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Freiheit, Friede, Frivolität?

Mario Vargas Llosa ist einer der weltweit einflussreichsten liberalen Intellektuellen. Im Gespräch mit dem französischen Philosophen und Soziologen Gilles Lipovetsky diskutiert er über das Verschwinden der Hochkultur im Kapitalismus und die Sinnleere in der Gesellschaft des Spektakels. Und muss sich unerwartete Kritik gefallen lassen.

Freiheit, Friede, Frivolität?
Mario Vargas Llosa, photographiert von Staffan Loewstedt / SvD / Scanpix.

Mario Vargas Llosa: Lieber Gilles Lipovetsky, bitte gönnen Sie mir eine kurze Vorbemerkung zu unserem Gespräch. Es beunruhigt, um nicht zu sagen beängstigt mich, wenn ich sehe, wie sich das, was wir unter «Kultur» verstanden, als ich noch jung war, im Laufe meines Lebens gewandelt hat. Heute hat es kaum noch etwas gemein mit dem, was «Kultur» in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren für uns bedeutete. In meinem Essay «Alles Boulevard»1 versuchte ich zu beschreiben, worin dieser Wandel bestand, mir aber auch anzusehen, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf den verschiedensten Gebieten haben kann – im Gesellschaftlichen, Politischen, Religiösen, in der Sexualität und so weiter –, denn Kultur durchdringt alle Bereiche unseres Lebens. Ich möchte nicht pessimistisch stimmen, sehr wohl aber aufrütteln und zum Nachdenken anregen darüber, ob dieser geradezu hegemonische Stellenwert, den Spass und Unterhaltung in unserer Zeit erlangt haben, nicht vielleicht schon zum brüchigen Rückgrat des ganzen kulturellen Lebens wird. Ich, so viel vorweg, glaube, dass genau das passiert, und zwar mit dem Einverständnis breiter Schichten der Bevölkerung, einschliesslich jener, die einmal für die Institutionen und die kulturellen Werte standen. Sie, Gilles Lipovetsky, gehören für mich zu den modernen Denkern, die so akribisch wie profund diese neue Kultur analysieren. In Büchern wie «L’ère du vide»2 oder «L’empire de l’éphémère»3 beschreiben Sie höchst kenntnisreich, worin die neue Kultur besteht. Im Unterschied zu mir treibt Sie dabei keine Unruhe, im Gegenteil, Sie nähern sich Ihrem Gegenstand mit Sympathie und sehen darin Elemente, die Sie als ungeheuer positiv betrachten: so etwa die demokratisierende Kraft einer Kultur, die alle erreicht, einer Kultur, die anders als die traditionelle Kultur keine Vorbehalte kennt und nicht in Beschlag genommen wird von einer Elite, von klerikalen oder intellektuellen Grüppchen; einer Kultur, die durchlässig ist für die ganze Gesellschaft. Auch behaupten Sie, und das ist eine interessante Frage, über die man streiten kann, dass diese Kultur dem einzelnen erlaubt habe, sich zu befreien, denn anders als in der Vergangenheit, als das Individuum gewissermassen Gefangener einer Kultur war, könne der einzelne heute aus einem weiten Fächer an kulturellen Möglichkeiten wählen und nicht nur über seinen Willen bestimmen, sondern seine Vorlieben und Neigungen auch ausleben. Für Sie, Gilles, ist diese Kultur eine Vergnügungskultur, und sie vermag Bedürfnisse zu befriedigen bei Aktivitäten, die heute für sich in Anspruch nehmen, kulturelle zu sein, auch wenn man sie in der Vergangenheit nicht als solche betrachtete. Wie gesagt, über diese Ansichten lässt sich streiten, mal überzeugen sie mich, mal machen sie mich nachdenklich, und deshalb glaube ich, dass dies ein äusserst fruchtbares Gespräch werden kann über zwei Annäherungen an ein und dasselbe Phänomen, Annäherungen von Positionen, die unterschiedlich sind, sich vielleicht aber auch ergänzen.


Mario Vargas Llosa über Hochkultur:

«Tatsächlich ist die Art, wie die meisten Menschen eine Ethik verstehen und leben, ja auch vorgegeben von einer Religion. Allenfalls kleine Minderheiten emanzipieren sich von ihr und füllen die Leere, die sie hinterlässt, mit ‹Kultur›: mit Philosophie, Wissenschaft, Kunst. Doch nur die Hochkultur kann eine solche Funktion wirklich erfüllen, eine Kultur, die die Probleme angeht und nicht verhehlt, die versucht, auf die grossen Rätsel, Fragen und Konflikte, von denen die menschliche Existenz umfangen ist, ernsthafte Antworten zu geben und keine bloss spielerischen. Die Kultur des Seichten und des Flitters, des Klamauks und der Pose reicht nicht aus, um die Gewissheiten und Legenden, Mysterien und Rituale der Religionen zu ersetzen.»

«Quantität auf Kosten von Qualität. Dieses Kriterium, das in der Politik immer schon für die schlimmste Demagogie herhalten musste, hat auf dem Feld der Kultur ungeahnte Auswirkungen gehabt, denn die Hochkultur, ob ihrer Komplexität und zuweilen schwer verständlichen Codes zwangsläufig einer Minderheit vorbehalten, gibt es nicht mehr, der Begriff selbst von Kultur ist in der Masse aufgegangen. Mittlerweile hat Kultur nur noch die Bedeutung, die ihr der anthropologische Diskurs zuweist.»


Gilles Lipovetsky: Vielen Dank für diese schöne Einführung, Mario, Sie bringen es auf den Punkt. Für die Kultur, im edlen Sinne des Wortes, wirkt die Gesellschaft des Spektakels4 wie eine alles zersetzende Säure. Darin sind wir einer Meinung. Ich habe versucht, diesen Gedanken in meinem neuen Buch «L’esthétisation du monde: Vivre à l’âge du capitalisme artiste»5 theoretisch zu unterfüttern, und ich möchte diesen Punkt hier gerne ein wenig weiter ausführen, denn ich glaube, es geht in Ihre Richtung: Was war die edle Kultur, die Hochkultur für die Menschen der Neuzeit, um gar nicht weiter in der Geschichte zurückzugehen? Ich sage es Ihnen: Die Kultur stand für das absolut Neue. Als man daranging, eine demokratische, von der Wissenschaft geprägte Gesellschaft aufzubauen, schuf man, vor allem in der deutschen Romantik, eine Religion der Kunst, die es sich zur Aufgabe machte, beizusteuern, was die Religion selbst nicht bieten konnte, auch nicht die Wissenschaft, denn die beschrieb die Dinge nur. So kam es zu einer Sakralisierung der Kunst. Schon das siebzehnte und das achtzehnte Jahrhundert wollten uns bedeuten, dass es nun der Dichter sei, der Künstler, der den Weg aufzeigt, der sagt, was bisher die Religion vorgab. Wenn wir uns ansehen, was Kultur in der Welt des Konsums heisst, in der Welt des Spektakels – in Ihrem Buch nennen Sie es die «Zivilisation» oder auch die «Kultur des Spektakels», und mit dieser Bezeichnung bin ich vollkommen einverstanden –, dann beobachten wir eben genau den Zusammenbruch des alten, romantischen Modells. Die Kultur wird zu einem Teil des Konsums, zu einer Zelle im Konsumgewebe. Wir erwarten nicht mehr, dass Kultur die Welt verändert, wie Rimbaud es sich noch vorstellte: das Leben verändern, die Welt verändern. Das war die Aufgabe von Dichtern wie Baudelaire, der die utilitaristische Welt ablehnte. Sie glaubten, Hochkultur sei, was den Menschen, die Welt verändern könne. Heute wird niemand mehr auf den Gedanken kommen, Hochkultur verändere das Leben. In dieser Hinsicht hat die Kultur des Spektakels tatsächlich gewonnen. Von der Kultur erwarten wir vor allem Ablenkung, eine etwas gehobene Unterhaltung, aber was heute das Leben von Grund auf verändert, ist der Kapitalismus, die Technik. Die Kultur umgibt das Ganze dann mit einem gewissen Nimbus. Natürlich können wir eine solche Kultur des Spektakels und ganz allgemein die Konsumgesellschaft ausschliesslich negativ sehen, was nicht ganz Ihre Sicht ist. Gleichwohl habe ich in den Jahren, in denen ich die zeitgenössische Gesellschaft untersucht habe, das positive Potential, das ihr trotz allem innewohnt, aufzuzeigen versucht. Wenn wir das traditionelle Modell von Kultur zum Prüfstein der neuen nehmen, so erscheint diese neue Entwicklung negativ, das will ich nicht bestreiten. Aber das Leben besteht nicht nur aus Kultur! Das Leben ist auch Politik – für uns die Demokratie –, sind die Beziehungen zu den anderen, das Verhältnis zu sich selbst, zum Körper, zur Lust und zu allem Möglichen. Auf dieser Ebene können wir sagen, dass die Gesellschaft des Spektakels, die Gesellschaft des Konsums zwar einerseits die Verhaltensweisen dem Druck der Masse aussetzt, zum anderen verleiht sie dem einzelnen aber auch eine grössere Autonomie. Warum? Weil sie dafür gesorgt hat, dass die Megadiskurse in sich zusammenfallen, all jene politischen Ideologien, die den einzelnen prägten, die ihn in ein abgeschlossenes Regime sperrten, und diese Ideologien werden nun ersetzt durch Freizeit, durch kulturellen Hedonismus! Die meisten Leute wollen doch heute nicht mehr irgendeiner Autorität folgen; sie wollen glücklich leben, nach dem Glück streben, und das mit den Mitteln, die sie haben, auch wenn sie es, möchte ich hinzufügen, nicht immer schaffen. Die Konsumgesellschaft jedenfalls hat über den Hedonismus die Lebensentwürfe vervielfacht – und deren kulturelle und soziale Bezugspunkte. So hat das Fernsehen etwa, für die Hochkultur eine Art Grab, die Horizonte breiter Bevölkerungsschichten geweitet und den Leuten etwas an die Hand gegeben, woran sie anknüpfen können: Der einzelne kann nun vergleichen, es wurde ihm zu grösserer Selbständigkeit verholfen. Wir haben also eine Art Gesellschaft à la carte geschaffen, in der der einzelne sich sein Leben zusammenstellt. Es gibt keine sozialen Kämpfe mehr, die in Blutbädern enden, und in allen diesen Gesellschaften wird die Gestalt des Diktators abgelehnt. Insofern glaube ich, dass die Gesellschaft des Spektakels den Demokratien ein etwas weniger tragisches Dasein ermöglicht hat, ein weniger schizophrenes als früher. Was uns in gewisser Weise auch von den beiden grundlegenden Tendenzen, besser gesagt: den beiden grossen Übeln der letzten Jahrhunderte befreit hat: von Revolution und Nationalismus. Wo die Gesellschaft des Spektakels obsiegt, mag es zwar Nationalismus geben, aber keinen blutigen, und die Revolution – das grosse Menschheitsabenteuer, die grosse eschatologisch-revolutionäre Hoffnung, wie sie der Marxismus verkündete – hat heute an Anhängerschaft so viel eingebüsst wie an Glaubwürdigkeit. Wenn wir uns daran erinnern, was Nationalismen und Revolutionen für das zwanzigste Jahrhundert bedeutet haben, vermeiden wir eine apokalyptische Lesart der Gesellschaft des Spektakels – und zwar auch dann, wenn wir sie weiterhin kritisch sehen.


Mario Vargas Llosa über Frivolität:

«Das Frivole besteht darin, sich auf einen kopfstehenden oder aus dem Gleichgewicht geratenen Wertekatalog zu stützen, wo die Form wichtiger ist als der Inhalt, der Schein wichtiger als das Sein und wo die Chuzpe und die Attitüde – die Darstellung – an die Stelle von Gedanken und Gefühlen treten. In einem Roman aus dem Mittelalter, den ich bewundere, ‹Tirant lo Blanc›, schlägt die Gemahlin des Wilhelm von Warwick ihrem Sohn mit der Hand ins Gesicht, einem erst wenige Monate alten Kind, damit es weint, weil der Vater gen Jerusalem zieht. Wir Leser lachen, sind amüsiert über diesen Unsinn, als könnte jemand die Tränen, die die Ohrfeige dem armen Wurm entlockt, für ein Gefühl von Traurigkeit halten. Aber weder die Gräfin noch die Personen, die der Szene beiwohnen, lachen; für sie ist Weinen – die blosse Form – Traurigkeit. Und es gibt keine andere Art, traurig zu sein, als laut zu weinen – sie brachen ‹alle in Tränen aus, schluchzten, stöhnten und wehklagten›, heisst es im Roman –, denn was zählt in dieser Welt, ist die Form, ihr haben die Inhalte der Handlungen zu dienen. Das meine ich mit Frivolität: eine Art, die Welt zu verstehen, das Leben, wonach alles Schein ist, also Theater, also Spiel und Vergnügen.»


Mario Vargas Llosa: Alles richtig. Sie, lieber Gilles, verschweigen aber, dass der Zusammenbruch der Hochkultur auch dafür gesorgt hat, dass nun eine gewaltige Konfusion herrscht. Zusammen mit der Hochkultur sind bestimmte ästhetische Werte untergegangen, es gibt hier keinen Kanon und keine Rangordnung mehr, nicht mehr jene Hierarchien, die von der alten Kultur eta-bliert wurden und die man im grossen und ganzen auch respektierte. Heute ist es damit praktisch vorbei. Sie können natürlich sagen: «Das ist wunderbar so, denn es bedeutet, dass wir auf dem Gebiet der Kultur nun eine grenzenlose Freiheit geniessen!» Aber dann vergessen Sie, dass wir in den Weiten dieser Freiheit nicht selten auch Opfer der schlimmsten Betrügereien werden. Das ist aber in manchem Kulturbetrieb die konkrete wie alltägliche Wirklichkeit. Der vielleicht dramatischste Betrug begegnet uns in der bildenden Kunst. Die Freiheit, die sich die bildende Kunst erobert hat, besteht darin, dass alles Kunst sein kann und nichts Kunst ist. Dass jede Kunst schön sein kann oder hässlich, nur weiss das eben keiner mehr zu bestimmen. Uns ist der Kanon abhandengekommen, den es einmal gab und der es uns erlaubte, das Herausragende vom Mittelmässigen und vom Scheusslichen zu unterscheiden. Heute kann alles herausragend oder scheusslich sein. Je nach Gusto des Betrachters. In der Kunstszene geht die Verwirrung so weit, dass es für mich nur noch zum Lachen ist. Ob echtes Talent oder Schlitzohr, das ist nicht mehr auseinanderzuhalten, denn beide sind Opfer von Mechanismen – der Werbung zum Beispiel –, die am Ende über ihr Wohl und Wehe entscheiden. In anderen Bereichen, das stimmt, hat die Verwirrung noch nicht solche Ausmasse erreicht, aber eingesickert ist sie, auch dort gibt es eine beträchtliche Verunsicherung. Ich behaupte: wo Kultur zur reinen Unterhaltung wird, ist alles egal. Wenn es allein darum geht, sich zu amüsieren, kann irgendein Luftikus natürlich unterhaltsamer sein als eine zutiefst authentische Person, keine Frage. Wenn Kultur aber sehr viel mehr bedeutet, dann darf man sich Sorgen machen. Ich jedenfalls glaube, dass Kultur sehr viel mehr bedeutet, und nicht nur, weil es eine Freude ist, ein grossartiges literarisches Werk zu lesen, eine wunderbare Sinfonie zu hören, die Aufführung einer tollen Oper oder eines tollen Balletts zu besuchen, sondern weil diese Sensibilität, diese Phantasie, dieses Verlangen und diese Lust, wie sie die Hochkultur und damit die grosse Kunst im Menschen hervorrufen, ihm das Rüstzeug an die Hand geben, um besser zu leben: um die Probleme, die ihn unmittelbar berühren, bewusster anzugehen, um klarer zu sehen, was gut läuft und was schlecht in der Welt. Und weil diese derart ausgebildete Sensibilität es auch erlaubt, sich vor Widrigkeiten zu schützen und grössere Freude zu empfinden oder jedenfalls weniger zu leiden. Das zumindest ist meine persönliche Erfahrung. Die Tatsache, dass ich Góngora mit Genuss habe lesen können, dass ich Joyce’ «Ulysses» habe lesen und verstehen können, es hat mein Leben ungemein bereichert, davon bin ich überzeugt. Und nicht nur, weil es ein Vergnügen ist, eine solche kulturelle Erfahrung zu machen, sondern weil ich so die Politik besser verstehen konnte, die menschlichen Beziehungen, weil ich besser verstanden habe, was gerecht ist und was ungerecht, was gut läuft und was schlecht oder auch absolut miserabel. Es hat meinem Leben, aus dem die Religion verschwand, als ich noch sehr jung war, eine gewisse Spiritualität geschenkt, die ich ohne diese Lektüre nicht gehabt hätte. Das ist natürlich eine sehr individuelle Perspektive, aber wenn wir den Blick auf die ganze Gesellschaft richten und sehen, wie das, was diese Kultur bedeutet, verschwindet und ersetzt wird durch blosse Unterhaltung – wie ergeht es dann wohl den anderen? Kann blosses Entertainment einer Gesellschaft besagtes Rüstzeug an die Hand geben, um sich den real existierenden Problemen wirklich zu stellen? Ich habe nichts gegen den Kapitalismus, ich bin sein Advokat, denn ich glaube, dass er der Menschheit einen ausserordentlichen Fortschritt gebracht hat: einen höheren Lebensstandard, eine wissenschaftliche Entwicklung, der wir es verdanken, dass wir unendlich besser leben als unsere Vorfahren. Allerdings, und die marktliberalen Denker haben es schon immer gesagt: Der Kapitalismus ist ein kalter Mechanismus! Er schafft Reichtum, aber er begünstigt auch einen Egoismus, der sich in den Alltag frisst. Dem, so bin ich überzeugt, lässt sich nur durch ein reiches spirituelles Leben begegnen. Viele frühkapitalistische Theoretiker dachten, dieser Weg sei die Religion. Andere, die nicht religiös waren, dachten, es sei die Kultur. Klar ist aber: wenn wir dem Egoismus entgegenwirken wollen, der Vereinsamung und der allumfassenden Konkurrenz, die bis zur Entmenschlichung geht, dann brauchen wir ein fruchtbares kulturelles Leben, im höchsten Sinne des Wortes «Kultur», denn andernfalls gelangen wir in eine geistige Leere, in der all diese negativen Aspekte der Industriegesellschaft und die damit einhergehende Entmenschlichung nur umso manifester werden. Anders als Sie, Gilles, glaube ich nicht, dass die Kultur des Spektakels Frieden gebracht hat, Ruhe, ein Einverständnis mit dem Bestehenden, auch nicht, dass sie die Gewalt beseitigt oder zurückgedrängt hätte. Ganz im Gegenteil. Die Gewalt ist da, sie ist allgegenwärtig: Es gibt geschlechtsspezifische Gewalt, es gibt jede Form von Benachteiligung. Es gibt Gespenster, wie sie mit der Wirtschaftskrise ihr Haupt erheben und ihren Ausdruck finden in Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Diskriminierung. Allgegenwärtig ist die Gewalt gegen sexuelle Minderheiten, wie wir sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der ganzen Welt antreffen. Und woher kommt das? Wie lässt es sich erklären? Ich glaube, ein wesentlicher Umstand, weshalb sich diese Gewalt auf so krude Weise zeigt, völlig ungebremst und ohne Widerpart, ist eben der Niedergang der Hochkultur, einer Kultur, die das Empfinden stärkt und uns auf die eine oder andere Weise dazu bringt, uns der grossen Themen anzunehmen; einer Kultur, die nicht nur unterhält, sondern beunruhigt, aufrüttelt, uns zu unabhängigem Denken befähigt und den kritischen Geist wachhält, was eine Kultur, die blosser Zeitvertreib ist, aus sich heraus niemals schafft. Ich meine jene, die Sie in einem Ihrer Bücher «Weltkultur» nennen. Ich will gar nichts gegen das Spektakel sagen, so etwas kann grandios sein, und ich amüsiere mich wirklich gern. Aber wenn Kultur nur noch das ist, Spektakel, Show, dann setzt sich am Ende, befürchte ich, nicht die Gelassenheit durch, sondern der Konformismus. Eine bestimmte Form von Konformismus, von Resignation, von Passivität. Und in der modernen kapitalistischen Gesellschaft bedeutet die passive Haltung des einzelnen nicht die Bestärkung der demokratischen Kultur, sondern die Aushöhlung der demokratischen Institutionen. Eine solche Haltung steht einer aktiven Partizipation, jedem politischen und kritischen Engagement in der Zivilgesellschaft entgegen. Ein aktuelles Phänomen beunruhigt mich diesbezüglich besonders: der Rückzug der Intellektuellen und Künstler, wenn es ums bürgerliche Engagement geht! Er resultiert aus der tiefen Verachtung des Politikbetriebs, den man für schnöde, schmutzig und korrupt hält, dem man am besten die Schulter zeigt und mit dem man sich auf keinen Fall gemein machen darf. Wie kann eine demokratische Gesellschaft auf Dauer überleben, wenn ausgerechnet diejenigen, die das Denken, das Empfinden, die Kreativität und die Phantasie für sich beanspruchen, nicht mitspielen? So gesehen bedeutet der Zusammenbruch der Hochkultur nicht nur für eine Minderheit einen Verlust, für eine Elite, die einmal die Wonnen des Intellekts und des feinen Sinns genoss – er trifft vielmehr die ganze Gesellschaft, und die wird unter den verheerenden Folgen zu leiden haben.

Gilles Lipovetsky, photographiert von Smith / Madame-Figaro / laif


Gilles Lipovetsky:
Hier würde ich widersprechen. In den jüngeren Generationen gibt es viele Menschen, die sich engagieren, aber worauf sie sich stützen, ist nicht mehr die Politik, wie wir sie von früheren Generationen kennen, sie setzen vielmehr auf Grosszügigkeit, auf gegenseitige Hilfe. Die heutige Gesellschaft ist also keinesfalls gleichbedeutend mit plumpem Zynismus oder Nihilismus. Es gibt durchaus Gegentendenzen. Wir sehen das bei den NGOs, den Freiwilligen, Leuten, die sich engagieren und ihre Zeit hergeben und die etwas tun möchten, nicht nur für sich selbst, sondern für die anderen. Ich gebe zu, das ist kein Phänomen, das man verallgemeinern könnte, aber es erstaunt mich, dass die Gesellschaft des Spektakels eine solche solidarische Haltung doch weltweit begünstigt. Sie bringt nicht nur Egoismus hervor, ihr verdanken sich auch ausgleichende Phänomene. Vielleicht haben wir beide eine unterschiedliche Sicht auf die Hochkultur. Sie, Mario, sehen in der Hochkultur ein Gegengewicht, einen Rettungsanker angesichts der verunsichernden Deregulierung in Wirtschaft und Kultur. Für Sie ist die Hochkultur ein wesentliches, entscheidendes Medium, um «Nebenwirkungen» des Kapitalismus zu korrigieren. Ich bin da skeptischer. Wahrscheinlich habe ich weniger Vertrauen als Sie in die Hochkultur. Denn was Sie zur Gewalt gesagt haben, ist doch hochinteressant. Sie sagten, in der Gesellschaft des Spektakels zeigten sich alle möglichen Formen von Gewalt. Aber vergessen wir nicht, dass ein Oscar Wilde, und zwar in einem bedeutenden Moment der Hochkultur, für Jahre im Zuchthaus verschwand. Auch möchte ich daran erinnern, dass das kultivierteste Volk vor dem Krieg das deutsche war. Hochkultur vermochte es nicht, die Menschen im Lande Goethes und Kants vor der Barbarei des Nationalsozialismus zu bewahren. Ich bin Akademiker, ich verteidige die Hochkultur, und die Kenntnis ihrer grossen Werke ist sicher eine Orientierungshilfe in modernen Gesellschaften, aber nicht die einzige. Was wir bei all der Orientierungslosigkeit in der heutigen Welt tun müssen, ist doch, den Menschen ihre Würde wiederzugeben, den Glauben daran, dass man aktiv etwas tun kann, dass also jeder einzelne Akteur ist und sich seine Welt erschafft! Die Schule etwa darf es nicht dabei belassen, sich dem Fernsehen und anderem entgegenzustellen. Die Schule muss auch Werkzeuge an die Hand geben, damit der einzelne zum Schöpfer wird, nicht nur von Kunst oder Literatur, sondern von allem. Sicher stimmen wir in dem Befund überein, dass am Anfang der Gesellschaft des Spektakels, die wir heute bilden, die Auflösung der ästhetischen Hierarchien stand. Und dies begann in der Hochkultur selbst, namentlich bei den künstlerischen Avantgarden. Ebendort wurde Sturm gelaufen gegen die akademische Kunst, den Stil, das Schöne. Marcel Duchamp hat eine Tür aufgestossen, hat der Vorstellung den Weg bereitet, dass wir in einer Ausstellung alles Mögliche zeigen können und dass es sich allein deshalb «Kunst» nennen darf. Die Gesellschaft des Spektakels hat die ästhetischen Hierarchien dann nicht mehr sonderlich verändert. Was sie dafür geschaffen hat? Etwas in der Geschichte völlig Neues: Kunst war bis dato immer traditionelle Kunst, rituelle Kunst, magische Kunst, religiöse Kunst oder Klassenkunst, aristokratische Kunst. Im zwanzigsten Jahrhundert aber hat die moderne Gesellschaft etwas erfunden, was es bis dahin nicht gab und was wir «Kunst für die Massen» nennen können. Eine enorme kulturelle Errungenschaft wie das Kino zum Beispiel. Ein Spielfilm richtet sich an alle, unabhängig vom kulturellen Vorwissen; man muss nicht die Werke der Weltliteratur gelesen haben, um einen guten Film zu schätzen. Das Kino hat die Ästhetik nicht verändert, sondern etwas anderes geschaffen, eine Unterhaltungskunst, die neben den alten ästhetischen Hierarchien besteht. Diese Kunst mag uns unbedeutende Filmchen bescheren, aber auch wahre Wunderwerke; immer auch Durchschnittsware, vielleicht keine «grosse» Kunst, aber: Filme wecken Gefühle und bringen die Leute zum Nachdenken. Das Kino ist ein wunderbares Produkt des Kapitalismus, keine Produktion ohne Kapital. Der Kapitalismus hat die Massenkunst hervorgebracht, natürlich auch die Werbung, was wir beklagen mögen – nicht immer ist sie angenehm, besonders wenn sie einen Film oder eine Kultursendung unterbricht –, aber können wir uns Demokratie ohne Werbung wirklich vorstellen? Eine freie Presse ohne Werbung? Die gibt es nicht, und in Zeiten des Internets kann sie auch nicht mehr allein von ihren Lesern leben. Natürlich ist es zu verurteilen, dass alles, was sich regt, werbetechnisch bewirtschaftet wird, aber wir dürfen uns nicht bei diesem negativen Aspekt aufhalten.

Mario Vargas Llosa: Zugestanden. Diese Errungenschaften in Ehren, Fakt bleibt aber doch auch die zunehmende gesellschaftliche Skepsis gegenüber der Hochkultur. Es freut mich deshalb, dass Sie, Gilles, den Nationalsozialismus angesprochen haben, und hier will ich einhaken: Das Erste, was die Nationalsozialisten taten, als sie an die Macht kamen, war eine grosse Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz, gegenüber der heutigen Humboldt-Universität, wo praktisch eine ganze kulturelle Tradition auf einem riesigen Scheiterhaufen in Flammen aufging. Und der Nationalsozialismus war doch nicht die einzige totalitäre Bewegung, die zutiefst misstrauisch war gegenüber dem künstlerischen Schaffen, dem philosophischen Denken, all den Künstlern, die ihre Zeit und ihre Gesellschaft kritisch begleiteten und die man eben deshalb brutal unterdrückte. Die erste Handlung einer jeden autoritären Gesellschaft in der Geschichte ist es gewesen, ein Zensurwesen zu installieren – so tief sitzt das Misstrauen gegen die Kultur. Und das zu Recht. Man sah in der Kultur eine enorme Gefahr. Nehmen wir nur die Inquisition, eine Einrichtung, die geschaffen wurde, um zu verhindern, dass Gedanken und Anschauungen in Umlauf kamen; um das Denken, das Geistesleben, zumal das spirituelle, unter bestimmte Normen zu zwingen, Normen, die den Überzeugungen der Mächtigen entsprachen. Nicht anders war es im Kommunismus, im Faschismus, im Nationalsozialismus, in allen Diktaturen, die es auf der Welt gegeben hat. Was der beste Beweis dafür ist, wie wichtig es ist, eine reiche, hochkreative und freie Kultur zu haben. Tatsächlich kann eine solche Kultur auch nur in Freiheit gedeihen, und sie ist ihrerseits eines der Fundamente der Freiheit. Verschwindet sie, dann weil es im Innern der Gesellschaft keine Freiheit mehr gibt. In autoritären und brutalen Regimes wird dieser Prozess offenkundig – Hitler, Stalin, Fidel Castro, Mao Tse-tung –, aber Kultur kann auch auf andere Weise verschwinden: durch Frivolität und Snobismus. Sie kann immer weiter verkommen, sollten wir tatsächlich glauben, Joyce, Eliot oder Proust seien für manche Leute völlig sinnlos und unbrauchbar – weil sie nicht über das notwendige kulturelle Vorwissen verfügen, weil sie drängendere Sorgen haben, weil ihre Not nach anderem schreit… Ein solches Denken ist überaus gefährlich. Denn Proust und Co. sind wichtig für alle – auch für die, die nicht einmal lesen können! Das Schaffen grosser Schriftsteller kommt auch jenen zugute, die keine Zeile von ihnen kennen. Beispiel Proust: er zeigt uns eine Sensibilität gegenüber den Dingen, eine Empfindsamkeit, die einzelne Leser, die sich davon haben anstecken lassen, empfänglicher gemacht hat für diese Gefühle. Er hat ihnen ein Bewusstsein dafür gegeben, dass es Menschenrechte gibt. Diese Art von Sensibilität in ganzen Gesellschaften resultiert ganz wesentlich aus der Kultur. Und umgekehrt: wo hinter der Sensibilität keine Kultur steht, wird sie rasch stumpf. Was auch erklärt, dass die Nazi-Ideologie trotz aller geschichtlichen Erfahrung selbst im kultiviertesten und zivilisiertesten Europa immer wieder hervortritt. Und dass der Antisemitismus trotz Holocaust nicht nur nicht verschwunden ist, sondern in regelmässigen Abständen wieder auflebt. Und dass die Ausländerfeindlichkeit, mit der leider die ganze Welt geschlagen ist, um sich greift, nicht in primitiven, unkultivierten Gesellschaften, sondern in sehr kultivierten, dort aber ausgerechnet in jenen Schichten, in die weder Proust, Eliot noch Joyce je gelangen. Ich fasse also zusammen: Hochkultur und Freiheit sind nicht voneinander zu trennen. Denn Hochkultur ist immer kritisch gewesen, immer das Ergebnis von Nonkonformismus und ein Anstoss zu selbständigem Denken. Man kann nicht Kafka, Tolstoi oder Flaubert lesen, ohne sich bewusst zu werden, dass es um die Welt schlecht bestellt ist, dass die wirkliche Welt, verglichen mit diesen grossartigen, vollkommenen, schönen Dingen, wo einfach alles schön ist – selbst das Hässliche und das Schlechte sind dort grossartig und schön –, dass diese Welt, stellen wir sie der wunderbaren, von Schriftstellern und Künstlern geschaffenen Welt gegenüber, ziemlich mittelmässig ist. Und gleich regt sich in uns ein heftiges Gefühl von Missbilligung, von Widerstand, von Ablehnung der realen Wirklichkeit. Kultur ist die primäre Quelle des Fortschritts und der Freiheit. Denn was sonst brächte uns dazu, Ungerechtigkeiten zu erkennen, wenn nicht unsere Kultur? Sie hat uns mit der notwendigen Sensibilität ausgestattet, mit der notwendigen Rationalität, um uns dessen, was ringsum schlecht lief, bewusst zu werden. Sie hat uns begreiflich gemacht, dass die Sklaverei ungerecht war und man sie abschaffen musste, dass der Kolonialismus ungerecht war und man ihn abschaffen musste, dass jede Form von Rassismus und Diskriminierung ungerecht ist, Gewalt. Als Proust «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» schrieb, wusste er nicht, dass er für die Freiheit und die Gerechtigkeit wirkte, aber genau das tat er. Desgleichen Rembrandt, Michelangelo oder auch Wagner, als er seine Opern schrieb, sosehr er als Privatmensch Rassist war. Und dies tun alle grossen Künstler, grossen Denker, grossen Schöpfer. Ihre Tätigkeit ist nicht vergleichbar mit der von Technokraten oder Wissenschaftern – so ausserordentlich deren Beitrag für die Menschheit auch ist –, denn sie sind Spezialisten, und ihre Arbeit zielt in eine bestimmte Richtung. Was die grossen Humanisten tun, kennt dagegen keine eingeengte Richtung, es orientiert sich an der Gesellschaft als Ganzem; in gewisser Weise bestimmt es die gemeinsamen Nenner einer Gesellschaft. Die Kultur schützt uns vor Abschottung, Totalitarismus und Autoritarismus, aber auch vor religiösem Fanatismus, vor Dogmen jeder Art. Das gilt für Hoch- wie für Massenkultur. Weswegen Sie, Gilles, in Ihren Untersuchungen wohl zu Recht die These aufstellen, dass die Gesellschaft des Spektakels mehr zur Erosion der Ideologien beigetragen habe als die rationalen und demokratischen Argumente gegen den Utopismus. Viele dieser Ideologien wären demnach mit der Zeit zerfallen und verschwunden, weil es ein Bedürfnis nach Spass und Unterhaltung gibt, nach Moden, nach dem unmittelbaren und schnellen Vergnügen. Wenn das einer der Erfolge der Gesellschaft des Spektakels ist, Gratulation, das sollten wir feiern! Mit dem Zusammenbruch der grossen Ideologien versiegt nämlich eine der grössten Quellen von Krieg und Gewalt in der modernen Gesellschaft.

Gilles Lipovetsky: So ist es! Was der moderne Mensch geworden ist, verdankt er nicht nur der Technik, sondern vor allem der Philosophie und der Literatur. Demokratie, Menschenrechte und Humanismus entstehen nicht einfach so, aus der Entwicklung der Geschichte heraus. Es ist ein ganzes Amalgam von Überlegungen und Empfindungen, an denen uns die Philosophen und die Schriftsteller teilhaben lassen, und eben das hat den humanistischen, individualistischen und demokratischen Kosmos ausgebildet. Die moderne Welt entsteht aus dem Geist einiger Denker, die hierzu den Keim gelegt haben, die uns Normen an die Hand gegeben haben für eine Gesellschaft, die sich nicht mehr auf das Jenseits beruft, sondern die ihre Fundamente in sich selbst findet, indem sie die Freiheit, die Würde und die Gleichheit aller anerkennt. Es ist dies eine geistige Hervorbringung, die wir der Hochkultur verdanken, darin sind wir einer Meinung, genauso wie in dem Gebot, dass wir für das kreative Werk eintreten müssen als treibende Kraft der Freiheit. Heute tritt nicht mehr nur die Hochkultur für die Werte ein, die ich genauso schätze und mir wünsche wie Sie, Mario. In vielen Bereichen, ob Fernsehen, Kino oder in sonst irgendeiner Produktion für die Massen, werden die Menschenrechte und die Würde hochgehalten. Vielleicht nicht mit Werken, denen die Geschichte einmal die höheren Weihen verleiht, gleichwohl verbreiten sie das humanistische Gedankengut. Es ist schon erstaunlich, Mario, wenn man sieht, wie in Filmen von Steven Spielberg, die gewiss nicht zu Ihrem Hochkulturkanon gehören, die humanistischen Ideen in Umlauf gebracht und die Vorstellungen von Demokratie und jene Werte auf die Gesellschaft übertragen werden, die ihren Ursprung in der Hochkultur haben. Die Konsumgesellschaft oder die Gesellschaft des Spektakels, wie auch immer man sie nennt, hat Wohlstand geschaffen, das Meinungsspektrum erweitert, hat die grossen Ideologien aufgelöst, die Autonomie gestärkt, und doch ist sie sicher nicht perfekt. Wir müssen zugestehen, und da gebe ich Ihnen recht, dass die Welt des Konsums nicht in der Lage ist, dem Menschen in seinem höchsten Streben Erfüllung zu bieten. Der Mensch ist nicht nur Konsument, und die Konsumgesellschaft tritt ihm entgegen, als wäre er lediglich ein solcher. Was aber ist der Unterschied zwischen Mensch und Konsument? Da gibt es viele. Aus humanistischer Sicht, Erbe der Hochkultur, erwarten wir vom Menschen zumindest, dass er kreativ ist, Dinge erfindet, dass er Werte hat, und genau das bietet die Konsumgesellschaft von sich aus nicht. Wir müssen also selbst aktiv werden – und nicht nur fordern! Das haben viele begriffen, deshalb haben wir es mit so vielen sozialen Bewegungen zu tun, mit Menschen, die sich engagieren, die Vorschläge machen, die handeln. Die Leute haben ein Bedürfnis, sich zu engagieren. Das Internet und die neuen Kommunikationswerkzeuge haben diesbezüglich eine wunderbare Entwicklung in Gang gesetzt: Junge Amateure drehen Videos, Kurzfilme, machen Musik… Nicht alles davon ist genial, aber dieser Drang, etwas zu tun, sagt uns, dass das, was Nietzsche «Wille zur Macht» nennt, heute der Wille ist, etwas zu erschaffen. Diesen Willen hat die Konsumgesellschaft nicht zerstört, sie hat den Menschen nicht so weit verbiegen können, dass er nur noch die Hand ausstreckt und Markenprodukte will. Die Menschen wollen weiterhin etwas anfangen mit ihrem Leben. Dazu dürfen wir sie motivieren! Eine der grossen Herausforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts besteht darin, die Menschen, die je ganz eigene Köpfe haben, ganz eigene Wünsche, zum kreativen Handeln zu ermutigen. Die Hochkultur ist ein Instrument dazu, aber nicht das einzige. Ich behaupte: wir müssen uns überlegen, was Bildung in einer desorientierten Welt, die nicht mehr über die althergebrachten Referenzpunkte verfügt, bedeutet. Das ist eine Riesenaufgabe, aber sie könnte die Welt von morgen vorzeichnen.

Mario Vargas Llosa: Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Die moderne Industriegesellschaft, die Gesellschaft des Marktes, die Gesellschaft der entwickelten Länder hat die Lebensbedingungen für den einzelnen Menschen beachtlich verbessert. Aber nirgendwo hat sie dieses Glück gebracht, nach dem der Mensch als Letztes strebt. Was fehlt, ist ebenjenes reiche spirituelle Leben, wie es die Religion weiten Teilen der Gesellschaft bietet – und für diese Menschen wird das materielle Dasein erst durch den Glauben ein vollständiges –, aber es bleibt eine grosse Gruppe, die die Religion nicht erreicht, der sie nichts sagt, und genau dort müsste die Kultur eine wesentliche Rolle spielen. Bildung, das sehe ich genauso, sollte eines der wichtigsten Instrumente sein, um diese geistige Leere auszufüllen. Aber wenn etwas in der modernen Gesellschaft in der Krise ist, dann ausgerechnet die Bildung. Es gibt kein einziges Land auf der Welt, dessen Bildungssystem nicht eine tiefe Krise durchmachte, aus dem einfachen Grund, weil wir nicht wissen, welches System am besten geeignet ist, am besten funktio­niert, welches System einerseits die Fachleute hervorbringt, die die Gesellschaft braucht, und andererseits die Leere ausfüllt, die sich in der modernen Gesellschaft auftut. Die Bildung steckt in der Krise, weil man es nicht geschafft hat, eine Formel zu finden, die diese beiden Ziele miteinander verbindet. Bei diesem Thema herrscht eine unglaubliche Verwirrung, aber wenn es zumindest ein Bewusstsein dafür gäbe, dass wir genau dort so kreativ wie zielorientiert sein müssen, dann hätten wir, da bin ich sicher, einen Riesenschritt getan.

Mario Vargas Llosa ist Schriftsteller und Literaturnobelpreis­träger. Zuletzt von ihm erschienen: «Ein diskreter Held» (Suhrkamp, 2013) und «Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst» (Suhrkamp, 2013). Vargas Llosa lebt in Madrid und Lima.

Gilles Lipovetsky ist Philosoph und Soziologe. Zuletzt von ihm erschienen: «L’esthétisation du monde: Vivre à l’âge du capitalisme artiste» (Gallimard, 2013). Lipovetsky lebt in Grenoble.

Thomas Brovot ist Übersetzer und lebt in Berlin.


1 Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (Suhrkamp, 2013).
2 dt. Narziss oder Die Leere. Sechs Kapitel über die unaufhörliche Gegenwart (EVA, 1995).
3 L’empire de l’éphémère (Folio, 1991).
4 Anmerkung des Übersetzers: Mit «Gesellschaft des Spektakels» bezieht sich
Mario Vargas Llosa auf Guy Debord, «La Société du spectacle», und nannte sein Buch auch, sich von Debord abgrenzend, «La civilización del espectáculo» – auf Deutsch übersetzt mit «Kultur des Spektakels», weil civilización und Zivilisation nicht dasselbe sind.
5 L’esthétisation du monde: Vivre à l’âge du capitalisme artiste (Gallimard, 2013).


This article was first published in Spanish in «Letras libres». Provided by Eurozine (www.eurozine.com). © Gilles Lipovetsky, Mario Vargas-Llosa, Eurozine.

Anmerkung der Redaktion: Das vorliegende Gespräch erscheint hier erstmals auf Deutsch und wurde redaktionell leicht bearbeitet und gekürzt.

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