Freiheit für die Ameisen!
Die Schweizer setzen bei der Altersvorsorge seit je auf die eigenverantwortlichen Ameisen. Aber sie füttern auch die sorglosen Grillen durch, die nicht selbst vorsorgen, obwohl sie könnten. Dem vorbildlichen 3-Säulen-System droht deshalb der Kollaps.
Die Grille, die den Sommer lang
zirpt‘ und sang,
litt, da nun der Winter droht‘,
harte Zeit und bittre Not:
Nicht das kleinste Würmchen nur,
und von Fliegen keine Spur!
Und vor Hunger weinend leise,
schlich sie zur Nachbarin Ameise,
und fleht‘ sie an in ihrer Not,
ihr zu leihn ein Stückchen Brot,
bis der Sommer wiederkehre.
«Hör», sagt sie, «auf Grillenehre,
vor der Ernte noch bezahl‘
Zins ich dir und Kapital.»
Die Ameise, die wie manche lieben Leut‘
ihr Geld nicht gern verleiht,
fragt‘ die Borgerin: «Zur Sommerszeit,
sag doch, was hast du da getrieben?»
«Tag und Nacht hab‘ ich ergötzt
durch mein Singen alle Leut‘.»
«Durch dein Singen? Sehr erfreut!
Weisst du was? Dann tanze jetzt!»
Jean de La Fontaine
«Tut mir leid, aber wenn Sie Ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, muss ich Sie auf die Strasse stellen»: Keine Pflegeheimchefin und kein Spitaldirektor kann es sagen, selbst beim 72jährigen Ex-Direktor, der sein Pensionskapital auf einer Weltreise und im Casino verjubelt hat, oder bei der 88jährigen Demenzkranken, von deren vorzeitig beschenkten Erben keine Kostenbeteiligung einzutreiben ist. Der Sozialstaat Schweiz zeigt sich nicht so harsch wie die Ameise bei den Fabeldichtern Aesop und La Fontaine, die über die Grille in ihrer Not höhnt: Er sorgt für beide – für jene, die selbst vorsorgen, und für jene, die nicht vorsorgen, obwohl sie könnten (und natürlich, das steht ausser Frage und hier nicht zur Debatte, für all jene, die nicht können, obwohl sie wollen). Und damit verleitet er auch die Ameisen, die für die Grillen aufkommen müssen, sich so sorglos wie die Grillen zu verhalten.
Dabei ist die Schweiz seit jeher ein Staat der Ameisen, die nicht nur, wie die Insekten, für alle insgesamt, sondern für sich selbst, als Individuen, Verantwortung tragen, also vorsorgen. Das 3-Säulen-Prinzip, das die Experten mit seinem «Cappuccino»-Modell als Vorbild für die Welt preisen, setzt darauf, dass der einzelne für sich selber schaut – so wird, wie der Volksmund frotzelt, für alle geschaut: Die AHV, solidarisch umverteilend, bietet wie der Espresso nur die Basis, davon allein lässt sich nicht leben; die Pensionskasse, individuell erworben, bläht wie der Schaum bei den Erwerbstätigen die Rente auf ein Mehrfaches auf, damit ist die gewohnte Lebenshaltung weiterzuführen; das private Sparen sorgt wie das Schokoladepulver für die Versüssung obendrauf, dadurch können sich viele, von Verpflichtungen befreit, Ausgaben leisten wie nie zuvor.
Dieses vorbildliche Modell aber droht aus den Fugen zu geraten, weil nicht mehr jedes Individuum und jede Generation für sich selber vorsorgt, sondern der bemutternde Staat immer mehr Geld von den Ameisen zu den Grillen umverteilt: In der AHV und auch bei den Pensionskassen, wo das System gar keine Umverteilung vorsieht, fliesst es von den Jungen zu den Alten, mit den Ergänzungsleistungen mitunter von den Verantwortungsvollen zu den Sorglosen. Das System wankt – und es bricht schon in wenigen Jahren zusammen, wenn die Politik keine Lösungen findet. Die liberalen Ideen dafür gibt es.
Staatliche Massenversorgung?
Die Schweizer sind Ameisen – darin stimmten einst alle überein. «Der schweizerische Weg zur sozialen Sicherheit beruht auf dem Grundsatz der persönlichen Verantwortung des einzelnen gegenüber sich selbst und gegenüber seinen Nächsten», stellte das Aktionskomitee fest, das 1943 für einen «überparteilichen Vorschlag für eine eidgenössische AHV» warb, getragen von Freisinnigen und vor allem von Vertretern der Sozialdemokratischen Partei sowie des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. «Wir müssen das heute schwindende Bewusstsein der Selbstverantwortung durch geeignete Massnahmen beleben, um die Nachteile jedes staatlichen Versicherungswerkes (Schwächung des Sparwillens, missbräuchliche Inanspruchnahme usw.) aufzuwiegen. Wir wollen in erster Linie eine gegenseitige Hilfeleistung und nicht eine staatliche Massenversorgung.» Deshalb solle sich die Alterssicherung in der Schweiz zusammensetzen aus: 1. Selbstvorsorge, 2. Vorsorge durch den Betrieb oder den Berufsverband, 3. kommunale und kantonale Versicherungen und erst 4. eine eidgenössische Alters- und Hinterbliebenenversicherung.
Für dieses Modell setzten sich gerade die Gewerkschafter ein, obwohl sie damals schon dreissig Jahre für eine AHV kämpften. Die Forderung stammte aus dem Generalstreik von 1918, und das Volk schrieb sie bereits 1925 in der Bundesverfassung fest. Eine Gesetzesvorlage, die äusserst bescheidene Einheitsrenten ab dem 66. Altersjahr vorsah, scheiterte aber 1931 in der Referendumsabstimmung. Erst im Zweiten Weltkrieg brachte das Aktionskomitee das Anliegen wieder auf. Aufgrund seiner Initiative legte der Bundesrat 1945 einen Expertenbericht vor; 1946 billigte das Parlament das Gesetz mit wenigen Gegenstimmen, 1947, nachdem die Liberalen das Referendum ergriffen hatten, nahm das Volk die Vorlage mit einem Verhältnis von vier zu eins an. 1948 trat die AHV in Kraft.
Selbst als die Kommunisten eine Alterssicherung auch für die Grillen einführen wollten, dachten sie noch an die Ameisen. 1970 reichte die Partei der Arbeit ihre Initiative «für eine Volkspension» ein. Sie verlangte für alle eine existenzsichernde Rente in der Höhe von sechzig Prozent des Mittels der fünf besten Jahreslöhne; mindestens aber (für die Grillen) monatlich 500 Franken für Einzelpersonen und 800 Franken für Ehepaare, höchstens (für die Ameisen) das Doppelte davon. Diese Lösung nötige niemanden «zum Zwangssparen zugunsten der grossmächtigen Banken und Versicherungen», warben die Initianten. Und sie fessle die Lohnverdiener nicht an ihr Unternehmen.
Gigantische Bürokratie
Gerade deshalb schrieb aber eine noch breitere Koalition als jene, die 1947 die AHV schuf, 1972 das historisch gewachsene 3-Säulen-Prinzip in der Bundesverfassung fest. «Unter dem Gesichtspunkt der Kapitalbildung ist es nicht gleichgültig, in welcher Form das Vorsorgeproblem gelöst wird», warnte die Expertenkommission des Bundesrates. «Eine hohe Sparquote erleichtert eine rege Investitionstätigkeit, die ihrerseits zu einem steigenden realen Sozialprodukt führt.» Der St. Galler Professor Francesco Kneschaurek rechnete gar vor, die einheimische Industrie könne nur weiterwachsen, wenn die Schweizer mehr als 32 Prozent statt wie bis dahin nur 27 Prozent des Volkseinkommens sparten.
Dass dank dem Zwangssparen «das Geschäft des Jahrhunderts» lockte, sah ein Journalist der «Zürcher AZ» schon damals. «Es wird in der ‹zweiten Säule› ein gigantischer bürokratischer Stab von Beratern, Vermittlern, Börsenjongleuren, Treuhändern, Immobilienverwaltern und Werbeleuten aufgebaut», weissagte er. «Dessen Last trägt der Beitragszahlende und der Rentner, dessen Zweck ist die reibungslose Finanzierung der Grossindustrie unter Vermittlung des Bank- und Versicherungssystems.» Der hellsichtige Journalist, der auch hochrechnete, die Pensionskassen würden ihr Vermögen von 40 Milliarden bis 1999 auf 250 Milliarden versechsfachen, hiess Beat Kappeler. Er irrte sich nur beim Faktor: 2013 hielten die Schweizer Pensionskassen 720 Milliarden. (Diese Trouvaillen sind übrigens dem Dokumentenband «Schweizerische Arbeiterbewegung» zu verdanken, den heute Prominente wie Josef Estermann, Hans-Jürg Fehr oder Peter Hablützel nach heftigen Auseinandersetzungen vor vierzig Jahren herausgaben.)
«Wenn sich das Volk bewusst wird», warnte auch der PR-Mann und FDP-Nationalrat Robert Eibel, «dass die private Versicherung, die auf dem Kapitaldeckungsverfahren beruht, dreimal mehr kostet als die Volksversicherung, dann wird das 3-Säulen-System nicht mehr zu halten sein.» Das Bewusstwerden liess sich aber im eidgenössischen Konsens gegen die Kommunisten verhindern: Am 3. Dezember 1972 lehnte das Volk die Volkspension mit 79 Prozent ab und nahm den Gegenentwurf mit dem 3-Säulen-Prinzip mit 74 Prozent an.
Dieser Artikel sei «ein Kernelement der schweizerischen So-zialverfassung überhaupt», schreibt Ueli Kieser im St. Galler Kommentar zur Bundesverfassung. Das Parlament warb dafür, indem es festschrieb, die AHV-Renten müssten den Existenzbedarf «angemessen» decken, und eine 8. AHV-Revision versprach, die die Renten verdoppeln sollte. Diese Bestimmung ziele auf mehr als das blosse Existenzminimum, meint Ueli Kieser, beim Beurteilen, ob das Ziel erreicht sei, gebe es aber einen Ermessensspielraum: «Solange freilich eine AHV/IV-Rente, welche als Vollrente in ihrem Maximalbetrag ausgerichtet wird, noch nicht zur Deckung des Existenzbedarfs ausreicht, besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf.» Immerhin betont der nach links neigende Kommentator, «dass für den Verfassungsgeber allemal ein Zusammenwirken unterschiedlicher Sicherungssysteme zentral ist und dabei auch die Selbstvorsorge einen Stellenwert hat».
Selbstbedienungsladen für Ältere
Das System wälzt seit 1985, also seit der Einführung der obligatorischen beruflichen Vorsorge, im Vollbetrieb die Milliarden um. Bald zeigten sich aber die Defekte und heute droht gar der Kollaps dieser Konstruktion, wenn sich das 3-Säulen-System nicht grundlegend sanieren lässt. Die Probleme rühren daher, dass die gängige Praxis das Prinzip der Ameisen verletzt: Es sorgt nicht jedes Individuum und jede Generation nach Kräften für sich selbst – das bringt die erste und die zweite Säule ins Wanken.
«Die AHV ist ein Selbstbedienungsladen zulasten künftiger Generationen», sagt Professor Bernd Raffelhüschen. Der Finanzwissenschafter vom Forschungszentrum Generationenverträge der Universität Freiburg im Breisgau stellte Anfang Jahr eine Studie vor, die er zusammen mit der UBS erarbeitet hatte. Sein Fazit: Die AHV verspricht allen mehr als Rente, als sie mit Beiträgen oder Steuern selber einzahlen.
Das ging bisher gut, weil die Rentenversicherung mit ihrem Umlageprinzip wie ein Pyramidenspiel funktioniert: Es beruht auf stetigem Wachstum der Wirtschaft, vor allem der Erwerbstätigen. Im letzten Jahr rutschte das Umlageergebnis der AHV aber – wie schon lange befürchtet, nur durch die starke Zuwanderung aufgeschoben – in die roten Zahlen ab: Die Versicherung gab mehr für Renten aus, als sie an Beiträgen der Arbeitnehmer und Zuschüssen des Bundes einnahm. In den kommenden Jahren, wenn die geburtenstarken Jahrgänge vor dem Pillenknick von 1964 in Rente gehen, klafft eine immer grössere Lücke, von bis zu einer Milliarde bis 2020, von mehr als zehn Milliarden ab 2030.
Alle gegenwärtig lebenden Generationen stellen sich ungedeckte Checks aus. Die fehlenden Beträge lassen sich zu einer Nachhaltigkeitslücke aufrechnen: Bernd Raffelhüschen beziffert sie auf 170 Prozent des Schweizer Bruttoinlandsprodukts, also mehr als eine Billion Franken. Mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um bis zu eineinhalb Prozentpunkte, wie dies der Bundesrat vorschlägt, liesse sich die Lücke zu siebzig bis achtzig Prozent schliessen. Wer sie ohne Mehreinnahmen voll decken wollte, müsste die Renten um fast ein Viertel kürzen oder das Rentenalter auf 72 erhöhen.
Ein Selbstbedienungsladen für die älteren Generationen sind aber auch die Pensionskassen – dabei sollte in der 2. Säule jeder für sich selber vorsorgen, also Kapital ansparen. «Die Pensionskassen versprechen zu hohe Leistungen», warnt die Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge, seit sie vor zwei Jahren ihre Arbeit aufnahm. Die Renten liessen sich korrekt berechnen, aus dem gesparten Kapital, der Verzinsung dieses Guthabens und der Lebenserwartung. Einer der Parameter, der Umwandlungssatz, wird aber politisch bestimmt. Und bisher scheiterten die Versuche, den viel zu hohen Satz von 6,8 Prozent (= 6800 Franken Jahresrente pro 100 000 Franken Sparkapital) zu senken. «Wollen wir über die Fallgeschwindigkeit abstimmen», spottet deshalb der Pensionskassenexperte Martin Janssen, «damit es nicht mehr so schmerzt, wenn man aus dem dritten Stock fällt?»
Die Pensionskassen und die Lebensversicherer müssen die politisch überhöhten Renten sicherstellen, zumindest im obligatorischen Teil bis zu einem Lohn von 84 600 Franken. Deshalb bedienen sie sich bei den Guthaben der Versicherten mit Löhnen im überobligatorischen Bereich. Axa Winterthur senkte letztes Jahr den Umwandlungssatz im Überobligatorium auf rund 5,5 Prozent und will ihn bis 2018 schrittweise auf 5 Prozent drücken. Die grösste Lebensversicherin des Landes räumt ein, 2013 seien so bei ihr 416 Millionen Franken von den Aktiven zu den Rentnern geflossen; insgesamt schätzt sie die systemwidrige Umverteilung auf jährlich 3,5 Milliarden Franken – Tendenz rasant steigend. Denn nicht erst in den Zeiten von Nullzinsen schwächelt der «dritte Beitragszahler», der Kapitalmarkt. Eine Analyse des Basler Wirtschaftsinstituts BAK für den Bund rechnet bis 2035 mit durchschnittlichen Jahresrenditen von 2 bis 3 Prozent, nach Verwaltungsgebühren 1,5 bis 2,5 Prozent. Dies ergäbe bei weiter steigender Lebenserwartung einen korrekten Umwandlungssatz von 5 Prozent. Und das Gutachten von Bernd Raffelhüschen errechnet gar einen Satz von 4,7 Prozent – also fast ein Drittel tiefere Renten als bisher. Der Bundesrat wagt denn auch nur, eine Senkung von 6,8 auf 6 Prozent vorzuschlagen, samt Ausgleich für die Übergangsgeneration.
Vom Anstand profitieren
Bei der AHV und den Pensionskassen verbrauchen die alten Ameisen zulasten der jungen mehr, als sie erspart haben. Und mit den Ergänzungsleistungen füttern die Ameisen auch die Grillen durch – sie nehmen also allen den Anreiz, eigenverantwortlich vorzusorgen. Hier tickt deshalb eine noch gefährlichere «Anstandsbombe», wie sich die St. Galler Professorin Monika Bütler ausdrückt. Denn bisher galt: «Die Schweiz profitiert vom Anstand ihrer Bürger. Viele, die auf dem Papier Anspruch auf staatliche Leistungen hätten, je nach Art der Unterstützung bis zu fünfzig Prozent, beanspruchen diese nicht.»
Die Schweiz vertraut zwar auf die Vorsorge der Ameisen, verspricht aber auch die Vollversorgung für alle Grillen. Die AHV deckt mit ihrer Mindestrente von derzeit 1175 Franken für eine Einzelperson die Lebensbedürfnisse nicht so, wie es die Bundesverfassung fordert. Deshalb kommen die schon 1966 eingeführten Ergänzungsleistungen dazu, auch «vierte Säule» genannt. Sie fliessen für die anerkannten Ausgaben, die den «Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf» von gegenwärtig 19 290 Franken übersteigen – das kann bei Patienten in Pflegeheimen zu beträchtlichen Kosten führen.
Schon vor zwei Jahren schlugen deshalb die Ostschweizer Finanzdirektoren Alarm: Die Kosten für die Ergänzungsleistungen drohten ausser Kontrolle zu geraten. Seit 2000 schnellten sie bis 2013 landesweit von 2,3 auf 4,5 Milliarden Franken hoch, also fast um hundert Prozent, in der Ostschweiz gar um das Doppelte. Und bis 2020 rechnet der Bundesrat in einem Bericht zuhanden des aufgeschreckten Parlaments mit einer Steigerungsrate der Ergänzungsleistungen zur AHV von 3,4 Prozent – ein solches Wachstum ergäbe eine weitere Verdoppelung in zwanzig Jahren.
Diese Explosion kommt von den Fehlanreizen in der Alterssicherung: Wer sein Vorsorgekapital verprasst oder verschenkt, erhält nachher Ergänzungsleistungen für die Pflege – wer eigenverantwortlich dafür spart, ist der Dumme, weil er nicht nur für sich selber zahlt, sondern auch für alle anderen. «Für viele Personen lohnt es sich nicht, ihre Lebenshaltungskosten im hohen Alter durch Sparen eigenständig zu finanzieren», stellt Monika Bütler fest. «Die Ergänzungsleistungen sind auch für breite Teile des Mittelstandes ein Ersatz für die in der Schweiz fehlende Pflegeversicherung.» Das heisst: Das grundsätzliche Überdenken der Altersvorsorge drängt sich auf, um den Kollaps des Anstands zu verhindern.
Langfristige Lösungen gefordert
Wie lässt sich die Eigenverantwortung der Ameisen retten? «Das System der Altersvorsorge sieht sich mit demographischen und wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, die mittel- und langfristige Lösungen erfordern», schreibt der Bundesrat in der Botschaft zur Reform der Altersvorsorge 2020, die das Parlament derzeit berät. Da die Nutzniesser des defekten Systems inzwischen die Mehrheit des Stimmvolks stellen, setzt Sozialminister Alain Berset (SP) auf einen ebenso umfassenden wie vorsichtigen Plan: Für die «Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise», wie sie die Verfassung garantiert, gelten seit 1972 sechzig Prozent des letzten Lohnes als nötig – die grosse Koalition für das 3-Säulen-Prinzip, die die Initiative für eine Volkspension bekämpfte, übernahm also deren Ziel. Und diese Marke will der Bundesrat mit allen Mitteln halten: mit einer Angleichung des neu «Referenzalter» genannten Rentenalters für Frauen und Männer bei 65; mit einer Senkung des Umwandlungssatzes auf 6 Prozent; mit Zuschüssen für die Personen, deren Renten deshalb sinken; vor allem mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um bis zu 1,5 Prozent.
Selbst diese um Mehrheitsfähigkeit bemühte Vorlage bleibt heiss umstritten. Der Gewerbeverband fordert ein schrittweises Erhöhen des Rentenalters. Der Arbeitgeberverband wehrt sich gegen ein Anheben der Mehrwertsteuer um mehr als 0,6 Prozent. Und der Gewerkschaftsbund wirbt weiter für eine «AHV plus» mit um zehn Prozent höheren Renten. Für alle diese Vorschläge, inklusive Vorlage des Bundesrates, gilt allerdings: Sie können die – oben dargelegten – grundsätzlichen Probleme der Altersvorsorge nicht lösen.
Die Modelle dafür gibt es in anderen Ländern. Einerseits einen «wirklichen Generationenvertrag», wie ihn beispielsweise Schweden, Polen und Lettland schlossen. «Sie haben ihre Renten für immer und automatisch ins Gleichgewicht gebracht, geschehe, was wolle», schreibt Beat Kappeler dazu in seinem Buch «Sozial, sozialer, am unsozialsten», nämlich mit politisch nicht beeinflussbarer Versicherungsmathematik: «Dieses Wunderwerk baut die steigende Lebenserwartung und die gute oder schlechte Wirtschaftsentwicklung mit gekonnten Formeln in die Rentenzusagen ein. Es braucht keine weiteren politischen Entscheide, die umstritten sind, die zu viel versprechen oder zu spät kommen. Die Formeln bestimmen jährlich den Spielraum der Renten.»
Anderseits eine obligatorische Pflegeversicherung, wie sie der Think Tank Avenir Suisse entgegen seinen liberalen Grundsätzen vorschlägt: «Zwang ist allen, die auf Selbstbestimmung und Selbstverantwortung setzen, unsympathisch», räumt Direktor Gerhard Schwarz ein. «Wenn er trotzdem auch von liberalen Geistern nolens volens akzeptiert wird – man denke an das Krankenkassen- oder das BVG-Obligatorium –, so deswegen, weil wir nicht im Nirwana und nicht in der besten aller Welten leben. Die auch Liberalen wichtigen Auffangnetze für einkommensschwache Bürger bergen die Gefahr des Trittbrettfahrens, und ihr kann nur mit Obligatorien begegnet werden.»
Wenn alles nichts hilft, müsste die Politik wohl auf den Jahrhundertentscheid von 1972 zurückkommen. Mit dem Ausbau der AHV zu einer Volkspension, die gemäss Verfassung – auf einem bescheidenen Niveau! – die Existenz sichert, und der Abschaffung der Ergänzungsleistungen könnte die ganze Bevölkerung ein würdiges Alter erleben. Und dank einer Deregulierung der beruflichen Vorsorge, mit weitgehenden Wahlmöglichkeiten, würden die Eigenverantwortlichen ohne systemwidrige Umverteilung die Früchte des Sparens selber geniessen. Der Kampfruf in den Debatten über die Altersvorsorge muss also grundsätzlich heissen: Sicherheit auch für die Grillen – Freiheit für die Ameisen!