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«Für mich gibt es keine Woche ohne Shakespeare,  Montaigne oder Kafka»
Hélène Cixous. Bild: Urban Zintel / Laif / Keystone.

«Für mich gibt es keine Woche ohne Shakespeare,
Montaigne oder Kafka»

Für ihr Œuvre ist die Schriftstellerin Hélène Cixous bereits 1998 mit dem französischen Nationalorden ausgezeichnet worden. Im Gespräch blickt sie auf ihr Leben zurück und erklärt, warum die Literatur dem Aktivismus stets voraus sei.

 

Hélène Cixous ist eine der bekanntesten Gegenwartsintellektuellen Frankreichs. Die 1937 in Algerien geborene Schriftstellerin aus jüdischer Familie, die väterlicherseits aus Oran, mütterlicherseits aus Osnabrück stammt, ist Autorin von annähernd 100 Büchern – darunter Prosa, Dramen, Essaysammlungen, Kunstkritik und Wissenschaftliches. Seit den 1960er-Jahren erfahren die Arbeiten der promovierten Anglistin, deren akademisches Werk mit einer Studie zu James Joyce begann, Beachtung weit über Frankreich hinaus.

Mit dem 1969 erschienenen Roman «Dedans» setzte Cixous’ literarische Karriere ein. Ihr sechs Jahre später veröffentlichter Essay «Das Lächeln der Medusa» – dessen deutsche Übersetzung fast vierzig Jahre auf sich warten liess – eröffnete ihre Beschäftigung mit dem Feminismus, der sich seither kontinuierlich durch ihr Werk zieht. Am experimentellen Studiumzentrum Vincennes, später Université de Paris 8, die Cixous mitgegründet hat, dachte sie in den 1970er-Jahren in legendären Lehrveranstaltungen über die «écriture féminine» nach. Dies meint eine Schreibweise, die konventionelle Romanstrukturen unterlaufen soll. Es folgte die Zusammenarbeit mit Antoinette Fouque (1936–2014), einer der Schlüsselfiguren der Frauenbewegung in Frankreich, sowie mit dem Théâtre du Soleil der Regisseurin Ariane Mnouchkine. Zudem war Cixous über Jahrzehnte mit dem Philosophen Jacques Derrida (1930–2004) eng verbunden, auf den der heute missverständlich benutzte Begriff «Dekonstruktion» zurückgeht.

Beim Interview in ihrer Wohnung in Paris, das sich über mehrere Stunden erstreckt, verknüpft die heute 85jährige Cixous sanft, aber konzise viele autobiografische, politische und publizistische Stränge. Wir trinken Kaffee, während sich die drei Katzen in ein anderes Zimmer verziehen.

 

Madame Cixous, akademisch inspirierte Aktivisten von heute – ob in Frankreich, Grossbritannien, Deutschland oder in den USA – geben vor, für den Feminismus zu streiten, meinen damit jedoch etwas ganz anderes als Sie.

Absolut. Manchmal gemahne ich an Frankreichs Geschichte, um dieses Phänomen zu deuten. Die Revolution fand zwar 1789 statt, verschwand jedoch wieder und wieder, um durch die zurückgekehrte Monarchie ersetzt zu werden. Es dauerte 150 Jahre, bis aus 1789 etwas wurde! Ähnliches gilt für viele andere historische Situationen. Man setzt zu einem «grossen Sprung» an, wie die Chinesen sagen, und husch … es folgt kein Rückschlag, sondern Vergessen. Nach den 1970er-Jahren rückte eine weibliche Generation nach, die meinte, dass die feministischen Ziele erreicht worden seien. Abtreibung war legal, andere rechtliche Fortschritte waren gemacht. Die Töchter der Protagonistinnen der Neuen Frauenbewegung interessierte all das nicht mehr. Nun meint eine noch jüngere Generation, alles neu zu erfinden, was längst erfunden worden ist, indem sie einfach auf eine neue Sprache setzt und anders auftritt.

 

Haben Sie hierfür ein Beispiel?

Sicher. Denken Sie etwa an den französischen Begriff «feminicide», «Femizid» auf Deutsch. Die heutigen Aktivisten werfen damit um sich, als ob es sich um etwas radikal Neues handle, obwohl er aus den 1970er-Jahren stammt!

 

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff «Dekonstruktion», der mittlerweile mit Agitation verwechselt wird.
Identitätspolitisch bewegte Aktivisten von heute, die zwischen 20 und 25 Jahre alt sind, dürften Jacques Derrida nie gelesen haben.

Natürlich nicht – die lesen überhaupt nicht. Das ist eine ganz andere Welt. Schauen Sie nur auf das Thema trans. Die Literatur war diesbezüglich stets allem voraus. Freiheit, Metamorphose, das Erfinden aller denkbaren Formen, ein Mensch zu sein: In der Fiktion hat es das immer gegeben, von Shakespeare bis Proust. Echte Literatur, die diesen Namen wirklich verdient, ist eine freie Welt, auf die die Menschheit nicht verzichten kann.

 

«Echte Literatur, die diesen Namen wirklich verdient, ist eine freie Welt, auf die die Menschheit nicht verzichten kann.»

 

Zeugt die gegenwärtige Debatte um «kulturelle Aneignung» nicht vom Wunsch, genau darauf zu verzichten?

Korrekt. Heute kann man keinen Schauspieler mehr auf die Bühne schicken, um etwa die Rolle eines kanadischen First-Nation-Angehörigen zu spielen, wenn dieser nicht selbst jener Minderheit angehört. Es ist schrecklich. Ein ähnlicher Vorwurf ereilte mich schon vor langer Zeit.

 

Wann und wo wurden Sie mit dieser Anschuldigung konfrontiert?

1991, in einem Kolloquium in Kanada. Ich hatte mein Theaterstück «L’Indiade ou l’Inde de leurs rêves» verfasst, das die Geschichte des indischen Unabhängigkeitskrieges und der Gründung Pakistans verarbeitete. Daraufhin griff mich eine berüchtigte Akademikerin an: «Sie sind keine Inderin! Wie können Sie es wagen, über Indien zu schreiben?» Das, womit wir es heute zu tun haben, begann so. Ich sah all das kommen und dachte mir: Das ist wirklich das Ende der Intelligenz und der Aufklärung. Und ich war mir sicher, dass diese aktivistischen Akademiker durchdrehen – und bin heute überzeugt, dass das alles noch schlimmer wird.

 

Wieso gehen Sie davon aus?

Das menschliche Bewusstsein ist trügerisch. Als Kind folgte ich der Illusion, dass Fortschritt eine Linie sei, die direkt von einem Punkt zu einem anderen führe. Das ist falsch. Fortschritt und Regression sind Zwillinge, es gibt genügend historische Beispiele hierfür.

 

Was empfehlen Sie dagegen?

Die Antwort gegen diese Tendenzen kann nur Widerstand sein. Man muss an das glauben, was man selbst entdeckt hat, und es verteidigen. Die Generation der heute 20- bis 30-Jährigen meint, Bahnbrechendes zu erfinden, lebte aber noch gar nicht, als Bahnbrechendes tatsächlich erfunden wurde, weswegen sie in diesem Punkt milder beurteilt werden kann. Würde mich jemand aus meiner Generation mit ähnlichen Argumenten angreifen, wäre ich weitaus strenger.

 

Sie waren Jacques Derrida zeitlebens sehr verbunden. Wie bewerten Sie das Nachleben seiner Ideen, 19 Jahre nach ­seinem Tod?

Sie werden für immer bleiben. Er zählt zu jenen Philosophen, die den Mächten der menschlichen Seele, die es stets gab, die aber nicht benannt waren, einen Namen gaben – ähnlich wie Freud beim Unbewussten, das er «Es» taufte. Kurz vor seinem Tod 2004 sagte mir Derrida: «Wenn ich tot bin, bin ich in zwei Monaten vergessen.» Mir schien das sehr seltsam. Das Interesse an seinem Werk wächst wieder, junge Wissenschafter lesen es heute neu. Zugleich zettelte die französische Regierung jedoch einen regelrechten Krieg gegen sein Œuvre an. Der frühere Bildungsminister Jean-Michel Blanquer finanzierte ganze Kolloquien gegen die Dekonstruktion.

 

Mit welchem Argument?

Dass Dekonstruktion Hexerei sei, Derrida die Wokeness erfunden habe und französische Schüler vor diesem Gift bewahrt bleiben müssten. Nichts davon stimmt, was sich bereits daran zeigt, dass die heutigen Aktivisten, die meinen, alles zu «dekonstruieren», keine Denker sind und sich entsprechend verhalten. Auch diese Haltung ist nicht neu.

 

Sehen Sie Ähnlichkeiten zu früheren Phänomenen der Linken?

Manche. Als sich die Frauenbewegung in diverse Fraktionen aufspaltete, behaupteten einige Beteiligte, Gleichheit zwischen den Geschlechtern reiche als politisches Ziel – was Konflikte mit anderen Frauen befeuerte, die radikaler waren. Als ich anfing, mich mit diesen Themen zu befassen, fragte ich mich, ob ich mich den Rest meines Lebens Fragen der Misogynie und des Antisemitismus widmen werde. Wahrscheinlich schon – denn ich kann nicht aufhören, weiblich oder jüdisch zu sein. Das muss man schultern können. Es wird hunderte Jahre dauern, bis die Frage der Geschlechterdifferenz irrelevant geworden ist.

 

Vielleicht auch gar nie?

Das meine ich mit dieser Zeitangabe. Die Unterschiede werden andere Gestalt annehmen und hoffentlich weniger grausam ausfallen – wir werden das in 300 Jahren aus dem Jenseits beurteilen.

 

«Es wird hunderte Jahre dauern, bis die Frage der Geschlechterdifferenz irrelevant geworden ist.»

 

Derweil könnten Ihr Denken, Ihre Lehrveranstaltungen und Ihr Anspruch, mit Literatur über bislang Erfahrbares hinauszugehen, ein produktives Gegengewicht zu den universitären Aktivisten erzeugen.

Die können sich all dem gerne widmen. Meine Seminarmitschriften werden gerade in grossen, zugänglichen Ausgaben verfügbar gemacht. Sie wurden von Penguin Beijing gekauft, so dass auch Chinesen sie lesen können.

 

Ihre Seminare waren stets «inklusiv», um eine Phrase von heute aufzugreifen und der richtigen Bedeutung zuzuführen. Sie haben beispielsweise am Wochenende Kurse angeboten, damit auch Hausfrauen teilnehmen konnten.

In Vincennes gab es die Möglichkeit dazu, weswegen auch Arbeiter teilnahmen. Mein Pu­blikum hat sich mit den Jahren verändert. Anfangs bestand es fast nur aus Frauen, dann kamen mehr und mehr Männer – Homosexuelle, die einen Ort zum Denken benötigten. Später glich sich das Verhältnis aus, heute sind Leute jeden Alters und aller sozialen Gruppen dabei.

 

Sie haben einmal bemerkt, dass es nichts Demokratischeres und «Inklusiveres» gäbe als das Schreiben. Jeder kann sich ein Stück Papier und einen Stift leisten und einfach schreiben.

So ist es. Das gilt auch für das Zeichnen. Es braucht nur etwas Kohle, jeder kann das.

 

Was vermag Literatur, was politischer Aktivismus nicht kann?

Literatur kann alles. Doch grosse Literatur braucht lang, bis sie überhaupt etwas erwirkt. Denken Sie an Stendhal, der zu Lebzeiten nicht gelesen wurde und sich in den 1850er-Jahren damit tröstete, in den 1880er-Jahren gelesen zu werden, was dann aber erst in den 1920er-Jahren geschah. Und schauen Sie sich Proust, Kafka an – grosse Literatur, die sich nur mit ähnlichen Verzögerungen entfaltete. Das Theater hingegen ist gänzlich gegenwärtig und erreicht sein Publikum sofort, weswegen es eine echte Waffe sein kann. Gebe ich ein Radiointerview, ist die Resonanz sogleich da. Bei Literatur ist das nicht der Fall, auch weil man Bücher immer wieder lesen muss. Das erfordert Geduld.

 

Wie kommt es, dass Ihre Forschung mit James Joyce begann?

Als ich promovierte, dauerte diese Prozedur etwa zehn Jahre, weswegen ich nicht zehn Jahre meines Lebens mit jemandem verbringen wollte, der kein Genie ist. Zunächst wollte ich über Shakespeare promovieren, mir wurde aber nahegelegt, dass es schon zu viele wissenschaftliche Arbeiten über ihn gäbe. Dann habe ich mich für Joyce entschieden, und man hat mir gesagt, dass ich das nicht könne, da sich sein Werk nicht für Frauen eigne! So waren die Zeiten.

 

Seitdem haben Sie sich vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern gewidmet – Clarice Lispector, Fjodor Dostojewski, Thomas Bernhard, um nur einige zu nennen. Welche Autoren sind für Sie unverzichtbar?

Für mich gibt es keine Woche ohne Shakespeare, Montaigne oder Kafka. Sie sind immer da. Ich könnte auch Freud nennen, das würde aber nicht stimmen – er ist eher wie ein Onkel anwesend. Flaubert, Stendhal sind stets präsent, weil ich sie regelrecht verschlungen habe.

 

Was ist mit den Schriftstellern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts?

Ich verehre Torgny Lindgren, der zwar nicht als bester schwedischer Schriftsteller gilt, wohl aber ein fantastischer Autor war, ebenso Tarjei Vessas aus Norwegen. Beide sind aussergewöhnliche, zarte und gelehrte Menschen. António Lobo Antunes aus Portugal, den ich erst spät entdeckt habe, ebenfalls. Aharan Appelfeld, der sich der Sprache mit Feingefühl nähern kann. Und Richard Wright und James Baldwin waren deshalb so kraftvoll und so aussergewöhnlich, weil sie ein schreckliches Schicksal überwinden mussten.

 

Sie wurden 1937 geboren und erlebten von früh auf Antisemitismus. Hat er sich im Laufe der Jahrzehnte verändert?

Im Zweiten Weltkrieg, als ich ein Kind war, waren wir zwischen zwei verschiedenen Arten von Antisemitismus gefangen: dem französischen, der von Hitler und Pétain kam, und dem arabischen. 1940 verloren die Juden die französische Staatsbürgerschaft, die ihnen in den 1870er-Jahren verliehen worden war. Mein Vater war Arzt und durfte nicht mehr praktizieren, meine Mutter ging kleinen Tätigkeiten nach, um Brot kaufen zu können.

 

Und der arabische Antisemitismus?

Der französische Antisemitismus war anfangs weitaus gewalttätiger als der arabische. Nach dem Krieg wurden Juden in die französische Nation reintegriert. 1948, mit der Staatsgründung Israels, begann der neue Antisemitismus, der daher rührte, dass sich die Araber von den Juden schlecht behandelt und kolonisiert wähnten, obwohl viele Juden noch nicht einmal Zionisten sein wollten.

 

Im Buch «Algériance», das gerade auf Deutsch erscheint, arbeiten Sie Ihre Familienhistorie auf und reflektieren die Geschichte Ihres Herkunftslandes: die französische Besatzung Algeriens, seine Unabhängigkeit 1962, die postkolonialen Folgen. Wann haben Sie beschlossen, das aufzuschreiben?

Anfang der 1990er-Jahre, als die intellektuellen Flüchtlinge aus Algerien am Théâtre du Soleil ankamen. Das waren Regisseure, Schauspielerinnen, Theater- und Filmschaffende, die dem Horror des Bürgerkriegs entkamen. Wir verstanden uns auf Anhieb. Sie baten mich zunächst, ein kleines Stück für sie zu schrei­ben, das auf uns alle befreiend wirkte. Darüber fand ich diesen Teil meiner Familiengeschichte wieder und befasste mich mit der Eroberung Algeriens, der Revolution und dem Bürgerkrieg.

 

«Heute meint eine jüngere Generation, alles neu zu erfinden,
was längst ­erfunden worden ist, ­indem sie einfach
auf eine neue Sprache setzt und anders auftritt.»

 

Werden Sie heute in Algerien gelesen?

Ja, wiewohl von einer kleinen Minderheit.

 

In Ihrem Werk ist der Feminismus omnipräsent. Wann sind Sie zum ersten Mal Feministinnen begegnet?

Mit 27 Jahren, als ich in den USA für meine Dissertation forschte. Ich nahm an einem Treffen von Feministinnen teil und war von ihrer Stärke beeindruckt – von ihrem intellektuellen Horizont weniger.

 

Weshalb?

Sie konnten das Mysterium der Misogynie nicht erklären. Wie so oft waren die Amerikanerinnen zwar praktisch sehr engagiert, in philosophischer Hinsicht jedoch begrenzt. Trotzdem hatte ich die Idee, in Frankreich etwas zu versuchen, was es dort schon gab, hier jedoch noch nicht: «Frauenstudien».

 

Wie erinnern Sie die Entstehung der Frauenbewegung aus der Asche von 1968?

Ich gehöre zur Generation von ’68, aus deren Revolte Vincennes hervorging, das ich mitgegründet habe. Das war auch die Keimzelle der Frauenbewegung. Ich selbst war zwar Feministin, beteiligte mich aber nicht an der Bewegung, die sich einige Jahre lang entwickelte. Erst nach der Veröffentlichung meines Essays «Le rire de la Méduse» wurde ich von Antoinette Fouque kontaktiert, einer der wichtigsten feministischen Protagonistinnen Frankreichs. Es gab verschiedene feministische Strömungen, aber die Gruppe um Fouque setzte auf die Psychoanalyse, die auch ich für notwendig hielt, um die Welt zu begreifen. Später veröffentlichte ich beim feministischen Verlag des femmes.

 

Was sind Ihre nächsten Projekte?

Schreiben. Sonst nichts. Gelegentlich mache ich etwas anderes, beispielsweise, wenn mich Künstler bitten, ihre Arbeiten zu kommentieren.

 

Haben Sie ein Lieblingsgenre?

Nein. Es ist einfach das Schreiben.

 

Was ist die grösste Freude daran?

Ehrlich gesagt weiss ich nicht, ob Schreiben eine Freude ist. Eher eine Erleichterung. Und ein ständiger Beweis dafür, am Leben zu sein und denken und entdecken zu können.

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