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Freie Wahl für mündige Versicherte

Die freie Wahl der Pensionskasse mag ein Wagnis sein. Doch ohne die ganz gewöhnlichen Mittel von Austrittsmöglichkeit und Mitbestimmung ist die zweite Säule gefährdeter, als viele denken.

Freie Wahl für mündige Versicherte

 

Die zweite Säule zwingt fast alle Arbeitenden des Landes zum Sparen, sie ist ausserordentlich reglementiert, nicht mehr milizfähig und entmündigt daher den Versicherten. Versicherte und ihre Sicherung leben sich auseinander, wie die emotional geführte Abstimmung zum Umwandlungssatz zeigte. Wie aber kann dieses wichtige zweite Bein der Alterssicherung zurück in die Hände mündiger Versicherter kommen?

Eines der Mittel besteht in der Kapitalauszahlung, sobald das Rentenalter erreicht wird, ein anderes in der freien Wahl der Kasse durch den Arbeitnehmer.

Die Crux an der Kapitalauszahlung: Sie hat ein grosses Verführungspotential – die Pensionskassen können die Verantwortung abgeben, die Versicherten treten in vielen Fällen erstmals ein merkliches Barvermögen an. Das birgt Risiken, die das Vorsorgesystem als Ganzes auf die Probe stellen. Denn die kapitalbasierte zweite Säule wurde bewusst als Ergänzung zur umlagefinanzierten AHV eingerichtet, also als Zweig der Sozialversicherung, die dank der anderen Finanzierungsart (Kapitaldeckungsverfahren) die demographischen Risiken senkt und dafür sorgt, dass die AHV als vernünftige Existenzsicherung dient und nicht als politisch instrumentalisierbares Umverteilungsinstrument.

Also bleibt die freie Wahl der Kasse die bessere Wahl. Dazu müsste man sich jedoch von der im Gesetz verankerten Fiktion verabschieden, dass jedes Unternehmen eine eigene Kasse führt. Dies brächte eine längst fällige Klarheit: Die meisten Firmen sind zu klein für eigene Kassen und müssen daher rechtliche, finanzielle und administrative «Verrenkungen» mit Branchen- und Versicherungslösungen eingehen.

Weniger Aufwand, mehr Identifikation

Die freie Wahl als fremdes Land voller Gefahren? Nicht unbedingt. Die heutige sozialversicherungsmässige Konstruktion würde bei freier Wahl beibehalten – die Versicherung bliebe mithin obligatorisch, die Kassen wären nicht gewinnorientierte Firmen, die keine Selektion der Versicherten betreiben, die Beiträge und grundsätzlichen Leistungen für die versicherten Risiken wären gesetzlich als Minima definiert. Sie würden von den Behörden überwacht. Die Kassen unterstünden der direkten Mitbestimmung der Versicherten.

Hingegen wären die berüchtigten «Sätze» nicht mehr behördlich bestimmt – die Politik in Bern bestimmte also nicht mehr ein Jahr voraus, was den Alterskonten gutgeschrieben werden kann, welche Umwandlungssätze anzuwenden sind, wie angelegt werden muss. Viele, viele Regeln und Regulierungen würden fallengelassen. Die heute durch sie suggerierte Sicherheit bzw. Sicherheitsillusion würde dem Bewusstsein weichen, dass es keine absolute Sicherheit geben kann. Die «Auffangeinrichtung» für jene, die heute keine Kasse finden, würde unnötig. Ich würde sogar den Sicherheitsfonds aufheben und damit klar machen, dass die Versicherten und ihre Kassen ohne Netz turnen. Die Lage gleicht sonst jener nach der Finanzkrise 2008: Politiker überbieten sich mit Garantien und Regeln, anstatt den Banken und dem Publikum klar zu machen, dass Risiken bestehen und jeder einzelne sich immer auch selbst vorsehen muss.

Die Folgen freier Wahl für die Versicherten wären klar. Ihre Identifikation mit ihrer Pensionskasse stiege deutlich. Sie könnten über alle Berufswechsel, Pensenveränderungen und Firmenwechsel hinaus ihre gewählte Kasse behalten, auch im Wechsel zwischen Anstellung und Selbständigkeit. Sie könnten die Einrichtung aber auch jederzeit wechseln, wenn das Angebot oder die Resultate der Kasse in ihrer Einschätzung nicht mehr stimmen. Die Kasse entspräche damit der modernen Arbeitswelt und Arbeitsweise, sie wäre der Anker im Hintergrund der zunehmend bewegten Arbeitsbiographien. Das Schreckensargument, freie Wahl bedeute «Entsolidarisierung», verdeckt nur die zunehmende interne Umverteilung in den Kassen, die ihnen wesensfremd ist. Dafür würde endlich die geforderte Transparenz herrschen: Es wird wieder klar gerechnet und zugeteilt.

Auch für die Firmen wären die Folgen positiv, weil der administrative Aufwand reduziert würde, der bei grossen Betrieben mit eigenen Kassen und bei Kleinbetrieben mit den mühsam über viele Umwege simulierten Kassen anfällt. Angesichts dieser enormen Entlastung fällt nicht ins Gewicht, wenn ein- oder mehrmals jährlich der Beitrag an die vom Arbeitnehmer gewählte Kasse überwiesen werden muss, vor allem angesichts der zu erwartenden, weit geringeren Zahl von Kassen. Es ist auch nicht einzusehen, war-um besondere Leistungen der Firma nicht mehr möglich sein sollen, wie von Gegnern einer echten Reform immer wieder vorgebracht wird. Die Firma kann nach Belieben mehr als die Hälfte der Beiträge übernehmen, sie kann Boni und Gratifikationen einzahlen, sie kann das Pensionsalter variieren, indem sie die Kosten ausfinanziert. Die Pensionskassenleistungen der Firma verbleiben ihr als Werbeargument auf dem Arbeitsmarkt und um die Betriebstreue zu festigen. Nur die verschiedenen Reserven und Kässelchen der Kassen verschwinden, weil die Substanz bei einem Kassenwechsel den Versicherten mitgegeben werden müsste.

Frei wählen und mitentscheiden

Es stimmt: Die freie Wahl geht von einem mündigen Arbeitnehmer aus. Wer wählen darf, kann auch über die zweite Säule entscheiden. Umso weltfremder mutet an, dass der Versicherte in den Regulierungsvorhaben der Regierung und des Parlaments stets als unmündig dargestellt wird, als einer, dem die Sicherheit rundum, sogar als «Fortführung der gewohnten Lebenshaltung» garantiert und deshalb mit tausend Einschränkungen seiner Freiheit eingerichtet werden müsse. Das ist, recht bedacht, geradezu absurd. Der amerikanische Soziologe Albert O. Hirschman hat als Sicherheit des Bürgers und zur Atomisierung von Macht die zwei Varianten von «exit» und «voice» hervorgehoben. Die «exit»-Möglichkeit ist eine der stärksten Garantien, die Märkte nun mal bieten – die Freiheit, weglaufen zu können, wenn das Angebot nicht gefällt.

Welche Folgen zeitigt nun die «exit»-Option, wenn sie auf die zweite Säule angewandt wird? Es würden die Rentabilität des Kapitals, die Kosten der Vermögensverwaltung, die Transparenz als Werbeargumente der Kassen verbessert und vielfach variiert. Die real existierende Sicherheit würde nicht grösser, aber eben auch nicht geringer; dafür würden sich die Kassen mit ihren Leistungen nach der Decke strecken, ohne interne Umverteilung. Die heutigen papierenen Garantien der Regulierungen bieten ohnehin nur kurzfristige Sicherheit und Stabilität – um den Preis des langfristigen Totalschadens. Die Illusionspolitik beginnt bereits ihr süsses Gift zu entfalten. Das irregeführte Publikum glaubte jedenfalls, an der Urne einen unwirklichen Umwandlungssatz einfordern zu können, der langfristig das System kippen lässt. Vergessen oder unterdrückt bleibt auch, in der ersten wie in der zweiten Säule, dass allenfalls gute Ergebnisse in Einmalboni ausbezahlt werden können, nicht aber systemisch eingebaut und für immer versprochen werden dürfen. Sonst gleicht sich die zweite Säule immer mehr der ersten mit ihren allzweijährlich in genauen Frankenbeträgen festgelegten und fortgeschriebenen Renten an – und das ist ja, wie erläutert, nicht im Sinne der Erfinder.

Schweden, einige osteuropäische Länder und in Ansätzen auch Deutschland haben Kennzahlen des vorjährigen Inlandprodukts und der Lebenserwartung in Formeln der Rentenzahlungen eingebaut. Diese wirken automatisch, ohne laufenden Streit in Parlamenten. Damit können diese schwanken, das Publikum weiss es, und das System bleibt stabil.

Kommen wir zum zweiten gesellschaftlichen Steuerungsprinzip nach Hirschman: voice, also Mitbestimmung. Was würde dies in einer frei gewählten zweiten Säule bedeuten? Grosse, werbende Kassen würden diese Mitwirkung explizit anbieten, verfeinern, mit neuen Mitteln einrichten. Hinzu käme ein weiteres Element der Mitbestimmung: In der Frage der Kapitalanlage könnte die heutige Parität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf eine Drittelsparität erweitert werden – mit Einbezug der Rentner. Denn die Rentner haben in den meisten Kassen am meisten Geld zugut. Auch sind sie bei der bedingten Lebenserwartung im Schnitt mindestens 20 Jahre bei einer Kasse – länger als die meisten Versicherten. So sollen die Rentner zwar nicht bei der Gestaltung der Kasse und bei den Leistungen, aber bei der Vermögensverwaltung etwas zu sagen haben. Heute ist die Sorge um den Geldwert wegen der frivol inflationierenden Notenbanken des Westens gross, das in den Kassen «wehrlos» eingefrorene Rentenvermögen macht die Kassen bei den Rentnern zunehmend unpopulär. Gerade aus dieser Inflationsfurcht dürfte sonst vermehrt die Kapitalauszahlung verlangt werden.

Kritische Medien als Korrektoren

Schliesslich muss an eine wesentliche Korrektur- und Steuerungsvorkehrung offener Gesellschaften erinnert werden – an die Medien. Wenn ein Gebiet weniger staatliche Regulierungen kennt, stellt sich beim Angebot durchaus Sicherheit, Vorsicht, Kundenorientierung, Anstand, Anstrengung her – und zwar mit freier Kritik, mit öffentlichen Vergleichen. Die Möglichkeit einer kritischen Begleitung durch die Medien hat «generalpräventive Wirkung». Nur schon dadurch passieren weniger Fehler, als wir uns vorstellen können. Die Regulierer der zweiten Säule haben dagegen vergessen, in welch freier Gesellschaft wir eigentlich leben, leben könnten.

Die freie Wahl mag ein Wagnis sein. Doch mit mehr «exit» und «voice» stiftet sie Stabilität, Offenheit, Wettbewerb und Glaubwürdigkeit. Ohne diese ganz gewöhnlichen Mittel von Markt und Demokratie ist die zweite Säule gefährdeter, als viele denken.

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