Freiheit auf Chinesisch
Noch nie in ihrer rund 4000jährigen Geschichte waren die Chinesen so frei wie heute. Doch: ein Vergleich mit den Freiheiten der Bürger in den offenen Gesellschaften des Westens ist wenig zielführend. Eine Spurensuche in Schanghai.
Die Kommunistische Partei hat China fest im Griff. Ihre jüngsten Erlasse und aufgezogenen Grossprojekte, die auf weniger Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger, dafür auf mehr Überwachung, mehr Zentralstaat und strengere Zensur setzen, sorgen im Westen für Sorgenfalten und Kopfschütteln. Die China-Apokalyptiker, die im Westen seit drei Jahrzehnten vor dem Zusammenbruch des Riesenreichs warnen, sehen sich abermals bestätigt. Das alles tritt nun in Kombination auf mit einem global aufgezogenen Powerplay und einem seit Mao Zedong nicht mehr gesehenen, perfekt inszenierten Personenkult um Präsident Xi Jinping. Peking lässt also die Muskeln spielen, zu Hause wie im Rest der Welt. Doch wie frei sind die Chinesen denn nun eigentlich? Was bedeutet Freiheit überhaupt für sie?
Das gängige China-Bild im Westen will es, dass Chinesen oft pauschal als unterdrückte und unfreie Menschen wahrgenommen werden, die es zwar zu beachtlichem Wohlstand gebracht haben, aufgrund der systemischen Nachteile aber dennoch ein mehr oder weniger unwürdiges Dasein fristen. Dieses Bild – auch wenn es partiell zutreffen mag – greift zu kurz und deckt sich nicht mit den Erfahrungen, die ich in meinen zwölf Jahren in Schanghai bisher gemacht habe. Vielmehr kommen Chinesen in den städtischen Zentren entlang der Ostküste heute in den Genuss weitgehender Freiheiten und führen ein ziemlich selbstbestimmtes Leben. Sie sind in ihrer Lebensgestaltung – von der Ausbildung, Lebensplanung, Freizeitgestaltung bis zur Wahl von Wohnort und Arbeit – völlig frei. In einigen Bereichen sind die Chinesen vielleicht sogar freier als Westler, so sind zum Beispiel chinesische Millionenmetropolen zu jeder Tages- und Nachtzeit ausserordentlich sicher. Sie gewährleisten ein Ausmass an Sicherheitsempfinden und Bewegungsfreiheit der Bürger, von dem man sich selbst in Schweizer Kleinstädten längst verabschiedet hat. Auch die unternehmerische Freiheit ist mitunter ausgeprägter als im durchgenormten Europa. «Anything goes» also im wilden Osten? Ja, wenn auch mit abnehmender Tendenz.
Wer sich an die Regeln hält, obschon diese sicher nicht perfekt sind, ist ein relativ freier Mensch und wird von der Partei in Ruhe gelassen. Es ist eine Art unausgesprochener Gesellschaftsdeal, den die Politelite dem Volk offeriert hat: dem chinesischen Bürger werden weitgehende persönliche und wirtschaftliche Freiheiten eingeräumt, und im Gegenzug hält er sich aus der Politik raus. Für die meisten Chinesen, sicher nicht für alle, sind die Repressionen Pekings im Alltag schlicht nicht spürbar. Oder leicht zu umgehen. Oder leicht zu akzeptieren. Die Tatsache, dass Chinesen nach Jahrhunderten der Nichtpartizipation politisch eher desinteressiert und in erster Linie mit sich selber beschäftigt sind, mag das begünstigen.
Freiheit ist nicht gleich Freiheit
Der Vergleich der Freiheitsgrade von Chinesen und Bürgern westlicher, offener Gesellschaften ist zwar einerseits interessant, andererseits aber wenig aufschlussreich, wenn es um etwaige künftige Entwicklungen geht. Anders verhält es sich, wenn man das China von heute mit demjenigen von gestern vergleicht. Denn: so frei wie heute waren die Chinesen in ihrer rund 4000jährigen Geschichte noch nie. Dana Wang sieht sich also nicht ganz zu Unrecht als «Freigeist», der sich mit dem modernen China ziemlich gut arrangiert hat. «Wenn ich kreativ sein kann, dann fühle ich mich frei», sagt die selbständige Architektin aus Schanghai. Dieses Gefühl komme von innen, habe weniger mit der Umwelt zu tun. Die Stadtplanerin hat sich in ihrem Leben nie darum gekümmert, was andere von ihr denken, und ist stets ihren eigenen Weg gegangen. Eine solche, betont individualistische Haltung ist in China aussergewöhnlich. Sie selbst sagt: «In der chinesischen Kultur geht es darum, sich einzufügen und nicht herauszustechen.» Wang betont zwar, dass Chinesen noch nie so frei waren wie heute, merkt aber an, dass der Befreiungsprozess für ihren Geschmack auch ein wenig schneller vorwärtsgehen könnte. «Die gesellschaftliche Liberalisierung hat mit dem Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung nicht Schritt gehalten», analysiert sie. Auf der einen Seite sei die neue, grosse Offenheit mit den schier unbegrenzten Möglichkeiten, neue Ideen auszuprobieren. Auf der anderen Seite gebe es natürlich «Challenges», wie sie es nennt. Selbst sei sie kein politischer Mensch, das interessiere sie nicht. Sie versuche lediglich, die Welt mit den ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten etwas besser und schöner zu machen. Wang hilft es, regelmässige Auszeiten zu geniessen und die Welt zu bereisen. Ihren chinesischen Pass würde sie «zurzeit» nicht gegen einen westlichen eintauschen wollen.
Generell werden Freiheiten da eingeschränkt, wo die Zentralregierung der Ansicht ist, dass das einem übergeordneten Ziel dienlich sei. Dieses übergeordnete Ziel politischen Handelns ist die Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Stabilität im Land. Dazu gehört auch der uneingeschränkte Machtanspruch der Kommunistischen Partei. Stabilität, die teilweise durch Einschränkungen von Freiheiten erreicht wird, garantiert paradoxerweise auch eine Vielzahl andere, nicht unbedingt minderwertige Formen der Freiheit. So profitiert zum Beispiel auch der Westen, namentlich die Wirtschaft, von politisch stabilen und einigermassen berechenbaren Verhältnissen im Einparteienstaat. Was Politiker im Westen natürlich nicht davon abhält, China regelmässig mit erhobenem moralischem Zeigefinger zu massregeln – viel mehr bleibt ihnen ja auch nicht übrig, denn: dass wirtschaftliche Erfolge, wie sie China vorzuweisen hat, in einem totalitären System überhaupt möglich sind, verstehen schon die meisten nicht. Hiess es nicht bis anhin stets, dass wirtschaftliches Wohlergehen ausschliesslich in demokratischen, offenen Gesellschaftsordnungen möglich sei? China beweist seit Jahrzehnten das Gegenteil, aber der Rest der Welt tut sich schon mit dem Gedanken daran weiterhin schwer.
Der Traum von Stärke, nicht von Demokratie
Immer wieder stelle ich in China fest, dass «Freiheit» in einem westlichen Sinn – also mit politischer Mitbestimmung und kollektiver Pflege einer hohen Meinungsvielfalt – längst nicht für alle Chinesen erstrebenswert ist. Im Gegenteil: sehr viele politisch interessierte Chinesen unterstützen Xi Jinpings Kurs «im allgemeinen» – was sie natürlich nicht davon abhält, punktuell Kritik zu üben. Nach Jahrhunderten der Isolation und Fremdbestimmung träumen sie von einem wiedererstarkten, international respektierten, nicht wenige auch von einem geopolitisch und militärisch gefürchteten China. Sie träumen von Stärke, nicht von Demokratie. Die Vorstellung, sich in einer Basisdemokratie nach westlichem Vorbild mit 600 Millionen Bauern und Ungebildeten herumschlagen zu müssen, ist für viele ein Graus: sie befürchten, damit ihren neuen Wohlstand zu gefährden. Das hat auch damit zu tun, dass eine Kultur der politischen Mitbestimmung fehlt. Historisch war eine solche nie vorhanden. In ihrer Kolonialzeit haben die Westmächte USA, Grossbritannien und Frankreich punkto Freiheit nicht nur brilliert – von Japan ganz zu schweigen. Auch wenn sich dieselben Nationen bis heute gerne als Musterländer für freie Gesellschaften sehen, beeindrucken westliche Demokratien in China nicht zwingend. Die eigenen Fortschritte vor Augen, schauen viele Chinesen fast schon mit Mitleid nach Europa, wo es aus ihrer Sicht kaum gelingt, die Probleme der Menschen zu lösen.
Ein neueres Phänomen in Schanghai ist der Zuzug von vielen jungen Menschen aus Südeuropa, aber auch aus Frankreich. Man muss von eigentlichen Wirtschaftsflüchtlingen sprechen. Es sind gut ausgebildete, jedoch perspektivenlose Menschen, die ins Land kommen. Sie suchen ihr Glück in China, weil sie es in Europa nicht mehr finden. Sie kommen als Studenten, studieren ein paar Semester an einer Uni, um sich danach von einem Praktikum zum nächsten durchzuhängen. In diesen «Internships», wie die Praktika heissen, werden oft anspruchsvolle Tätigkeiten verrichtet, welche jedoch aufgrund der Nachfragesituation schlecht oder gar nicht entlohnt werden. Dennoch sind sie beliebt, der Intern ist stets in der Hoffnung, irgendwann einmal von einer Firma festangestellt zu werden. Für die wenigsten geht die Rechnung auf.
Beschränkte Reisefreiheit
Wang Yan ist eine Kulturunternehmerin aus Schanghai. Um glücklich zu sein, bedarf es im Leben der gelernten Programmiererin zweierlei: einerseits des Rechts, seinem Leben eine bestimmte Richtung zu geben, anderseits aber auch der Energie und der Fähigkeit, anderen Leuten zu helfen. Mit dem zweiten Teil ihrer Aussage bekundet sie zurzeit mehr Mühe: sie sei «zu 60 Prozent» ein freier Mensch. Zu 40 Prozent aber fühle sie sich unfrei. Doch nicht etwa wegen Zensur oder sonstiger Einschränkungen. Nein, vielmehr weil sie zu sehr von ihrer Firma absorbiert werde. Es gebe in ihrem Leben einiges, was sie tun müsse, obwohl sie es nicht wirklich tun wolle.
Wer wie Wang Yan reisen kann, ist privilegiert. Zwar können immer mehr Chinesen das Land verlassen, aber längst nicht alle. Bürgerinnen und Bürger aus armen Provinzen oder mit bescheidenen finanziellen Möglichkeiten werden von ausländischen Botschaften als Risikofaktoren und potentielle illegale Migranten betrachtet. Ihre Visaanträge bleiben meist chancenlos. Es ist nicht die Kommunistische Partei, sondern der freiheitsliebende Westen, der die Reisefreiheit dieser Chinesen einschränkt. Wang Yan ist davon nicht betroffen, den mitunter erniedrigenden bürokratischen Visaanforderungen kann sich aber auch sie nicht entziehen. Deshalb hätte sie gerne einen höherwertigen Pass als den chinesischen. Als wir uns verabschieden, ruft sie mir mit einem Lachen noch zu: «Ich mag die Schweizer Art von Freiheit! Sie beruht auf Vertrauen, das die Regierung ihren Bürgern entgegenbringt.»
Wang Yan ist kein Einzelfall: viele, vor allem wohlhabende Chinesen streben einen ausländischen Pass an – und erhalten ihn auch, zum Beispiel durch Einkauf, Heirat oder nach einer Ausbildung im Ausland. Heute scheint es zwar unwahrscheinlich, dass Reiche – wie während der Kulturrevolution – enteignet und stigmatisiert werden. Doch was, wenn der Wind für kommende Generationen wieder dreht? Das Misstrauen gegenüber der Regierung besteht nach wie vor. Absicherung für sich und seine Familie steht hoch im Kurs.
Restriktionen im Internet
Über China zu sprechen ist für Susan Liu, Ausbildungsleiterin und Lehrerin an einer privaten Nachhilfeschule in Suzhou, immer kompliziert. Das Land sei so gross und divers, dass es eher einem Kontinent gleiche. Dass Regeln notwendig sind, sei klar. Ebenso, dass diese Regeln nie allen Personen gleichermassen sinnvoll erscheinen. «Oberflächlich betrachtet sind die Chinesen heute relativ frei. Persönlich fühle ich mich sogar absolut frei, da meine Gedanken nicht begrenzt sind und ich die Fähigkeit habe, zu denken», sagt die 28jährige. Ihre Eltern sind Parteimitglieder, ehemalige Mitarbeiter eines Staatskonzerns. Ihre Mutter wurde zweimal zu einer Abtreibung und schliesslich zur Implantation einer Verhütungsvorrichtung gezwungen. Von Komplikationen, seelischen und körperlichen Schmerzen und vom Abhandenkommen des Rechts am eigenen Körper kann sie ein Lied singen. Heute klingt das anders, für Betroffene beinahe höhnisch: Wer sein Land liebt, so die KP, hat nun nicht nur eins, sondern zwei Kinder.
«Es ist eine Art unausgesprochener Gesellschaftsdeal, den die Politelite dem Volk offeriert hat: dem chinesischen Bürger werden persönliche und wirtschaftliche Freiheiten eingeräumt, und im Gegenzug hält er sich aus der Politik raus.»
Die Frage, ob sie China liebe, beantwortet Susan folgendermassen: «Ich liebe China für seine Kultur, die alten Denker, das Kunsthandwerk und vieles mehr. Aber nicht zwingend für das, was man mir von offizieller Seite her glaubhaft machen will. Man kann nur jemanden lieben, den man gut kennt. Das bedingt Offenheit und Ehrlichkeit.» Wie die meisten jungen Chinesen verbringt auch Susan viel Zeit in sozialen Medien. Sie stört sich an den zunehmenden Restriktionen im Internet. Retweets werden entfernt, Accounts ohne Vorwarnung geschlossen. Auch offizielle Verhaltensrichtlinien machen die Runde, wonach Initianten von Gruppenchats für den Inhalt der gesamten Gruppe verantwortlich gemacht werden können. Sie fühle sich hier bevormundet, unfrei, macht- und hilflos. Vor allem auch, weil keine klaren Richtlinien bestehen, was überhaupt erlaubt ist und was nicht. In einem solchen Umfeld gedeihen Verschwörungstheorien und es brodelt die Gerüchteküche.
«Die Zensur hat unter Xi Jinping klar zugenommen», sagt auch Jenny Shen, HR-Managerin in einer deutschen Firma. Jeder, der auf der chinesischen Micro-Blogging-Plattform Weibo mehr als 100 000 Follower habe, müsse damit rechnen, observiert zu werden. Dass die Regierung mittlerweile auch WhatsApp und Skype gesperrt habe, enttäusche sie sehr. Persönlich strebe sie nach möglichst viel Freiheit in ihrem Leben. Aus der Politik halte sie sich aber raus, denn sie wolle keine Probleme. «Manchmal bin ich traurig, dass ich nicht mutiger bin», sagt Shen über sich selbst. Aber sie wisse, dass die Chinesen nicht vereint seien, wenn es darum gehe, sich gegen den Staat in einer Sache aufzulehnen. Als ich sie frage, welche Art der Freiheit sie vermisse, sagt sie ohne zu zögern: «Eine freie, der Wahrheit verpflichtete Presse. Ich will eine Presse, die Missstände aufdeckt und nicht zudeckt. Ich bin es leid, manipuliert und angelogen zu werden», sagt Shen.
Auch der zunehmende Einfluss der Kommunistischen Partei auf das Schulwesen macht vielen Sorgen. Sechstklässler müssen Aufsätze schreiben, was sie an einem freien Tag mit dem lieben «Onkel Xi» unternehmen würden. Ende August, einen Tag vor dem offiziellen Schulbeginn in China, wurden alle staatlichen Primarschulen Chinas angewiesen, sicherzustellen, dass ihre Schüler sich eine Fernsehsendung auf dem Staatssender CCTV1 anschauten. Darin wurde das Unterstützen der Regierung propagiert, zusammen mit der Aufforderung, stets kreativ und innovativ zu sein. Als Beweis musste der Lehrperson ein Foto vor dem Fernseher gezeigt werden. «Eltern, die sich dem widersetzen, tun ihren Kindern keinen Gefallen», sagt Shen. Das Vorgehen der Regierung verärgerte viele Eltern, sagt sie, doch auch sie würde sich in dieser Situation wohl fügen. Shen bleibt dennoch hoffnungsvoll, dass sich die Dinge eines Tages wieder zum Besseren wenden werden. «Heute sind wir gehorsam und machen alles, was von uns verlangt wird. In Zukunft wird das vielleicht einmal anders sein.» Bis es so weit ist, werden sie und ihr Mann hart arbeiten und Geld sparen, um ihrem Nachwuchs den Besuch einer Privatschule zu ermöglichen.
Die Namen der im Text vorkommenden Protagonisten wurden auf deren Wunsch hin geändert.