Frischekur für die Volksseele
Mindestens zwei Seelen wohnen in Helvetias Brust. Stolz auf ihre Institutionen auf der einen und gekränkt durch ihre Kleinheit auf der anderen Seite, hat die Schweiz heute die Wahl: entweder sie zieht sich ins Freilichtmuseum zurück oder sie zeigt Mut zur Erneuerung. Reformvorschläge eines nüchternen Optimisten.
Jede tragfähige politische Einheit – ein Land, ein Nationalstaat, in unserem Fall die Schweiz – stützt sich auf Zusammengehörigkeitsgefühle, auf ein Wir-Verständnis, das von normativen Überzeugungen und Werten bestimmt ist. Zu den Vorstellungen des gemeinsamen Konsenses gehört auch die Bereitschaft, um der Zusammengehörigkeit willen Leistungen zu erbringen, die blosses Privatinteresse übersteigen. Inhaltliche Überzeugungen und praktisch wirksame Motive machen das aus, was auch heute noch – im postheroischen Zeitalter – «Patriotismus», «Heimat» oder «Vaterlandsliebe» heissen kann.
Begriffe wie diese klingen zwar antiquiert, gleichwohl ist es richtig, über ihre Bedeutung nachzudenken. Ihre Altertümlichkeit zeigt an, dass einiges an ihnen nicht mehr stimmt. Doch die Unentbehrlichkeit der durch sie bezeichneten Sachen erinnert daran, dass es töricht wäre, sie für überflüssig oder sinnlos zu halten.
Im folgenden gehe ich zuerst dem schweizerischen Basiskonsens, seinen Elementen und deren Zeitgemässheit bzw. Unzeitgemässheit nach, um dann zu überlegen, was zu reformieren wäre.
I
Der erste Baustein unserer Zusammengehörigkeit ist das, was gemeinhin als «die politische Kultur der Schweiz» bezeichnet wird. Ich beziehe mich damit sowohl auf ein Ideengeflecht wie auf ein Ensemble von Haltungen und Handlungsbereitschaften. Als ihr Zentrum darf das Konzept der «Willensnation» gelten. Seine Charakteristika prägen seit dem 19. Jahrhundert die politische Identität des Landes. Ernest Renans diesbezügliche Sätze sind deshalb noch heute gültig:
«La Suisse, si bien faite, puisqu’elle a été faite par l’assentiment de ses différentes parties, compte trois ou quatre langues. Il y a dans l’homme quelque chose de supérieur à la langue: c’est la volonté. La volonté de la Suisse d’être unie, malgré la variété de ses idiomes, est un fait bien plus important qu’une similitude souvent obtenue par des vexations.»1
Nicht irgendeiner quasinaturalen ethnischen oder sprachlich-kulturellen Homogenität verdanke die Schweiz ihre staatliche Form, meinte Renan, sondern dem ausdrücklichen, freien und bewussten Wollen ihrer Bürger. Natürlich konnte diese Behauptung schon zu Renans Zeiten als Übertreibung kritisiert werden; allzu stark verdrängt sie die historisch-strukturellen Kräfte und unpersönlichen Traditionsmächte, die auch im Fall der Schweiz die explizite Bundesstaatsgründung getragen und mitverursacht haben. Dennoch trifft sie den entscheidenden Punkt: die Schweiz von 1848 war das Produkt einer intentionalen Konstruktion, zunächst von Eliten und dann der gesamten Bevölkerung. Als solche konnte sie aber erfolgreich nur werden und bleiben, weil ihr Bau der Einsicht in die Logik der Sache folgte – und mit dem Lösungsprimat des politischen Problems die gemeinsame Verpflichtung aller auf einen fairen Gesellschaftsvertrag postulierte.
Von herausragender Bedeutung war dabei die Ausgestaltung des demokratischen Grundbegriffs: der Volkssouveränität. Sie ist im schweizerischen Fall sehr viel mehr als eine theoretische Verfassungsidee. Für die meisten Bürgerinnen und Bürger ist das identitätsbildende Nationalgefühl nämlich selbstverständlich und unmittelbar mit den entscheidenden Elementen der (halb)direkten Demokratie verknüpft. Die Strukturen zur rechtlichen Verwirklichung der Volkssouveränität (wozu nicht bloss die Volksinitiative und das Instrument des Gesetzesreferendums gehören) sind affektiv hochbesetzte Werte. Die Identifikation mit ihnen gehört zum emotionalen Fundament des Wir-Gefühls, das die Integration des mehrsprachigen und kulturell stark diversifizierten Volkes ermöglicht.
Der psychosoziale Sinn des Begriffs der schweizerischen Willensnation, die nie eine Kulturnation oder eine Ethnie war, ist die explizit politische, in der Verfassung Gesetz gewordene Verständigung. Sie – und nicht irgendeine vorpolitische Zusammengehörigkeit – bildet den Grund der nationalen Einheit. Deshalb erscheint sofort alles, was die Gehalte dieser Verständigung in Frage stellt, als potentielle Bedrohung des kollektiven Selbst – und dadurch ebenso der individuellen Identität (zumindest bei denen, die das Schweizersein als einen wesentlichen Aspekt ihrer Persönlichkeit betrachten). – Ob diese Tatsache und die meines Erachtens notwendige Selbsterneuerung der Schweiz einander im Wege stehen, ist die leitende Frage meines Beitrags.
II
Was bisher skizziert worden ist, ist nur die eine, die im eigentlichen Sinn politische Seite des nationalen Selbstgefühls. Um nicht wenige seiner gegenwartstypischen Reaktionen zu verstehen, ist es jedoch hilfreich, auch seine – sagen wir: subpolitischen – Aspekte in Betracht zu ziehen, also «das Fluidum des Schweizerischen».
Die Sprache ist das am leichtesten zu fassende Merkmal des Schweizer Fluidums.2 Hört man sie unvermutet – z.B. in Kinshasa oder auf Pangkor-Island, vor Ipoh an der Küste Malaysias –, dann weiss man sofort: einer von uns. Und man weiss es als einziger. Diese Schweizer Sprache, von der die Sprachwissenschafter sagen, dass sie nur ein Dialekt sei, ist gleichwohl eine Sprache, d.h. ein umfassendes Medium für das Erscheinen von Wirklichkeit, weil der Dialekt alle, die in ihm aufgewachsen sind, auf eindringliche Weise mit der Welt verbunden hat. Das Bild der Welt erscheinend im Medium von Worten wie «Buuch», «Puur», «Bünzli» und «Bolizei» ist eben ziemlich verschieden von demjenigen, das sich aus Ausdrücken wie «Bauch», «Bauer», «Spiessbürger» und «Polizei» aufbaut. Man braucht als Deutschschweizer nur zwei-, dreimal hintereinander diese Wortreihen aufzuzählen, um den grundlegenden Unterschied deutlich zu verspüren.
Allerdings: was leicht zu spüren ist, ist begrifflich schwer zu fassen. Jedenfalls hat es mit dem Unterschied von «klein» und «gross» zu tun. Der Dialekt ordnet uns ein ins Kleine, ins überschaubar Vertraute ebenso wie ins Begrenzte. Er schliesst aus: die Stile, Redeweisen, Gedanken und Auditorien, die wir nur in der Hochsprache besitzen und entwickeln können; und er schliesst – bewahrend – etwas ein: jenes verbindende Zentralgefühl des Andersseins, das wir als Schweizer mit dem ersten Kontakt zu den grösseren Sprachen der Welt sofort ausbilden und das uns von diesem Moment an ein Leben lang begleitet und ein bisschen irritiert.
Schweizersein heisst hineingeboren werden in die Dialektik von fremder Weite und eigener Definitheit. Und daraus resultiert eine das Schweizerische hervorbringende Urspannung, die freilich in ganz verschiedenen Weisen aufgelöst und/oder manifestiert werden kann: z.B. durch ein rabiat-patriotisches Sonderfallbewusstsein oder durch das melancholische «Unbehagen im Kleinstaat», durch kaltschnäuzige Reduktion aller Idealisierungen und allen Grössenstrebens auf benennbare Nützlichkeiten oder, und das ist die schönste Form, durch die Fähigkeit, beides zu verbinden und Angehöriger des exklusiv Hiesigen und Spieler auf mächtigeren Weltbühnen gleichzeitig zu sein.
Es gibt viele Varianten, die helvetische Basisspannung, das Problem der Vermittlung von offenkundiger Begrenztheit und übergrosser Umwelt, in Bewusstseinsformationen zu übersetzen. Gemeinsam, bei aller Differenz, ist die Notwendigkeit, sich irgendwie ins Verhältnis zu bringen zu dem, was man nicht ist, und zur Tatsache, dass dieses Andere inkommensurabel grösser ist als man selber.
Mit anderen Worten: Zur Selbstdefinition des Schweizerseins gehört unweigerlich ein Stück – irgendwie – zu verarbeitender narzisstischer Verletzung. Das erklärt zum einen die gelegentlich neurotisch anmutende, aber verbreitete Mentalität diskussionsloser Ablehnung jeder Form internationaler politischer Teilnahme- und Solidaritätsverpflichtung: die Konversion der Kränkung in eigensinnigen Stolz – «wir sind zwar klein, aber daraus haben wir etwas Einzigartiges gemacht; etwas, was ihr nie könnt!».
Die Unumgänglichkeit der Erfahrung, klein zu sein, liefert aber auch eine Erklärung für unsere bemerkenswerte Nüchternheit im Umgang mit den Phantasmen und falschen Idealen völkischer Stärke und historischer Sendung, etwas, das z.B. die hiesigen Staatsrituale auszeichnet. Wer gelernt hat, dass er zu einem winzigen Stamm gehört, verwechselt sich a priori nicht mehr mit irgendeinem weltgeschichtlichen Subjekt von menschheitswichtiger Bedeutung.
III
Dieses Verhalten prägte meines Erachtens auch die Abstimmung vom 9. Februar 2014: Es fällt schwer, sie und ihr Ergebnis als Indiz souveränen Selbstbewusstseins zu deuten. Doch es ist lohnend, sie zu studieren.
Damit meine ich jetzt nicht die sorgfältige Analyse des breiten empirischen Datenmaterials. Dass das «Ja» zur Zuwanderungsinitiative heterogenen und ernstzunehmenden Motiven entspringt, muss ja nicht bestreiten, wer darauf hinweist, dass es Ausdruck von Besorgnis und irritierten Sicherheitswünschen ist, und jedenfalls kein Votum grossen Zukunftsvertrauens. Dass aus ihm aber der helvetischen Tugend, ökonomischem Sachverstand mehr als bürokratischer Regelung zu trauen, Schaden erwachsen könnte: das ist keine polemische Feststellung.
Das brüchig gewordene Kollektivgefühl der Schweizerinnen und Schweizer kollidiert mit jenem liberalen Common Sense zuversichtlicher Welterfahrung, dem das Land einen Grossteil seines Wohlstandes verdankt. Anders gesagt: der – zumindest ansatzweise vollzogene – Auszug aus dem Wettbewerb um wirtschaftlich vorteilhafte Produktionsformen führt am Ende – so unterstellt es jedenfalls der wirtschaftsliberale Kernglaube – zur lernunwilligen Vergreisung und, ergo, zu ökonomischem Abstieg. Wenn diese Tatsache dem demokratischen Souverän aus dem Sinn gerät, produziert er, längerfristig betrachtet, eine gefährliche Selbstillusionierung.
Natürlich plädiere ich jetzt nicht für den uneingeschränkten Primat des Ökonomischen, jedoch für den Versuch oder besser für die Hoffnung, dem direktdemokratischen Souverän die Leistung vernünftiger Abwägung zuzutrauen, für die selbstsichere Fähigkeit, Vor- und Nachteile eines Personenfreizügigkeitsregimes zu überprüfen, ohne von – falschen – Ängsten allzu stark beeinflusst zu werden.
«Falsche Ängste –!?», ruft man mir zu, «jährlich eine Einwandererstadt von 80 000 Menschen! Wie soll das gut gehen!?» – Ja, wie ist das zu meistern?
– Erstens, indem man nicht automatisch hochrechnet: 10 x 80 000 = 800 000 = usw., sich also nicht einfach an Extrapolationen orientiert. Extrapolationen zeichnen nie die zukünftige Gegenwart, sie illustrieren bloss die gegenwärtige Zukunft.
– Zweitens durch Integration. Wer tatsächlich zehn Jahre in unserem Land geblieben ist, der ist im Regelfall ein «guter Schweizer» geworden; selbst dann, wenn er/sie den Dialekt erst unvollkommen beherrscht. Furcht vor «Überfremdung» wird nur stark, wenn der Glaube an die eigene Attraktivität verlorengeht. Wo dies aber der Fall ist, sollte man sich gleich ins Freilichtmuseum zurückziehen und die Abdankung planen.
– Drittens durch kluge Politik: durch eine Gesetzgebung, die für zeitgerecht verdichtetes Wohnen sorgt; für komplementären Landschaftsschutz; für Lebensformen, die kurze Arbeitswege erlauben; für rationalen Ressourcengebrauch usw., kurz: für Nachhaltigkeit. Dass auch dies mit bürokratischem Aufwand verbunden ist, sei nicht verschwiegen. Doch die Politik der Angst ist es erst recht. Man denke nur ans Kontingentregime, das mit einer strikten Umsetzung der angenommenen Initiative eingerichtet werden muss.
Angst ist ein schlechter Ratgeber – und nicht selten die Wirkung leicht verdienten Glücks. Mut und Zuversicht andererseits verdanken sich der Erfahrung, mit Schwierigkeiten schon immer fertig geworden zu sein.
IV
Dass Derartiges geschieht, ist nicht ausgeschlossen. Und zwar aus dem psychopolitisch erklärbaren Grund einer Abwehrreaktion gegenüber der seit 1989 fundamental veränderten gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit. Will das schweizerische Wir-Bewusstsein die fällige Anpassung an die gegebenen Umstände nicht verpassen, muss es sehr einschneidende Veränderungen vornehmen.
Revision – schärfer formuliert: bewusst vollzogene Anpassung zentraler Gehalte unserer Selbstvorstellungen an neue Umweltbedingungen oder das eigensinnige Beharren auf dem Identitätsmodell der Selbstbehauptung eines einzigartigen, radikal unabhängigen, neutral bewaffneten Kleinstaates im bedrohlichen Gelände zerstörerischer Machtstaatskonflikte und gegen den eingebildeten Herrschaftsanspruch des «Vierten Reiches Brüsseler Machart»: das ist die Alternative, die wir zu entscheiden und deren jeweilige Folgelasten wir zu übernehmen haben.
Es ist unzweifelhaft, wofür ich plädiere. Unzweifelhaft sollte ebenso sein, dass ich ein überzogenes Kleinstaatsmodell deshalb für gefährlich halte, weil es an unrichtigen Realitätswahrnehmungen leidet; an Realitätswahrnehmungen, deren Plausibilität freilich damit verbunden ist, dass sie lange Zeit triftig waren.
Das Riskante grosser Siege liegt eben darin, dass man die siegreiche Schlacht auch dann wiederholen möchte, wenn deren Voraussetzungen vorbei sind.
Ich will diese These mit Bezug auf die Schweiz verdeutlichen.
Den Kern der für die Identitätsvorstellung unseres Landes zentralen Grundüberzeugung bildet einerseits, wie gesagt, die Bejahung unserer komplizierten, sehr bürgernah operierenden demokratischen Institutionen. Andererseits gehört dazu aber auch die Vermeidung möglichst aller aussenpolitischen Einbindungen. Das Urschema des helvetischen In-der-Welt-Seins ergibt sich jedoch nicht schlicht aus Rückzug und Abseitsstehen, sondern es ist das Resultat einer wahrhaft singulären Kombination von Weltoffenheit und -distanz, von Absenz und Partizipation, von Eigensinn und hochbeweglicher Anpassungsbereitschaft; ein dialektisches Sowohl/Als auch, das die Schweizer und ihre Politik seit der frühen Neuzeit leitet, wobei sie dessen strategische Chancen immer wieder erfolgreich an die veränderten Wirklichkeiten anzugleichen vermochten.
Die wesentlichen Elemente dieser helvetischen Dualstrategie möchten die meisten Schweizerinnen und Schweizer auch heute nicht aufgeben. Was zu einer Haltung führt, die Selbstwidersprüche das Normale sein lässt: Zwar ist man engagiert im Weltmarkt, bewirtschaftet die entlegensten Zonen des Planeten, weiss, dass Technologierückstände durch Handelsschranken nicht zu tilgen sind, ist Kosmopolit im globalen System des Ökonomischen. Doch zugleich möchte man sich stets zurückziehen können auf den anderen Stern der unantastbaren eigenen Nationalstaatlichkeit. In ein Territorium, wo die Spannungen und Ansprüche der Restwelt neutralisiert sind, so dass das Politische und die Fragen des Gemeinwohls nicht mehr grösser erscheinen, als es die Aktionsmacht der kleinstaatlichen Demokratie und ihrer Repräsentanten erlaubt.
Ich bestreite nicht, dass dieser helvetische Dualismus vor allem nach 1945 bestens funktionierte. Man war in der Lage, tatsächlich beides zu bekommen: die Vorteile des kapitalistischen Zentrums im Rahmen globaler Handels- und Finanzströme und die Vorteile einer kleinstaatlichen, möglichst viele Interessen integrierenden Konkordanzpolitik, die davon lebt, dass kein Aussendruck die komplizierten innerstaatlichen Kompromissbildungsprozesse lähmt. Alles spielte zusammen wie in prästabilierter Harmonie.
Dass man das ewig so fortsetzen möchte, ist nicht schwer zu begreifen. Das Problem ist nur: die Voraussetzung für das gute Gelingen dieses Systems war eine historische Grosswetterlage und geopolitische Mächtekonstellation, die zu Ende ist.
Indizien für die Richtigkeit dieser Behauptung finden sich in der Schweiz zahlreiche. Zum Beispiel in der allgemeinen Verunsicherung über Sinn und Ausrichtung des eidgenössischen Volksheeres, worin sich die unklar gewordene Bedeutung dessen zeigt, was «bewaffnete Neutralität» heute noch heissen darf. Das hierzulande so oft ärgerlich kommentierte «Rosinenpicker-Syndrom» ist ein zweites Beispiel: Offenbar hat unser Land viel von der Reputation und dem internationalen Wohlwollen eingebüsst, auf die es sich während des Kalten Krieges immer wieder einmal verlassen konnte. Schliesslich ist uns sogar der alte atlantische Freund, die «Schwesterrepublik der Vereinigten Staaten», unheimlich geworden: Die Brachialmethoden, mit denen sie das sogenannte «Bankgeheimnis» in Trümmer legte, inspirieren inzwischen unsere Nachbarstaaten und deren Fiskalbeamte.
Versucht man diese Vorgänge zu verstehen, kommen ebenjene veränderten grosspolitischen Faktoren zum Vorschein, die die «Nischen» zerstörten, in denen die Schweiz ihr besonderes Selbstverständnis und ihre Erfolgsgeschichte ausgestalten konnte.
Verschoben haben sich gegenüber der Zeit von 1945 bis 1990 vor allem zwei Dinge. Erstens ist der objektive Zusammenhang von Politik und Wirtschaft sehr viel markanter ins Gravitationszentrum transnationaler Handlungsräume gerückt. Zweitens wird im postsowjetisch erweiterten Kontinent die Schweiz nicht mehr als ein aus geschichtlichen Gründen begünstigtes Kernland Europas betrachtet, sondern tendenziell als privilegierter Nutzniesser von Umständen wahrgenommen, zu deren Einrichtung er nicht viel beitrug.
Die zuletzt genannte Einschätzung liefert die Argumente für den Rosinenpicker-Vorwurf. Die zuerst erwähnte Aussage erklärt die Schwierigkeiten mit allem, was zum Thema der (bewaffneten) Neutralität gehört. Vor allem aber durchkreuzt sie eine für den alten Basiskonsens des Landes und das aus ihm erwachsende Identitätsgefühl zentrale Vorstellung und Voraussetzung: die Idee, wonach sich Markt und Politik sehr weitgehend trennen lassen. Politik im eigentlichen Sinn gehört dieser Vorstellung zufolge primär in die autonome Sphäre der kleinen, direktdemokratischen Willensnation mit ihrer breiten Lagerung der Macht, also in die «Innenpolitik». Wirtschaft und Marktlogiken hingegen bestimmen die Aussenbeziehungen des Landes, das als neutraler Kleinstaat gar keine wirkliche Aussenpolitik zu bestreiten hat und bestenfalls als Hort des humanitären Völkerrechts geachtet wird.
Wenn aber, wie es heute der Fall ist, der wichtigste Exportmarkt (also der EU-europäische Binnenraum) sehr unmittelbar mit transnationalen politischen Institutionen, öffentlichen Erwartungen und einer spannungsvollen Integrationsdynamik verbunden ist, wird die traditionelle dualistische Verhaltensweise der Schweiz realitätsfremd. Es sind diese Inkongruenzen, die – wenn sie verleugnet und verdrängt werden – die Irritationen erzeugen, die in die Alltagsgefühle vieler Schweizer und Schweizerinnen eingedrungen sind und die die kollektive Selbstreflexion und -findung so sehr erschweren.
V
Ich habe auf beides geantwortet: zum einen mit der Skizze jener Ideen und psychopolitischen Kräfte, die unser Wir-Bewusstsein bestimmten, zum anderen mit der Darstellung einer (zunehmenden) Inkongruenz zwischen dem traditionellen Identitätsmodell des Landes bzw. seiner Bürger und den Umweltbedingungen, unter denen es sich heute zu bewähren hat.
Das letztlich entscheidende Problem besteht aus der Sicht dieser Analyse in der Frage, ob die fälligen Anpassungen an die gewandelten Realitäten vereinbar sind mit der seit langem gewachsenen Selbstorientierung des Landes. Meine Antwort ist die eines nüchternen Optimisten: Natürlich ist das möglich – aber nicht ohne Anstrengung; und nicht von einem Tag auf den anderen. Es braucht deshalb einen Prozess intensiver Auseinandersetzungen.
Doch warum sollte die Schweiz ihren Zusammenhang verlieren, dramatisch formuliert: Warum sollte sie untergehen?
– Wenn sie sich – mitten im europäischen Kontinent gelegen – nicht mehr als schwerbewaffnete Insel, sondern als Staat versteht, der funktionalen Notwendigkeiten genügt, die nicht primär bellizistisch zu definieren sind, sondern wirtschaftlich: als Folgen einer dynamischen Marktöffnung, die übergreifende Regeln braucht, entscheidungsfähige Gerichte und gemeinsame Verbindlichkeiten?
– Wenn sie eben darum ihren Sonderweg des Bilateralismus ausbaut; dabei die Nachteile des «autonomen Nachvollzugs» in Kauf nehmend, ebenso wie die Tatsache fortlaufend enger werdender Einbindung in die kontinuierliche Weiterentwicklung einer (für unsere Ökonomie allerdings unverzichtbaren) Wirtschaftswelt, dafür aber die Stellung des EU-Nichtmitglieds behalten kann – mit eigener Währung und nach wie vor demonstriertem Sonderfallstatus?
– Wenn sie bzw. ihre Bürgerschaft bereit ist, die Maxime der Neutralität nicht vom militärischen Konfliktfall her zu denken, sondern aus der aussergewöhnlichen Sonderfallposition des Nichtmitglieds mit eigenem Status, einer Position, die die Schweiz nach wie vor und an vielen Stellen der Erde als Vermittlerin attraktiv sein lässt?
– Wenn sie Souveränität nicht am Robinsonmuster des Inselherrn misst, sondern nach dem Vorbild einer verantwortlichen Person im Rahmen des kommunikativen Zusammenhangs, auf dessen friedliches Bestehen sie selber nicht weniger als all die anderen angewiesen ist?
– Wenn sie ihre direkte Demokratie nicht als Mittel missbraucht, sich eine illusionäre Unabhängigkeit zu beweisen, sondern als Ort rationaler Überlegung auf der Suche nach jenen Synthesen, die Anpassung erlauben, aber keine Selbstpreisgabe sind (jene Synthesen, wie sie der Bundesrat und das Bundesgericht stets verteidigen, wenn sie auf der Vereinbarkeit zwischen Bundesstaats- und Völkerrecht beharren)?
– Wenn sie das eidgenössische Volksheer radikal verkleinert (und dadurch modernisiert, was die Sache nicht kostengünstiger macht), stattdessen aber eine neuartige generelle Dienstpflicht einführt, das Milizprinzip und seine kommunitaristischen Kräfte auf jene Felder der zeitgenössischen Lebenswelt verlagernd, wo sie wieder allgemein einleuchtend wirken?
– Wenn sie – um die Reihe mit dem einfachsten Postulat zu beschliessen – das Englische als Lingua franca der globalisierten Zivilisation akzeptiert (und schulisch unterstützt), umgekehrt aber die vier Nationalsprachen und die Beziehungen der entsprechenden Landesteile als wesentliches Element ihrer Identität ernst nimmt und fördert?
Das alles sind Anpassungsleistungen des schweizerischen Selbstverständnisses und der mit ihm verknüpften politischen Kultur, die das traditionelle Deutungsschema überschreiten, keineswegs jedoch sprengen. Sie sind nicht bloss denkbar, sie sind gut, ja unverzichtbar für die Zukunft des Landes.
Dass diese Forderungen der konservativen Grundhaltung der eidgenössischen Kollektivseele widersprechen, ist mir klar. Darum braucht es genau jene «grosse Diskussion», die Christoph Blocher angekündigt hat. Vielleicht müssen uns dabei die Konsequenzen eines helvetischen Rückzugs aus der europäischen Geschichte noch deutlicher vor Augen geraten, als das bisher geschehen ist. Spätestens dann aber sind wir mit der Dringlichkeit der Fragen konfrontiert, die der «Monat» gestellt hat: Wer sind wir – und was wollen wir bleiben?
1 Ernest Renan: Discours et Conférences, Paris 1887, S. 298 f.