sie stellt Anforderungen und muss konkret gestaltet werden. Das Gestalten ist neben dem Medium die zweite Dimension, in der wir uns bewegen. Gestaltend wirken wir auf unsere Umwelt ein, gestaltend pflegen wir Beziehungen, gestaltend nehmen wir überhaupt Anteil am Leben rundum. Meine Vermutung ist, dass die Heimat nicht nur eine mediale Erfahrung sein kann. Sie muss auch gestaltet werden aus ihrer Aktualität heraus. Erst das Vorhandensein beider Dimensionen trägt dazu bei, dass man in seiner Heimat verwurzelt ist.

Rumänien ist somit in meinem Fall keine Heimat. Ist es die Schweiz, wo ich seit zweiundzwanzig Jahren lebe, interessiert an gesellschaftlichen Prozessen teilnehme, die sozialen Codes kenne, Schweizerdeutsch spreche, Schweizer Freunde habe und, nicht zuletzt, wo ich mein Publikum und meine literarische Sprache gefunden habe? Nein, sie ist es auch nicht.

Sowenig meine Rumänienerfahrung in der erwachsenen Gestaltung der aktuellen Heimat verwurzelt ist, sowenig stützt sich die Schweizerfahrung auf eine sinnliche Unmittelbarkeit. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Vor kurzem wurde in der Schweiz ein Film über das Leben einer Sängerlegende, Mani Matter, gezeigt. Seine Lieder sind jedem Kind bekannt. Die Menschen gingen ins Kino, liessen sich von Mani Matter zurück in die Magie ihrer Kindheit führen, in jenes Medium, von dem ich bereits sprach, und kamen dann mit einem verschmitzten Lächeln und funkelnden Augen wieder heraus.

Ich hingegen konnte bloss bittertraurig feststellen, dass es eine Dimension war, zu der ich keinen emotionellen Zugang hatte und die ich mit keinen Erinnerungen verband. Sie trennte mich unwiderruflich von meinen Freunden, ganz einfach, weil ich in der Schweiz nicht Kind gewesen bin. Wobei es klar sein sollte, dass Mani Matter nur stellvertretend für alle möglichen Früherfahrungen des Menschen steht. Ich aber gerate ins Schwärmen bei rumänischen Balladen, den Volksliedern und der rumänischen Trink- und Festmusik, wie man sie so nennt. Darüber hinaus meine ich, sogar Stimmen als heimatlich zu erkennen, und vieles mehr. Ja, man kann sagen, dass der letzte Hurensohn in Rumänien mir mehr Heimatgefühl vermittelt durch seine Ausdrücke, seine Gebärden und seine Aussprache als der geliebte Mani Matter der Schweizer.

Ich bewege mich zwischen den Schweizern, und ihre Körper und die Art, wie sie sie einsetzen, sind mir fremd und meiner befremdet mich noch mehr. Ich rede Deutsch und fühle mich nicht real. Wenn ich aber Rumänisch rede, fühle ich mich geerdet. Ich spreche Schweizerdeutsch oft mit dem Pathos, der Tonalität und dem Rhythmus meiner Herkunft. Aber ich verbiete mir zuviel Expressivität, um in der hiesigen protestantischen Kargheit und Kontrolliertheit nicht stärker aufzufallen als nötig. Das gelingt nicht immer. Ich begegne Menschen oft mit maximaler Intensität, während die Regeln hier besagen, dass Beziehungen und Freundschaften sich langsam und verhalten anbahnen müssen – eine besondere Eigenschaft alpenländischer, nordischer Kulturen, aber auch eine Folge der starken Individualisierung in der modernen Industriegesellschaft.

Wobei zu sagen ist, dass die Intensität Rumäniens und anderer eher balkanischer oder mediterraner Kulturen schnell in Chaos überschwappen kann. Es sind Kulturen, die noch stark in der Agrarwirtschaft verhaftet sind. Das Dorfleben ist zentral und dadurch das Denken mehr ein bildhaftes, plastisches als ein logisch-lineares. Die wohltuende Nähe und Emotionalität führen zur Überhitzung und zu Exzessen wie Alkoholismus oder Gewalt. Der Bürgersinn fehlt oft, hingegen nehmen das Märchen, das Fabulieren, der Aberglaube, die Folklore, das Improvisieren, die Impulsivität oder die beliebige eigennützige Behauptung einen besonderen Platz ein. Ich will nicht sagen, dass es keine modernen Strömungen gibt, sondern dass die genannten Aspekte weiterhin stark die Denk- und Verhaltensmuster und die Erwartungen der Leute prägen. Hinzu kommt in manchen dieser Länder der Kommunismus, der den Gemeinschaftssinn nicht gerade förderte.

Rumänien ist also nicht ganz Heimat; denn dafür fehlt die gestaltende Dimension. Die Schweiz ist es auch nicht, weil die sinnliche Dimension fehlt. Kann man sich unter solchen Umständen Heimat erarbeiten? Ich vermute, dass man sich bei Preisgabe einer der zwei Dimensionen bestenfalls in ein neues Zuhause einrichtet. Man kann als Schweizer sich Italien als Wahlheimat aussuchen, an der Bar gebrochen Italienisch sprechen, ein Haus kaufen und somit versuchen, in das mediale Italien – was wir italianità nennen – einzutauchen. Es wird schwierig werden. Es fehlen die sinnlichen frühen Erfahrungen, die Körperlichkeit eines Italieners zum Beispiel oder sein Sinn für sprachliche Melodie. Man wird sich aber mit der Zeit immer weniger als Gast fühlen und etwas mehr zu Hause.

Oder man kann auch als osteuropäische Frau dem westeuropäischen Mann in dessen Heimat folgen – was mittlerweile ein soziales Phänomen beachtlichen Ausmasses ist –,ihm Kinder gebären und eine gute Ehefrau sein und nach einiger Zeit merken, dass man im neuen Zuhause etwas Sinnvolles tun möchte. Ich kenne Rumäninnen, die nach der ersten Zeit des Glücks, dem Elend entkommen zu sein, eine sinnvolle Aufgabe suchen. Sie wollen mitgestalten. Sie wollen einen neuen Beruf erlernen, einen Arbeitsplatz finden, Menschen kennen lernen und somit an diesem Zuhause partizipieren. Haben sie dadurch auch eine Heimat gefunden? Kaum. Wenn sie Glück haben, werden sie durch ihre eigenen Kinder etwas von der Sinnlichkeit dieses Zuhauses erfahren, von den Stimmungen und Ahnungen, von den Märchen und den Liedern. Von Mani Matter. Aber sie werden weiterhin Jahr für Jahr für einige Wochen in die östliche Heimat zurückfahren.

Könnte ich umgekehrt nach Rumänien auswandern und ein ganzer Rumäne werden? Nein. Nur unter Preisgabe dessen, was ich hier im Westen geworden bin.

Ein vorläufiges Fazit: Man darf die Heimat – wenn es so etwas überhaupt gibt und es nicht erst durch das nostalgische Denken des Emigranten oder durch den Nationalisten erfunden wurde –, weder nostalgisch überhöhen noch deklassieren, indem man sagt: die Heimat ist dort, wo man sich gut fühlt, oder wo die Freunde sind, oder wo man die Sprache spricht. Eine Schweizer Schriftstellerin fand sogar, sie könne mit dem Begriff der Heimat nichts anfangen und ihre Freundschaften pflege sie im Internet. Das alles sind Verkürzungen des Begriffs der Heimat. Man sollte dann fairerweise sagen, dass man nur willig und fähig ist, allein diese Aspekte der Heimat zu würdigen. Auch darf die Heimat nicht mit dem Vaterland oder dem Zuhause verwechselt werden. Ich glaube – wie ich auszuführen versuchte – dass Heimat etwas mit einer medialen und einer gestaltenden Erfahrung zu tun hat.

Ich komme nun zum letzten, aber für mich vielleicht wichtigsten Punkt: dem Platz im Leben in der Postmoderne allgemein, und zwar jenseits der Emigrantenschicksale. Das betrifft jeden, weil er an einem Wirtschaftssystem teilnimmt, das uns alle nach und nach entwurzelt. Man nennt es nur anders: Flexibilität und Mobilität. Die kapitalistischen Entwicklungen der Postmoderne – nicht anders als in den Anfängen, aber sozial abgefederter, das heisst weniger offensichtlich – brauchen den Menschen in seiner Funktion.

Will man erfolgreich sein, muss man heute in Wien, morgen schon in Hong Kong einsetzbar sein und unzählige Überstunden machen. Will man erfolgreich sein, konsumiert man Kokain oder schluckt Pillen, um alles durchzustehen. Man nimmt Einsamkeit in Kauf, besucht den Therapeuten, lässt am Wochenende saufend die Sau raus, lebt aber sonst portioniert und auf Sparflamme. Man macht aus sich und seinem Körper Artikel, die man verkauft, man besucht psychologische, esoterische Veranstaltungen, optimiert sich, liesst die einschlägige Literatur, sucht sehnsüchtig Bars auf, um jemanden kennen zu lernen, zahlt vor allem und füttert so einen erfolgreichen Zweig des Systems: die Industrie des Glücks.

Die Chancen in der Postmoderne sind gross, man kann sich entwickeln und eine ganzheitliche Person werden. Aber die Gefahren sind gewaltig, entweder wird man gehetzt, erschöpft und einsam oder dann zynisch, ignorant, und dadurch zur gewinnmaximierenden Fratze des Systems. Dieses System ist so erfolgreich, dass es niemanden einzuschüchtern braucht. Der Sozialismus hingegen traute seiner Überzeugungskraft nicht und überwachte den Menschen. Das System der Postmoderne kann davon ausgehen, dass der Mensch von sich aus gehorcht, und wenn doch nicht, dann hilft ein bisschen Werbung oder eine kleine Drohung mit dem Verlust des Arbeitsplatzes. Es gibt an, des Menschen bester Freund zu sein, aber es entwurzelt ihn auf eine vielfältige und vielschichtige Art und Weise.

Es gibt also in unseren Zeiten nicht nur den Emigranten, für den das Thema «Wo ist mein Platz im Leben» aktuell ist. Betroffen sind auch jene, die nur im Urlaub oder auf Geschäftsreisen im Ausland waren, aber niemals endgültig. Wobei solche, die noch spüren können, dass irgendetwas in ihrem Leben nicht stimmt, dafür am einfachsten zugänglich sind. Für alle anderen, die sich selbst verloren haben, die Tiefe und Wachheit für eine Handvoll Illusionen aufgegeben haben, ist dieses Thema schlicht nicht vorhanden.

Es ist erstaunlich, wie viel Analphabetismus produziert wird in einer Zeit, in der ein breiter Zugang zur Information herrscht. Waren früher viele soziale Klassen von der Information abgeschnitten, erledigt man dies heute gleich selber. Man entwickelt ganz einfach keine Neugierde und kein Interesse für Gehaltvolles. Für ganze Generationen sind Bücher, Tageszeitungen kaum noch ein Gesprächsthema. Halte ich Lesungen, so gehöre ich oft zu den Jüngsten. Wird die Kultur nicht in einer Event-Verpackung angeboten, sind die Besucher an den Fingern der beiden Hände abzuzählen.

Ein Trauerspiel wird heute in der Verlagslandschaft angeboten, die von Angst um finanzielle Missgriffe und der krampfhaften Suche nach dem neusten Bestseller geprägt ist. Aber Angst engt bekanntlich den Verstand ein. Da wird nicht mehr längerfristig investiert, da werden keine jungen deutschen Autoren langsam aufgebaut. Es ist aber erstaunlich, wie die Augen der Verleger funkeln, wenn sie über «ihre» neuen Amerikaner, Franzosen, Chinesen und so weiter reden. Ein befreundeter Lektor drückte es so aus: «Wir versuchen unser Geld mit Amerikanern, Krimis und stromlinienförmiger Literatur zu machen.» Alles andere darf sich nur noch in Nischen behaupten, wird ignoriert oder nur noch von einer Handvoll Leute wahrgenommen.

So folgt die Kultur den Trends, anstatt Zeichen zu setzen, und sie dünnt sich selbst aus. Sie wird zum Handlanger und zur Fortsetzung des Systems bis in die Freizeit hinein, zur Beruhigungs- und Zerstreuungsmaschine. Sie soll vortäuschen, dass so etwas wie Kreativität noch möglich sei, irgendwann zwischen der Arbeits- und der Schlafzeit. Aber man ist im Grunde nur noch das Klicken, mit dem man sich im Netz bewegt. Man ist die Erregung, die man hat, wenn man eine neue Frau konsumiert. Man ist der Erfolg, den man hat. Darüber hinaus ist man wenig. Obwohl man gerade solche Menschen nicht verloren geben, sondern wieder als Gesprächspartner gewinnen sollte.

Wenn man mich nur als Emigrant wahrnimmt und mich nur dazu etwas sagen lässt, neutralisiert man mich. Man darf sich zurücklehnen und meinen, man sei nicht betroffen. Wenn man mich hingegen sein lässt, was ich bin, Rumäne und Schweizer, Ost- und Westeuropäer, modern und altmodisch, dann lässt man zu, dass ich mich entfalten und Wirkung erzielen kann. Wenn ich darüber hinaus nicht nur als Ost- oder Westeuropäer verzweifeln, lieben, trauern, lebendig sein darf, sondern als ganzer Mensch, dann fühle ich mich am wohlsten. Wenn man akzeptiert, dass ich wandere, mal hier, mal drüben, und aus der Tiefe meiner Menschlichkeit darüber berichte, dann bin ich als Schriftsteller dort angelangt, wo ich sein möchte. Es ist vielleicht kein wirklich existierender Ort, aber das Beste, was einer wie ich haben kann.

Ich diesem Sinne wünsche ich mir, dass alle den Mut haben, gründlich zu verzweifeln, zu lieben, zu trauern, langsam zu sein und unvollkommen, sich zu verlieren und wiederzufinden, angesichts der Schönheit des Lebens zu staunen und dessen Hässlichkeit zu bekämpfen. Im Wissen darum, dass wir, wenn wir durch das alles hindurch sind, nicht den Platz im Leben gefunden haben, aber viele Wege dorthin gegangen sind. Und dass es sich alles in allem zu leben gelohnt hat.

Catalin Dorian Florescu

1967 Geburt in Timisoara, Rumänien

1976 erste Ausreise nach Italien und Amerika. Rückkehr nach acht Monaten

1982 zusammen mit den Eltern Flucht in den Westen, Wohnsitz in Zürich

1989 bis 1995 Studium der Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich

1995 bis 2001 Psychotherapeut in einem Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige; fünfjährige Weiterbildung in Gestalttherapie

Seit 2001 freier Schriftsteller in Zürich

Erzählungen:

«Im Nabel der Welt». In: «Swiss Made – Junge Literatur aus der Schweiz». Berlin: Wagenbach, 2001.

«Radu und der Mann, der reden wollte». In: «Enemies – A Love Affair». Tübingen: Swiridoff, 2002.

«11. September». In: «Feuer, Lebenslust» (mit Texten von weiteren Chamisso-Preisträgern). Stuttgart: Klett-Cotta, 2003.

«Die Nacht davor». 1. Preis beim Literaturwettbewerb der Dienemann-Stiftung zum Thema «Fliegen», 2003.

Romane:

«Wunderzeit». Zürich: Pendo Verlag, 2001.«Der kurze Weg nach Hause». Zürich: Pendo Verlag, 2002. «Der Blinde Masseur», Zürich: Pendo Verlag, 2005.

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