Freiheit darf nicht in Willkür kippen
In der Schweiz geniessen die Stiftungen grosse Freiheit. Eine zu grosse, meint Myriam Gebert. Aus Unwissenheit oder Willkür werden daher Milliarden von Franken leichtfertig eingesetzt. Ein Gespräch darüber, wie das Stiftungswesen verbessert werden könnte.
Frau Gebert, genaue Zahlen liegen nicht vor. Doch es wird geschätzt, dass in der Schweiz rund 12’000 gemeinnützige Stiftungen existieren, die zusammen ein Vermögen von 50 Milliarden Franken verwalten. Damit kann einiges bewegt werden. Sie haben als Juristin die Gründungen einer Reihe von Stiftungen begleitet. Stimmen Sie ein in die Rede vom «Stiftungsparadies Schweiz»?
Stiftungen sind ein wunderbares Instrument für das gemeinnützige Engagement. Doch müssen die Rahmenbedingungen stimmen. In der Schweizer Stiftungslandschaft sind Milliarden von Franken verlorengegangen, weil Stiftungsgelder nicht konsequent und mit der genügenden Sorgfalt für den ursprünglich gedachten Zweck eingesetzt wurden und werden. Um zu erkennen, woran das liegt und wo sich die Abgründe des Paradieses finden, braucht es allerdings grosse Erfahrung.
Wohl auch Courage und Unabhängigkeit. Schliess-lich profitieren viele von den gemeinnützigen Stiftungen. Wer mag die, von denen er etwas erhält, schon kritisieren?
Daher darf es gar nicht erst soweit kommen. Die immer noch bestehenden Lücken im Gesetz müssen geschlossen werden, um Missbräuchen vorzubeugen. So gibt es etwa viel zu viele sogenannte stille Stiftungen. Das sind meist Stiftungen, die wegen eines zu kleinen Vermögens nicht mehr aktiv sind. Dabei muss eine Stiftung leben. Sonst ist sie sinnlos.
Die Grösse des Vermögens entscheidet hier über Sein oder Nichtsein?
No, no! Auch Stiftungen mit wenig Kapital können sehr gut arbeiten. Ich masse mir nicht an zu sagen, wie hoch das Stiftungskapital sein muss, damit es Sinn macht. Entscheidend ist, dass das Verhältnis zwischen dem Zweck einer Stiftung und der finanziellen Dotierung stimmt.
Das hängt auch vom Willen des Stifters ab.
Richtig. Massgebend ist immer der Wille des Stifters. Dieser gibt bei der Gründung einer Stiftung manchmal sein gesamtes Vermögen aus der Hand. Danach ist finito, danach hat er nicht mehr viel zu sagen. Kritisch wird es vor allem dann, wenn er gestorben ist. Auch nach seinem Tod muss sein Wille vollzogen werden. Und das ist leider nicht immer der Fall.
Wer hält die Fäden in der Hand?
Es ist allein der Stiftungsrat, der darüber entscheidet, welche Projekte finanziert und ausgeführt werden. Die Stiftungsräte der ersten Generation kennen den Stifter meist noch persönlich. Das beginnt sich mit der zweiten Generation zu ändern. Daher wird hier schon weniger im Sinne des Stifters entschieden und gearbeitet. Mit jeder neuen Stiftungsratsgeneration rückt die Gefahr näher, dass mit den Erträgen des Stiftungsvermögens mehr und mehr nur noch Sitzungsgelder, Honorare und Spesen der Stiftungsräte bezahlt werden. Das Geld wird immer weniger für den Zweck eingesetzt, für den es ursprünglich gedacht war. Die Stiftungen werden stumm. Ein Verrat am Stifter.
Das Schweizer Stiftungsrecht lässt den Stiftungen grosse Freiheiten.
Eine Freiheit, die in Willkür kippen kann. Die Grenze ist schmal. Viel zu oft geht der Respekt vor dem Willen des Stifters verloren, der immer im Zentrum stehen sollte.
Die Empfehlungen von SwissFoundations, dem Verein der Schweizer Förderstiftungen, versuchen hier Abhilfe zu schaffen. Seit einigen Jahren gibt es den «Swiss Foundation Code», mit dem die Branche versucht, sich selbst zu regulieren. Die Umsetzung des Stifterwillens ist ein wichtiges Thema.
SwissFoundations hat mit der Publikation des Swiss-Foundation-Codes grossen Mut gezeigt, und ich bin dankbar, dass hier eine Basis für die weitere Arbeit an der Schliessung der Lücken im Stiftungswesen gelegt wurde. Allerdings genügt es nicht, Empfehlungen auszusprechen, deren Befolgen dem Ermessen der einzelnen Stiftungen anheimgestellt bleibt. Die Empfehlungen müssten meiner Meinung nach verbindlich sein.
Sie fordern eine Veränderung des Stiftungsrechts?
Das Stiftungsrecht ist veraltet. Es stammt aus dem Jahr 1911 und besteht aus ganzen 10 Artikeln. Stellen Sie sich das mal vor! Zum Vergleich: das Aktienrecht etwa hat zweihundert.
2008 trat die Revision des Stiftungsrechts in Kraft.
Es wurden nur drei Neuheiten eingeführt.
Erstens die Pflicht zur Bezeichnung einer Revisionsstelle, zweitens die Einführung eines Vorbehalts der Zweckänderung und drittens die Erhöhung der steuerlichen Abzugsfähigkeit. Das genügt bei weitem nicht.
Eine liberale Gesetzgebung muss nicht zwangsläufig zu Missbrauch führen. Und sie hat den Vorteil, Raum für Kreativität und Innovation zu lassen.
Bene. Aber man kann nicht mit zehn nackten Artikeln im Zivilgesetzbuch die Schenkungen von Milliarden von Franken regeln. Das Departement des Innern hat zwar zusätzlich einen rechtlichen Leitfaden für Stiftungen herausgegeben. Dieser erläutert die Aufgaben der Aufsichtsbehörden, wozu eine fakultative Vorprüfung neuer Stiftungsprojekte gehört. Aber auch das genügt nicht. Die Vorprüfung durch die Aufsichtsbehörde müsste zwingend sein.
Warum das?
Die richtige Gründung macht die Hälfte des Erfolgs einer Stiftung aus. Entscheidend für einen zukünftigen Stifter sind Fragen wie: Was will ich mit meinem Vermögen erreichen? Für welchen Zweck soll das Geld eingesetzt werden? Und: Wie soll die Stiftungstätigkeit angepasst werden, wenn sich die gesellschaftliche Situation so ändert, dass der ursprüngliche Stiftungszweck obsolet geworden ist? Wer eine Stiftung gründen will, braucht gute Berater. Man muss bei der Gründung enorm aufpassen.
Gibt es in der Schweizer Juristenszene nicht genügend Stiftungsexperten, die mit Rat und Tat zur Seite stehen könnten?
Nach meiner Erfahrung erfolgen Gründungen von Stiftungen oft mit zu grosser Leichtfertigkeit. Es gibt nur wenige Juristen, die genügend Erfahrungen mit Stiftungen haben. Bei einer Neugründung nehmen Juristen häufig das Beispiel einer schon existierenden Stiftung als Vorbild und kopieren weitgehend deren Stiftungsurkunde. Sie denken nicht daran, wie viele Besonderheiten jede Gründung mit sich bringt und welche Schwierigkeiten im Einzelfall auftreten können. Stiftungen werden daher zu oft ohne Aussicht auf Erfolg gegründet.
Wo liegt der entscheidende Fehler bei der Gründung?
Zwischen Vermögen und Stiftungszweck besteht häufig kein vernünftiges Verhältnis. In der Praxis lässt sich bereits mit 50’000 Franken eine Stiftung gründen. Ob das jedoch sinnvoll ist, hängt vom Stiftungszweck ab. Ist eine Stiftung erst einmal gegründet, gibt es kaum Möglichkeiten, bestehende Missstände zu beheben. Wie schon angesprochen, sind hier den Aufsichtsbehörden die Hände gebunden: sie bekommen die Stiftungsdokumente häufig erst dann zu Gesicht, wenn die Gründung bereits beurkundet und die Stiftung im Handelsregister eingetragen ist. Also dann, wenn kaum mehr etwas zu ändern ist.
Gehen wir doch mal vom Fall aus, der Stifter habe die erste Hürde genommen und eine Stiftung gegründet, in der der Zweck im Verhältnis zum Vermögen sinnvoll austariert ist. Soll er ihre Lebenszeit beschränken?
Die Dauer von Stiftungen ist ein sehr heikles Thema. Ewige Stiftungen müssen – das ist meine Meinung – nur in ganz seltenen Fällen vorgesehen werden. Zum Beispiel für Museen oder Altersheime. Solche Stiftungen brauchen genügend eiserne Reserven. In den meisten Fällen braucht es jedoch mehr Flexibilität, mehr Exitmöglichkeiten. Es müsste etwa möglich sein, die Statuten zu ändern, einen Teil der Stiftungsgüter zu ver-äussern oder mit anderen Stiftungen zu fusionieren. Ich denke, es ist besser, Stiftungen mit einer kurzen oder mittleren Lebenszeit zu gründen, also mit einer Lebenszeit von Jahren oder Jahrzehnten statt von Jahrhunderten. Entscheidend ist aber auch hier, die Erfüllung des Zwecks im Auge zu behalten.
Diese Aussage zieht sich als roter Faden durch unser Gespräch. Wenn nun der Stifter auch die zweite Hürde genommen und die Dauer der Stiftung angemessen bestimmt hat, was erwartet ihn dann?
Dann taucht als nächstes die grosse Schwierigkeit der fehlenden checks and balances auf. Man kann auch von fehlender governance sprechen. Manch ein Stiftungsrat erfüllt seine Aufgaben unmotiviert und ohne Leidenschaft; seine Mitglieder haben die Funktion wegen der damit verbundenen Reputation oder auch aus finanziellen Motiven übernommen. Um Zeitaufwand zu vermeiden, wird dann das jährlich zur Verfügung stehende Geld so schnell wie möglich verteilt. Es wird aus dem Bauch heraus entschieden. Ich habe erlebt, dass Stiftungsräte gar nicht oder nur unvorbereitet an Sitzungen kamen. Kontrolle der Bonität der Antragsteller und die korrekte Durchführung von Projekten rücken in solchen Fällen in den Hintergrund.
Sie meinen, Stiftungsräte können schalten und walten, wie sie wollen?
Die Stiftungsräte kontrollieren das gesamte Vermögen einer Stiftung. Wer aber kontrolliert die Stiftungsräte? Nach der heutigen Praxis haben die Aufsichtsbehörden oft kaum die Möglichkeit, mehr als die formale Kontrolle – also etwa des Jahresberichts – durchzuführen. Dabei wäre die materielle Kontrolle entscheidend, also die Kontrolle der geleisteten Arbeit nach Massgabe des Stiftungszwecks. Hinzu kommt: Stiftungsräte können ihre Honorare und Spesenvergütungen meist selbst festlegen. Und einmal gewählt, kann manch ein Stiftungsrat seinen Sitz bis zum Lebensende behalten. So kann es passieren, dass Profiteure und inkompetente Personen jahrelang in einem Stiftungsrat sitzen, ohne nur einen Deut von Verantwortung wahrzunehmen. Wir müssen daher dafür sorgen, dass alle Stiftungsräte sich engagieren und wirklich arbeiten. Noch eine Bemerkung zu den Honoraren. Richtig ist, wie es auch im «Swiss Foundation Code» steht, dass Spezialisten, etwa für die Begutachtung von Anträgen, nach Marktpreis bezahlt werden. Doch die Stiftungsräte, so meine Auffassung, sollten zu einem bescheidenen Tagessatz arbeiten, oder noch besser ehrenamtlich. Das wäre auch im Sinne der Gemeinnützigkeit.
Und dazu wollen Sie das Geschütz strengerer Gesetze auffahren?
Es geht um die Frage: Wie kann man den Liberalismus schützen und gleichzeitig den Willen des Stifters gewährleisten? Die Stiftungsräte müssen eine grössere Verantwortung tragen. Via Statuten könnte es für gewählte Stiftungsratsmitglieder etwa obligatorischgemacht werden, eine ausführliche Erklärung zu unterzeichnen. Darin würden sie sich verpflichten, den rechtlichen Rahmen zu kennen, genügend Zeit zur Verfügung zu stellen, sich weiterzubilden und direkte und indirekte Interessenkonflikte zu vermeiden.
Was, wenn diese Pflichten verletzt werden?
In solchen Fällen sollte eine qualifizierte Mehrheit des Stiftungsrates das fehlbare Mitglied abberufen können. Als ultima ratio würde ich empfehlen, dass wie bei Aktiengesellschaften eine Sonderprüfung der Tätigkeit der Stiftungsräte möglich wird. Diese könnte von einzelnen Stiftungsräten beantragt werden. Oder sie wird von der Aufsichtsbehörde veranlasst, wenn ihr bei der jährlichen Kontrolle Unregelmässigkeiten auffallen.
Zusammengefasst: Was muss sich ändern?
Die Freiheit im Stiftungswesen muss begrenzt werden, damit der Willkür ein Riegel geschoben wird. Eine obligatorische Prüfung der Unterlagen einer neuen Stiftung – vor dem Handelsregistereintrag – verletzt die Prinzipien des Liberalismus nicht. Wir müssen minimale Schutzregelungen einführen. Es geht darum, das Konzept des Liberalismus im Schweizer Stiftungsrecht weiterzuentwickeln. Verstehen Sie mich nicht falsch: es braucht nicht eine Flut von neuen Gesetzen. Es genügen zwei bis drei Artikel, die die Aufsichtsbehörden in die Lage versetzen, den Artikel 84.2 des Zivilgesetzbuchs effektiv umzusetzen. Dieser Artikel lautet: «Die Aufsichtsbehörde hat dafür zu sorgen, dass das Stiftungsvermögen seinen
Zwecken gemäss verwendet wird.»
Sie nehmen kein Blatt vor den Mund. Aus welchen Erfahrungen stammt Ihre Kritik an dem für Dritte nicht ohne weiteres transparenten Stiftungswesen?
Ich bin in die Stiftungswelt hineingeboren worden. Die Familie meiner Mutter hat in den 1920er und 1930er Jahren im Tessin die ersten Stiftungen, für Krebsbehandlung wie auch ein Altersheim, gegründet. Das war für die ganze Familie ein grosses Opfer. Da mein Vater Mitglied vieler Stiftungsräte war, habe ich in jungem Alter viel von Stiftungen und deren Problemen gehört. Als Juristin habe ich dann während meiner gesamten Karriere weiter mit dem Stiftungswesen zu tun gehabt. Nach meiner Heirat mit Heinrich Gebert haben wir uns jeden Tag für die Stiftungen eingesetzt, die er gegründet hat. Mein Mann hat, nach dem Verkauf der Geberit AG, fast sein gesamtes Vermögen in gemeinnützige Stiftungen gesteckt. Vor drei Jahren ist er gestorben. Um die von ihm gegründeten Stiftungen kümmere ich mich weiterhin intensiv – direkt und indirekt.