Freiheit und Sicherheit
Wie offen, wie frei wollen moderne Gesellschaften sein? Umgekehrt: Sicherheit um welchen Preis? Dass auch letzte Werte Nullsummenspiele kennen, ist keineswegs neu. Jede Generation ist aber neu gefordert, die gute Mitte zu finden und gut bedeutet nicht bequem.
Im Paradies gibt es beides, und nahezu unbegrenzt: Freiheit und Sicherheit. Auf Erden, und namentlich seit «Nine/Eleven» und den Angriffen von Madrid und London, muss man Ausgleich finden. Freiheit bedarf der Sicherheit, sonst zerstört sie sich selbst. Sicherheit bedarf der Freiheit, sonst wird sie zum Moloch. Im einen Fall verlieren wir unsere Seele, im anderen unser Leben. Eigentlich hatte man sich das 1989 aus Amerika verheissene «Ende der Geschichte» einfacher vorgestellt. Das Problem ist alt und jung zugleich. Aber davon, ob es bewältigt wird, und wie, wird die Zukunft der demokratischen Lebensform bestimmt. Es braucht Ausgleich und Kompromiss zwischen beidem, Freiheit und Sicherheit. Nicht nur kritische Infrastruktur, namentlich Energie und Cyberspace, sind bedroht durch den Terror. Es geht um das Gewebe der Gesellschaft und damit die zerbrechliche Balance zwischen Freiheit und öffentlicher Ordnung, wie sie seit den religiös befeuerten Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts in Europa etabliert wurde – nicht ohne Rückfälle in die Barbarei.
Die ältere Version des Problems wurde zwischen Thomas Hobbes und John Locke abgemacht. Zu den Zeiten vor Lockes Gesellschaftsvertrag zurückzukehren, wäre ebenso misslich wie zu denen vor Hobbes. Hobbes beschrieb das Leben im Naturzustand als «einsam und arm, brutal, hässlich und kurz», statt Politik ein Krieg aller gegen alle und daher der Ordnungsmacht des grossen Leviathan bedürftig, des Machtstaats. Das heute vielverabschiedete Westfälische Staatensystem – gemeint ist der Westfälische Friede, der den Dreissigjährigen Krieg in der Mitte Europas beendete und das moderne Staatensystem etablierte – war die Aussenseite.
Die Innenseite war der starke Staat – zu stark, um menschenfreundlich zu sein. Ihn wollte John Locke bewohnbar machen, indem er ihm die Garantie von Leben, Freiheit und Besitz abforderte, im Tausch gegen die selbstzerstörerische Form der Freiheit. «Good governance» wurde für Englands Parlamentsherrschaft, was die «Glückseligkeit» der Menschen für den fürstlichen Absolutismus auf dem Kontinent: sittliche Rechtfertigung der Herrschaft. Diese Balance zwischen Hobbes und Locke aufzugeben, wäre absurd. Stattdessen braucht es zu ihrer Verteidigung Augenmass und Gleichgewicht. Dazu gehört politische Führung, aber auch Bürgertugend und Kaltblütigkeit – ebenso wie parlamentarische Kontrolle und wache Medien.
Die neuere Version des alten Problems – um das Wort Dialektik zu meiden – zeigt sich auf doppelte Weise. Von aussen Angriff des religiösen Partisanen, der im asymmetrischen, postmodernen Krieg Terror einsetzt als Waffe des Schwächeren gegen den Stärkeren: das reicht von den Hasspredigten eines Ayatollah Chomeini aus den 1970er Jahren über die afghanischen Mudjaheddin und ihre Lehrlinge bis zu den Netzwerken des Al Qaida-Typs, die im Franchise-System arbeiten, Freibeuter des Terrors, die in Hamburg studieren oder in Leeds geregeltem Broterwerb nachgehen – bis sie sich selbst ihrem Hass opfern. Die Nachricht vom Ende der Religion, von den Europäern wie ein Naturgesetz geglaubt, hat sich als verfrüht erwiesen. Das hätte man schon aus den pseudo-religiösen Gewaltsystemen des modernen Totalitarismus lernen können. Jetzt aber sprengt sich der «neue Totalitarismus» – im Sprachgebrauch des Auswärtigen Amts – oder «Djihadismus» – in NATO-Speak – in unser Bewusstsein und bedroht Poppers «offene Gesellschaft», die ebenso verwundbar wie komplex ist, global angreifbar in ihrer kritischen Infrastruktur. «Wir müssen nur einmal Glück haben», so verhöhnte die IRA die britischen Behörden, «Ihr müsst immer Glück haben».
Von innen geht es um Verteidigung. Weshalb man die strategischen Zugangswege erkunden und die Verteidigung entsprechend aufstellen muss – und dann so viele Alliierte finden wie nur möglich. Die Hauptwaffe in diesem Kampf ist Informationstechnologie. Aber diese ist zweischneidig. Ein alles durchdringendes System elektronischer Überwachung, theoretisch und praktisch in Reichweite, bringt Orwellsche Elemente und Versuchungen und kann ausser Kontrolle geraten. Wer hütet die Hüter? Der Computer verspricht alles – kein Flüstern bleibt unbelauscht, keine Bewegung ungesehen – aber er ist auch sein eigener schlimmster Feind; weil er sich, wenn nicht am Ende auswählende Intelligenz steht, an Datenmassen überfrisst. Wer alles verteidigen will, so warnte Friedrich der Grosse strategische Lehrlinge, wird damit enden, dass er nichts verteidigt. Auch fallen die Sicherheitsdienste, indem sie alles den Maschinen überlassen, in Halbschlaf – was den Amerikanern vor dem 11. September passierte. Die britischen Behörden hatten vor dem 7. Juli auf Entwarnung geschaltet. Wiegt, mit anderen Worten, der sichere Verlust an Freiheit den ungewissen Gewinn an Sicherheit auf?
Fixiert auf die Bildschirme und die Überwachungssatelliten, müssen wir doch versagen, weil wir fremde Kulturen, ihre Trauer und ihren Zorn nur durch ein doppeltes Prisma wahrnehmen, das unserer Maschinen und das unserer Selbstbespiegelung. Den Europäern ist Ursache aller Ursachen die Armut, den Amerikanern der Mangel an Demokratie, den Arabern der Konflikt um das Heilige Land – alles Probleme, die sich als lösungsresistent erweisen. Der Terror aber bleibt unbeeindruckt von wirklichkeitsfremden Patentlösungen. Freiheit und Sicherheit bleiben im Widerspruch. Vielleicht ist weniger mehr? Weniger Maschinen und mehr Verstand, Phantasie, Voraussicht – nur wenige Geheimdienste kommen ohne Bestechung und andere Korrumpierungen aus. Das Militär ist Teil der Anstrengung, nicht mehr, aber auch nicht weniger, und sein Einsatz bleibt zwar ultima ratio, muss aber von Anfang an einbezogen sein. Finanzministern sollte man nicht gestatten, den Beamtentraum vom gläsernen Bürger zu etablieren, während sie uns sagen, alles geschehe ausschliesslich gegen den Terror. Für solche Spiele ist die Lage zu ernst. Denn unterdessen hört man den Hufschlag der apokalyptischen Reiter der Postmoderne: Massenvernichtungswaffen, Terror, Chaosstaaten und Cyberkrieg. Die Verteidiger müssen global denken und lokal handeln. Prävention ist notwendig, ebenso Vorwärtsverteidigung, aber auch – da steht alte political correctness gegen neuen Überlebensinstinkt – Präemption. Sieg ist in diesem Ringen nicht in Sicht. Was mit Arbeit und Urteilskraft allenfalls erreichbar ist, ist ein neues Gleichgewicht staatlicher Sicherheit und bürgerlicher Freiheit.
Michael Stürmer, geboren 1938 in Kassel, ist seit 1973 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.