Freiheit gewinnen
durch loslassen
Vor genau einem Jahr gab ich meine Wohnung auf, die ich geliebt habe. Ich kündigte meine Stelle, die mein Traumjob war. Und ich verschenkte die Hälfte meines Besitzes. Mit so wenig Hab und Gut wie nie zuvor zog ich in ein Zimmer einer Zweizimmerwohnung eines mir bis dahin fremden Mannes. «Bist du wahnsinnig geworden?», fragte man mich, und ich musste grinsen. Tatsächlich war ich der Unvernunft noch nie abgeneigt, sofern sie das Leben spannender machte.
Bald zeigte sich: das Loslassen war das Vernünftigste, das ich seit langem getan hatte. Es war der Preis, den ich zu bezahlen bereit war, um etwas anderes zu gewinnen: Freiheit. Ganz so einfach aber ging es dann doch nicht: meinem Entscheid, mein ganzes Leben umzukrempeln und fortan auf festen Lohn und Wohlstand und Sicherheit zu verzichten, gingen einige schlaflose Nächte voraus.
Auch das Zuviel an Besitz loszuwerden, war schwieriger als gedacht – aber viel freudvoller als erwartet. Als ein Flüchtling freudestrahlend meinen Fernseher aus der Wohnung trug, ertappte ich mich dabei, mich so zu freuen wie er. Wie viel Zeit ich gewinnen würde, die ich nicht länger vor der Kiste auf dem Sofa vertrödle! Wobei, auf welchem Sofa? Das war ja doch auch schon weg.
Mein einfaches WG-Zimmer ist nun mein Basislager. Der eingesparte Mietzins erlaubt mir, immer wieder loszuziehen und in der Welt zu Hause zu sein. Den letzten Winter habe ich auf Sansibar verbracht und demnächst werde ich vier Monate lang durch Südostasien reisen. Das Loslassen hat mein Leben grösser gemacht, weiter.
Heute wundere ich mich, warum ich das erst mit 44 und nicht schon viel früher wagte. Fast fühlt es sich so an, wie wenn man sich aus einer längst kaputten Beziehung befreit: man wartet viel zu lange, bis man den Schritt endlich macht. Und dann lässt schon der erste Tag des neuen Lebens die Ängste merkwürdig aussehen, die einen davon abgehalten hatten, es früher zu tun.