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«Freiheit meint Freiwilligkeit»

Die Konferenz der Textbetreuer: Drei leitende Redaktoren sprechen über den Weg von Versuch und Irrtum, die Ausrichtung des «Schweizer Monats» und den Zustand der bürgerlichen Parteien.

«Freiheit meint Freiwilligkeit»
Ronnie Grob, René Scheu und Robert Nef, fotografiert von Daniel Jung.

 

Robert, du bist 1991 zu den «Schweizer Monatsheften» gekommen. Dein Einstieg fiel in eine bewegte Zeit, richtig?

Robert Nef: Es stimmt, der Start war schwierig. Richard Reich, NZZ-Inlandredaktor und später Direktor der Wirtschaftsförderung, Nationalrat und Präsident der «Monatshefte», war im Februar überraschend verstorben, und mein Vorgänger François Bondy erlitt einen gesundheitlichen Zusammenbruch. Er hoffte danach stets, als Redaktor zurückkehren zu können, doch auch wenn es niemand aussprechen wollte, war klar, dass er nicht mehr zurückkehren konnte.

Woran litt er?

Nef: Ich kannte die Diagnose nicht. Fakt ist: Er konnte nicht mehr schreiben. Für etwa ein Jahr habe ich in Stellvertretung für Bondy geschrieben. Ich mochte Bondy, diesen europäischen Kulturmenschen, den Richard Reich zu den «Monatsheften» geholt hatte. Ich habe ihn aber nie persönlich kennengelernt. Ich habe damals, neben einer Assistentenstelle an der ETH, auch halbtags das Liberale Institut geleitet. Als ich dann zu den «Schweizer Monatsheften» kam, musste ich mir eingestehen, dass drei Halbtagsstellen nicht kompatibel waren. Anstelle der ETH traten dann die «Schweizer Monatshefte».

Von wem bist du vermittelt worden?

Nef: Von Ueli Pfister, einem alten Freund, den ich von der liberalen Studentenschaft und dem Liberalen Institut her kannte. Er erzählte mir, dass der «Monat» in der Not sei, und riet mir, mich zu melden.

Wie bist du dazugestossen, René?

René Scheu: Das ist lustig – ich bin 2007 ebenfalls dazugestossen, um die Not der «Monatshefte» zu lindern. Und das kam so: Ich war Hintergrundredaktor beim «St. Galler Tagblatt». St. Gallen ist klein, irgendwann mussten sich die Wege von Konrad Hummler, damals Präsident der «Monatshefte», und mir kreuzen. Nach einem offiziellen, aber höchst vergnüglichen Gespräch über Gott und die Finanzwelt kamen wir zum Schluss, dass wir uns ab und zu treffen sollten, um unsere intellektuellen Leidenschaften zu teilen: die Philosophie auf der einen, die Mathematik auf der anderen Seite. Wir trafen uns einmal im Monat in der St. Galler Beiz «Barolo».

Und dabei kamt ihr auch auf die «Monatshefte» zu sprechen?

Scheu: Genau. Konrad sagte, dass er einen Nachfolger für dessen Herausgeber suchte, und dieser Herausgeber hiess Robert Nef. Und er sagte auch, dass man aus dem Magazin was machen müsste, weil es sich – finanziell, nicht intellektuell – von Krisensitzung zu Krisensitzung hangelte. Im Frühling 2006 trank ich mit Robert im «Splügen» ein Glas Wein, wir redeten über Gott und die Freiheit. Und: wir verstanden uns auf Anhieb. So kam es, dass ich nach dem Abschluss meiner Philo-Diss. seine Nachfolge antrat – und wir in der Folge hunderte Bahnfahrten zwischen St. Gallen und Zürich gemeinsam verbrachten, 75 Minuten im liberalen Streitgespräch begriffen, ohne Pause, voll fokussiert. Wir redeten uns den Mund fusselig, die anderen Fahrgäste dachten wohl, wir seien zwei Freaks mit überbordendem Mitteilungsbedürfnis.

Erinnerst du dich an deinen ersten Arbeitstag als Herausgeber der «Monatshefte»?

Scheu: Sehr gut sogar. Mein erster Arbeitstag an der Vogelsang­strasse in Zürich war der 2. Mai 2007, ich weiss es noch ganz ­genau, weil ich den arbeitsfreien 1. Mai immer eine lächerliche Erfindung fand. Die erste Begegnung mit der neuen Arbeitsstätte war freilich eine eher traumatische Erfahrung. Ich kam voller Enthusiasmus an. Robert begrüsste mich warmherzig wie immer und zeigte mir meinen Arbeitsplatz: Ich blickte auf ein altes Pult aus den 1960er Jahren, davor ein Stuhl und darauf ein Kabel mit losem Ende. Als ich mich erkundigte, wo mein Büro sein sollte, folgte eine Ausschweifung über den Begriff des Eigentums im liberalen Sinne. Die Pointe war: Ich kaufte mir nun einen Laptop, und fünfzig Prozent davon wurden mir vergütet. Doch blieb der Laptop mein Eigentum. Ich begriff sogleich: Das wird lustig, hier geht’s immer gleich ums grosse Ganze. Dafür gibt’s keine Infrastruktur, ich bin die Infrastruktur.

Ich habe keine solche liberale Unterweisung erhalten bei meiner Einstellung. Aber falls es einen Gesinnungscheck gäbe bei der Einstellung – welche Gesinnung muss ein «Monat»-Chefredaktor mitbringen?

Scheu: Die Gesinnung ist das eine, die existentielle Grundstimmung das andere. Die individuelle Freiheit musst du zuerst einmal empfinden. Das ist mein persönliches liberales Trainingsprogramm: Ich arbeite an einem eigenen Urteilsvermögen unabhängig davon, was die anderen denken mögen. Und ich würde meinen: Eine solche Unabhängigkeit ist eigentlich die Grundvoraussetzung für jeden Chefredaktor des «Schweizer Monats».

Nef: Ich habe es auch so erlebt. Der Liberalismus in den «Schweizer Monatsheften» ist kein -ismus. Er beruht auf der Freundschaft zur Freiheit, und Freund der Freiheit kann man aus ganz verschiedenen Motiven sein. Wir Redaktoren haben uns gegenseitig nie in die Texte hineingeschrieben. Wir haben sie gelesen, waren meist zu achtzig Prozent einverstanden, haben aber die anderen zwanzig Prozent belassen. Und wenn man korrigiert hat, dann nur, um Unklarheiten zu beseitigen. Alles in allem liess man sich gegenseitig machen. Wir waren sehr unterschiedlich, aber es war eine sehr tolerante Form des Umgangs mit Freiheit, im Sinne von «Du hast deinen Zugang und ich meinen». Der Dissens ist das Salz der Kollegialität. Am Schreibtisch dann hat jeder seinen Job gemacht, und es entstand ein vielfältiges, eigenes, eigensinniges Heft daraus.

Scheu: Ja, genau, es geht um das Seinlassen, das Laisser-faire. Wir waren und sind Laisser-faire-Liberale im guten Sinne, also keine Indifferenten, sondern Tolerante, solche, die leben und leben lassen, die Respekt vor dem Anderssein haben. Vor dem Denken der anderen, den Entscheidungen der anderen, der Lebensführung der anderen.

Auf welchen Artikel, den du geschrieben hast, oder welches Heft, das du gemacht hast, gab es die heftigsten Reaktionen?

Scheu: Als wir den Relaunch im April 2011 präsentiert haben, gab es die heftigsten Reaktionen von links. Damals war es die WOZ, die uns in einem langen Artikel als «reaktionär seit 1921» attackierte. Der Artikel hatte einen verschwörungstheoretischen Tonfall, was das einzig Innovative an ihm war – heute ist das ja der Standard. Im Artikel wurde die Zeitschrift so dargestellt, als würde jemand im Hintergrund die Fäden ziehen, derweil wir, die Redaktion, nur die ausführenden Marionetten dieser dunklen Mächte seien. Das war viel linkshistorischer Lärm um nichts. Denn das Relaunch-Heft war sehr unpolitisch. Wir eröffneten es mit einem klugen Plädoyer für eine gesunde Nachrichtendiät von Rolf Dobelli unter dem Titel «Vergessen Sie die News!».

Dobellis Artikel wird übrigens bis heute sehr gut gelesen auf unserer Webseite. Es war ein weit vorausschauender Text, der eher noch an Dringlichkeit gewonnen hat. Bei dir, Robert?

Nef: Am meisten Feindseligkeit ausgelöst hat ein Gutachten, das ich geschrieben habe und das auch als Beilage zu den Monatsheften gedruckt wurde – es kam zum Schluss, dass Völkerrecht nicht grundsätzlich über dem Landesrecht stehe und dass ein EU-Beitritt keine gute Lösung wäre. Weil dieses Gutachten von der SVP in Auftrag gegeben wurde, haben die Medien geschrieben, ich sei Sympathisant der SVP und werde von Christoph Blocher bezahlt. Meine Freundschaft mit Blocher, die auf die Studienzeit zurückgeht, habe ich gar nicht bestritten, aber sie hat den Inhalt meines Gutachtens nicht beeinflusst. Ich hätte dasselbe Gutachten auch verfasst, wenn mich die FDP oder die SP beauftragt hätte. Viele Mitglieder der FDP, vor allem solche, die mich nicht persönlich kennen, haben mir damals vor allem meine EU-Beitrittsskepsis übelgenommen. Heute gibt es glücklicherweise in allen Parteien, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, Beitrittsgegner. Die Diskussion hat sich ein wenig entspannt.

Was waren die schlimmsten, folgenreichsten Fehler, die ihr gemacht habt?

Scheu: Fehler machen gehört zum Alltag. Wir waren eine Gruppe von Greenhorns, frech, frisch, experimentierfreudig. Claudia Mäder schrieb Gedichte, Florian Rittmeyer war unser IT-Mann, Michael Wiederstein zog den «Literarischen Monat» hoch, ich war Vielfronten-Manager-Publizist. Es war ein ständiges «Trial and Error», manchmal auch ein Hüst und Hott. All die guten Leute, die ich erwähnt habe, begannen als Praktikanten, stiegen dann auf zum Volontär, zum Redaktor, zum stellvertretenden Chefredaktor und eventuell sogar zum Chefredaktor. Für mich waren es unglaubliche Jahre, in denen ich viel gelernt habe über die Publizistik, über das Verlagswesen, über Verkaufstechniken, Lesebedürfnisse, über Chaos, Grosszügigkeit und Kollegialität.

«Viele sagen, dass der Wettbewerb beim

Liberalismus das Wichtigste sei. Für mich

ist das Lernen das Wichtigste.»

Robert Nef, fotografiert von Daniel Jung.

Nef: Auch ich habe unglaublich viel gelernt. Viele sagen, dass der Wettbewerb beim Liberalismus das Wichtigste sei. Für mich ist das Lernen das Wichtigste. Freiheit ist ein Lernprozess und nicht primär ein Wettbewerb. Man muss die anderen dabei nicht ausstechen, sondern man muss bereit sein, voneinander zu lernen, auch von den schlimmsten Feinden. Das ist das Geheimnis des Weisewerdens und das Geheimnis des Friedens.

Viel lernt man auch beim Lesen und Redigieren von Texten. An welche Autoren, die ihr betreut habt, erinnert ihr euch am liebsten zurück?

Nef: Einer meiner ersten Texte war ein kleiner Aufsatz «Popper kontra Hayek», und der basierte auf einem Artikel von Ralf Dahrendorf, der sagte, Popper sei der grosse Liberale und Hayek sei zu dogmatisch. Er sei in den Markt vernarrt, und wer liberal sein wolle, müsse Popper folgen und Hayek auf die Seite schieben. Das hat mich geärgert, denn ich halte nicht nur Popper, sondern auch Hayek für einen bahnbrechenden Liberalen. Weil ich wusste, dass die beiden sich gekannt haben, schickte ich diesen Text an Popper; er antwortete mir sorgfältig mit einem handgeschriebenen Brief…

… den du später in den «Monatsheften» publiziert hast, richtig?

Nef: Genau. Popper schrieb darin, dass es zwischen Hayek und ihm keine grundsätzlichen Differenzen gebe und dass er Hayek in Dankbarkeit verbunden sei. Diese Antwort schickte ich dann an Dahrendorf, der auf wichtigen Unterschieden beharrte und mir erklärte: «Wissen Sie, Herr Nef, das ist typisch für alte Männer, sie wollen sich nicht mehr streiten. Philosophisch klaffen diese Welten jedoch stark auseinander.» Dahrendorf hatte recht, Hayek ist mit Popper nicht voll kompatibel; aber das sind eben zwei Persönlichkeiten, die sich gegenseitig haben gelten lassen. Die Pointe ist, dass ich viel später mal mit Dahrendorf in der ETH zusammentraf; er erkannte mich und flüsterte mir zu, dass er ein Fan von mir sei, seitdem ich ihm damals geschrieben hatte. Er habe es sich noch mal überlegt und komme zum Schluss, dass zwar beide unterschiedlich seien und einen anderen Ansatz hätten, dass man aber wohl beide als bedeutende Liberale ansehen könne.

Scheu: Mich hat natürlich Peter Sloterdijk geprägt; er hat mir beigebracht, wie man einen eigenen sprachlichen Sound findet und dadurch einen eigenen Themenzugang, egal, worum es geht. Und Hans-Ulrich Gumbrecht; er praktiziert das intensive Leben, das hat zweifellos auf mich abgefärbt. Mein prägendstes Erlebnis war aber ganz praktisch: Zusammen mit Florian Rittmeyer besuchte ich im Frühling 2011 Didier Sornette in seinem Büro. Es roch ziemlich streng. Sornette entging mein Verwundern nicht, er sagte cool, er trainiere alle paar Stunden des Tages ein wenig, um sein Gehirn zur Höchstleistung zu animieren. Und er schritt gleich zur Tat: Der ETH-Professor, damals Anfang 50, hängte sich an die Stange im Büro und absolvierte zehn perfekte, ganz langsam ausgeführte Klimmzüge. Wir stifteten Didier an, einen Text für uns zu schreiben, wie man sich gesund ernähren, effizient trainieren und ohne viel Aufwand viel Körperspannung aufbauen kann. Also haben wir bald auch selbst im Büro Sport getrieben. Ich habe in der Folge meine Ernährung und meine Trainingsmethoden umgestellt, mein Leben hat sich zum noch Besseren gewandelt.

Gab es auch einschneidende Erlebnisse mit Lesern?

Nef: Ich habe 2006 die «Enzyklika deus caritas est» kommentiert. Irgendein Leser hat den Text nach Rom geschickt und die Rückmeldung erhalten, mein Artikel sei «von höchster Stelle gelesen und mit Zustimmung zur Kenntnis genommen worden». Das Feedback eines Nichtkatholiken in einer Zeitung hat Papst Benedikt offenbar gefallen – so stelle ich mir dies jedenfalls vor.

Scheu: Eine schöne Anekdote! Apropos Papst: Ich hatte 2013 das päpstliche Schreiben «Evangelii gaudium» kritisiert, zuerst in meiner Kolumne in der «NZZ am Sonntag», dann auch im «Monat». Der Tenor meines Artikels: In der Kirche geht es heutzutage nicht mehr um den lieben Gott, sondern um Armut und Afrika, wobei die Armut zudem rein materiell und nicht mehr geistig definiert wird. Schlechte Ökonomie statt gute Theologie! Die Enzyklika von Franziskus, so argumentierte ich, atme einen ähnlichen Geist. Darauf schrieb mir der oberste Protestant, Gottfried Locher, eine handschriftlich verfasste Karte, in der er mir inhaltlich zustimmte – ein stiller, heimlicher Gruss unter Protestanten.

«Wir sind ein Magazin, das den Irrsinn postmoderner Geldpolitik in allen seinen Facetten seit Jahr und Tag ausleuchtet», schriebst du, René, 2015. Hättest du gedacht, dass sich der staatliche Irrsinn des hemmungslosen Schuldenmachens so lange halten könnte? In den letzten Jahren sah es oft so aus, als würde das Geldwesen zusammenbrechen; und nie ist es passiert.

Scheu: Wenn die Intellektuellen einen Konstruktionsfehler zu erkennen glauben, gehen sie immer davon aus, dass gleich die Welt zusammenbricht. Aber es haben eben viele Akteure ein Interesse, dass sie nicht zusammenbricht, also wird das nicht so schnell passieren. Ich gehe davon aus, dass dieses irrsinnige Geldsystem weiterhin besteht – auf unabsehbare Zeit. Dass der «Schweizer Monat» nun, mit zwei Dossiers dazu, einen Fokus auf Kryptowährungen legt, finde ich richtig, das ist der nächste Schritt.

Reden wir über Liberalismus. Im Archiv habe ich diese Definition von dir, René, gefunden: «Es ist die Philosophie der Freiwilligkeit – daraus lässt sich alles weitere ableiten: Einen freien Willen hat nur das Individuum (-> Individualismus); das frei gewählte Zusammen­leben ist friedlicher als das erzwungene (-> Sozialphilosophie); ­freiwillig ist nur der Tausch (-> Ökonomie); tauschen lässt sich nur, was einem gehört (-> Privateigentum); der Schutz des Eigentums ist oberstes Gebot (-> Minimalstaat).» Ist das noch aktuell?

Scheu: Das ist die Kurzfassung des damaligen Standes meines Irrtumes, die Quintessenz der Gespräche, die Robert und ich gemeinsam geführt haben. Robert hat mir beigebracht, dass Freiheit Freiwilligkeit bedeutet; das ist ein zutiefst philosophischer, faszinierender Gedanke, der mich seither nicht mehr losgelassen hat. Es geht nicht um materielle, faktische, juristische oder reale Freiheit. Es geht um Freiwilligkeit. Menschliche Freiheit meint Freiwilligkeit. Das ist der Kern eines jeden Liberalismus, der sich selber ernst nimmt.

«Diese Grunddissidenz, die in jedem Kind lebt,

muss einfach nur ­bewahrt werden – dann

wird man später ein ­kreativer Dissident, also ein Liberaler.»

  • (Robert Nef)

Nef: Meine Auffassung von Liberalismus ist noch radikaler als jene von René. Sie beginnt mit dem Schöpfungsmythos, wo sich Eva auf Anstiftung der Schlange die ursprünglich nur Gott zustehende Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, anmasst. Eva heisst wörtlich übersetzt «das Leben». Dieses Selbst-unterscheiden-Wollen zwischen Gut und Böse – das ist der Ursprung der Freiheit und gleichzeitig der Grund zur Vertreibung aus dem Paradies. Die Freiheit ist nicht von schottischen, französischen und deutschen Philosophen der Aufklärung zu Beginn der Neuzeit entdeckt oder gar erfunden worden. Ihre Wurzeln sind anthropologisch. Vergessen wir nicht, dass jedes Kind als kleiner Liberaler geboren wird. Die sagen «ich», «ich will» und «ich will nicht» – sie wollen nicht fremdbestimmt werden. Diese Grunddissidenz, die in jedem Kind lebt, muss einfach nur bewahrt werden – dann wird man später ein kreativer Dissident, also ein Liberaler.

Heisst das, dass das Freiheitsgefühl den Kindern ausgetrieben wird, wenn sie erwachsen werden?

Scheu: Kinder wollen machen, was sie wollen. Sie nehmen für sich die absolute, totale, brutale Freiheit in Anspruch. Das sehe ich bei meinen Kindern. Sie lehnen die Zwänge des Lebens partout ab. Zwänge sind Fremdbestimmung, sind Ablenkung, sind Mühsal, sind zu ignorieren. Zweckfreies, uneingeschränktes Spielen ist das einzig Wahre.

Der Wohlstand, den wir dank der freien Marktwirtschaft erreicht haben, ermöglicht ja immer mehr Menschen dieses freie, zweckfreie Spielen, auch Erwachsenen. Werden wir nicht nach und nach zu einer Gesellschaft, in der die Grundbedürfnisse befriedigt sind und jeder und jede zweckfrei spielen kann, weil der Überlebensdruck wegfällt?

Scheu: Zunächst einmal muss natürlich jeder das Kind in sich bewahren – sonst wäre ja Philosophie überhaupt nicht denkbar! Aber du meinst etwas anderes, und ja: Man kann wohl mit viel Evidenz kulturkritisch behaupten, dass sich die Gesellschaft gerade ziemlich krass infantilisiert. Tatsächlich verhalten sich viele Bürger wieder wie ungezogene Kinder mit Daueranspruchshaltung, die umso mehr wollen, je mehr sie bekommen. Sie alle buhlen um die Anerkennung des Staates mit grossem S – Peter Sloterdijk nannte den westlichen Wohlfahrtsstaat einmal treffend «Allomutterstaat». Er befiehlt nicht, sondern betreut und umsorgt, gewährt Liebe und entzieht seine Zuwendung wieder. Letztlich aber sorgt er für alle, oder besser: er gibt vor, dies zu tun. Die Bürger-Kinder halten sich derweil an die bewährte Heinzelmännchen-Theorie: Der Staat, das sind die anderen. Es gibt immer jemanden, der dafür sorgt, dass das Spielen wunderbar gestaltet werden kann, dass gekocht wird, dass das Bett gemacht ist.

Nef: Freiwilligkeit ist darum so wichtig, weil es auch freiwillige Verzichte braucht. Das Leben besteht aus dauernden Verzichten, und diese müssen – das ist ein Lernprozess – intrinsisch motiviert sein, nicht extrinsisch. Wer nicht verzichten kann, weiss nicht, was Dankbarkeit ist. Und wer keine Dankbarkeit kennt, ist zutiefst zu bedauern.

«Wenn in der Familie Kommu­nismus herrscht,

dann kann die Gesellschaft gut im Laisser-faire-Stil leben.»

René Scheu, fotografiert von Daniel Jung.

Ein Ideal aus deiner Sicht, wie in deinen Texten deutlich wird, ist die klassisch bürgerliche Familie. Wieso?

Nef: Ich bin hierbei geprägt vom britischen Soziologen Ferdinand Mount, der das Buch «Die autonome Familie» geschrieben hat. Für mich gehören zur bürgerlichen Familie alle dazu, die unter sich solidarisch sind und sich gegenseitig helfen. Aus meiner Sicht gibt es keinen Zwang zur Familiengründung, wer wen liebt, ist Privatsache. Zur Familie, diesem Mikrokosmos des Zusammenlebens, gehört übrigens auch viel ausgesprochen Negatives, ja, auch die schlimmsten Tragödien zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern und unter Geschwistern, die sehr oft gerade nicht «brüderlich» miteinander umgehen.

Scheu: Man könnte auch behaupten, die Familie sei die Kernzelle des Kommunismus. In der Familie teilen alle alles.

Aber aus freien Stücken.

Scheu: Na ja. Ein Kind wird in eine Familie hineingeboren, und die hat es sich nicht ausgesucht.

Zwei, die selbst eine Familie gründen, schon.

Scheu: Der Punkt ist: Wenn in der Familie Kommunismus herrscht, dann kann die Gesellschaft gut im Laisser-faire-Stil leben. Die Gesellschaft um solche sich selbst helfenden Familien herum kann so umso liberaler sein – man braucht ja nicht zweimal Kommunismus. Die Sozialisten konzipieren nun die Gesellschaft aber als Grossfamilie, als homogene Gemeinschaft, mithin als Stamm. Sie hassen die Familie, weil die Kinder da dem Einfluss des Staates entzogen sind, aber sie konzipieren die ganze Gesellschaft zugleich als Familie – was für ein abgrundtief falscher Gedanke!

«Der Wohlstand, den wir dank der freien Marktwirtschaft

erreicht ­haben, ermöglicht (…) immer mehr Menschen

dieses freie, zweckfreie Spielen, auch Erwachsenen.»

Ronnie Grob, fotografiert von Daniel Jung.

Als ich 2016 nach neun Jahren Berlin in die Schweiz zurückkehrte, fand ich, dass die Schweiz im Vergleich schon ziemlich freiheitlich und marktwirtschaftlich sei. Im Archiv habe ich ein Dossier zum Appenzellerland gefunden, das eingeleitet wird mit den Worten: «Wäre Adam Smith je im Appenzellerland gewesen, er hätte für seine Theorie vom gesellschaftlichen Segen des Freihandels und der Arbeitsteilung reichlich Argumente gefunden.» Deine Familie, ­Robert, kommt aus dem Appenzellerland, korrekt?

Nef: Die Familie lebt zwar schon seit drei Generationen in St. Gallen, aber den Mythos des ein bisschen anarchistischen Appenzellertums haben wir immer gepflegt. Im Kern lautet er so: Jede Familie hat ein eigenes kleines Haus, ein «Heimetli», das mehr oder weniger autark funktioniert. Einmal im Jahr geht man an die Landsgemeinde und fällt demokratische Beschlüsse, also ob eine Strasse oder Brücke gebaut wird oder nicht und wie viele Steuern man zu zahlen bereit ist. Wenn man an 364 von 365 Tagen nicht wirklich was mit dem Staat zu tun hat, ist das Verhältnis von privat zu Politik 364 zu eins.

Scheu: Man könnte sagen: Das ist eine höchst effiziente Form und Organisation des kollektiven Lebens. Möglichst viel privat, möglichst wenig Politik!

Nef: Ich sehe den Idealfall als eine Welt, in der die Leute mehr für sich selbst schauen und nur das Notwendigste gemeinsam beschliessen. Da bin ich auch bereit, mit Leuten wie Hans-Hermann Hoppe zu diskutieren, die sagen, es brauche überhaupt nicht zwingend etwas Gemeinsames. So oder so sollten Liberale, Libertäre und Anarchokapitalisten keine verbissenen Grabenkämpfe miteinander führen.

Die Parteien, die sowohl diese Gruppen als auch die bürgerlichen Familien vertreten sollen, bildeten in den 1980er Jahren mit FDP, SVP und CVP einen geeinten Bürgerblock, der nicht nur stark, sondern auch erfolgreich war. Wie siehst du die Bürgerlichen heute? Vertreten sie dich? Was viele nicht wissen: Der FDP-Slogan von 1979, «Weniger Staat, mehr Freiheit», stammt von dir, Robert.

Nef: Es ist schon in den 1980ern gesagt worden, der Slogan sei falsch. Es brauche nicht weniger Staat, sondern einen anderen Staat. Es ist schon wichtig, dass Gruppen und Parteien, die eigentlich zusammenhalten sollten, sich politisch nicht gegenseitig bekämpfen. Zuletzt hat das nicht funktioniert: Die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat von 2015 bis 2019 wurde überhaupt nicht genutzt – stattdessen haben sich FDP und SVP in fast allen Punkten zerstritten. Natürlich gibt es Differenzen, aber wenn man ein gemeinsames Bekenntnis für weniger Staat und weniger Steuern macht, dann findet man sich in vielen Punkten. Und das ist der Kern: Man muss dem Staat weniger Geld geben, und dann gibt es automatisch weniger Staat, weniger Kredite, weniger Schulden. Zunächst würde natürlich das Falsche gestrichen werden. Aber am Ende gäbe es weniger Staat und weniger Umverteilung, die alle Empfänger staatsabhängig macht.

René, wie siehst du das? Fühlst du dich vertreten von den bürgerlichen Parteien?

Scheu: Die einzig wählbare Partei für mich waren und sind die Jungfreisinnigen, die haben meine Stimme auch immer bekommen – ansonsten setze ich auf Köpfe unterschiedlicher Parteien. Bei den Jungfreisinnigen spüre ich ein genuines Freiheitsempfinden und zugleich das Verständnis für eine Ordnung im Sinne eines genuinen Liberalismus. Die FDP selbst ist eine unentschiedene, träge Partei ohne markante Protagonisten; es sind eher graue Akteure als bunte Hunde, es fehlt die Exzellenz. Natürlich halten sie die Marktwirtschaft hoch, und das ist ihnen zugute zu halten, aber sie gehen eben auch jeden möglichen Kompromiss ein und zementieren so letztlich den sozialdemokratistischen Status quo. Indem ich den Jungfreisinnigen die Stimme gebe, gebe ich aber auch der FDP die Stimme. Das betrübt mich eher – aber damit muss ich leben.

Nef: An der FDP bedauere ich, dass es nur noch eine FDP gibt mit einer Zentralmeinung. Früher war jede kantonale FDP ein wenig anders, und in jedem Kanton hatten sie andere Gegner. In St. Gallen waren die Gegner der FDP die Katholisch-Konservativen. Mein Vater hat als Freisinniger an der Seite der Sozialdemokraten gegen die Katholisch-Konservativen gekämpft, die in St. Gallen noch 1950 das gemeinsame öffentliche Baden von Frauen und Männern, also das Familienbad in der Badanstalt, verbieten wollten. Für mich ist das Grundübel in der Politik nicht der Sozialismus. Das Grundübel ist der Zentralismus und der Etatismus. Und Etatismus gibt es in der FDP sehr viel in Verbindung mit Zentralismus. Wenn es keinen Etatismus und Zentralismus gäbe, dann könnte man Sozialisten, Liberale und Konservative sehr gut in den freien Wettbewerb miteinander treten lassen.

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