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Freie Wahl der Kassen!

Mehr Realismus, mehr Eigenverantwortung – warum tun wir uns eigentlich so schwer damit, die zweite Säule radikal zu reformieren?

Die Abstimmung vom März 2010 war ein Fanal. Das Volk fing an, die Kapitalmechanik seiner Pensionskassen der Urne statt dem Markt zu übertragen. Denn es versteht die Idee der zweiten Säule der Vorsorge nicht mehr. Es erachtet sie zunehmend als politische Angelegenheit und nicht mehr als persönlichen Sparhafen für das eigene Alter. Aus dieser Lage führt nur eine direkte Mitverantwortung heraus, gefördert durch die freie Wahl der Pensionskasse, durch weniger Regeln – und damit auch weniger Garantien.

Heute leben die Versicherten und Rentner unter dem gegenteiligen Regime. Jeder Arbeitgeber muss eine «Vorsorgeeinrichtung» haben, in die wiederum seine Beschäftigten einzutreten haben. Die daraus abgeleitete Fiktion der dreihunderttausend Kassen mit – in Kleinbetrieben – eventuell drei bis vier Versicherten hat freilich nie stattgefunden. Vielmehr hat sich darüber eine Pyramide von Branchenkassen, regionalen Kassen, Sammelstiftungen der Versicherungen aufgebaut.

Es wurde geregelt, wer was mitnehmen darf bei einem Firmenwechsel, was die Versicherungen an Gewinn einbehalten dürfen, wie die Kassen organisiert sein müssen, wer sie kontrollieren soll. Das wirksamste Instrument der Kontrolle, die paritätische Mitbestimmung der Versicherten selbst, hat sich in diesen Windungen und Wandlungen verlaufen und verloren.

Die Reibungsverluste des zu komplexen Räderwerks sind hoch. Dazu mischt sich die Politik ein und bestimmt, welche Renditen dem individuellen Alterskapital jährlich gutzuschreiben sind und welcher Umwandlungssatz – und damit auch welcher technische Zinssatz – anzuwenden ist. Schliesslich sind die öffentlichen Kassen von der Kapitalmechanik – nämlich von der vollen Deckung der Ansprüche – ausgenommen. Dort wird dem Volk vielmehr vorexerziert, dass man jederzeit mit politischer Hand durchgreifen und die Kassen nach Belieben mit Steuergeldern äufnen kann.

Wie wenig die Versicherten und die Rentner solche Kassen als ihre eigenen empfinden, zeigt eine kurze Anfrage bei einer der ganz grossen Kassen mit über 50’000 Versicherten und ebensovielen Rentnern: wieviele haben sich erkundigt, ob die Kasse in Staatsobligationen der überschuldeten Länder Europas angelegt habe? Antwort: niemand.

Wenn die Beschäftigten ihre Kasse frei wählen könnten, stiege ihr Interesse daran zweifellos markant an. Und die ganze Struktur der beruflichen Vorsorge würde rationeller. Wie bei den Krankenkassen nach der Reform der 1990er Jahre würden sich viele Kassen zusammenschliessen, und nach einiger Zeit wären wohl etwa 50 grössere Kassen aktiv, teils nach Branchen oder Regionen ausgerichtet, oft auch als leistungsfähige Versicherung ohne nähere Prägung. Diese Kassen stünden in einem echten Wettbewerb, würden auf schlanke Verwaltung und solide, aber gute Renditen achten. Die vielen heutigen Stufen der immer weiter nach oben gereichten Durchführung, Verwaltung, Anlage, Absicherung würden zusammenfallen in diesen gut 50 handlungsfähigen, grossen Einrichtungen.

Wie heute die wettbewerblich auftretenden Krankenkassen wären auch diese Pensionskassen gemeinwirtschaftlich und sozialversicherungsmässig ausgerichtet. Das Design bliebe das gleiche wie heute – die Versicherung wäre obligatorisch, die Kassen wären nicht gewinnorientierte Firmen, sie betrieben keine Selektion der Versicherten, die Beiträge und grundsätzlichen Leistungen für die versicherten Risiken wären gesetzlich als Minima definiert. Sie würden von den Behörden überwacht. Die Kassen unterstünden der direkten Mitbestimmung der Versicherten.

Hingegen – und das ist der entscheidende Punkt – wären die berüchtigten «Sätze» nicht mehr behördlich festgelegt. Die Politik in Bern wüsste und bestimmte nicht mehr ein Jahr im voraus, was den Alterskonten gutgeschrieben werden kann, welche Umwandlungssätze anzuwenden und wie die angesparten Guthaben anzulegen sind. Zahlreiche Regulierungen würden wegfallen. Die «Auffangeinrichtung» für jene, die heute keine Kasse finden, würde unnötig. Man könnte sogar darüber nachdenken, den Sicherheitsfonds aufzuheben und damit klarzustellen, dass die Versicherten und ihre Kassen ohne Netz turnen. Dies wäre gesunder Realismus. Die Lage könnte sonst schnell wieder jener nach der Finanzkrise 2008 gleichen, als die Politiker sich mit Garantien und Regeln überboten, anstatt den Banken und dem Publikum klarzumachen, dass stets Risiken bestehen und jeder einzelne sich selbst vorsehen muss.

Die Folgen für die Versicherten wären klar. Die Identifikation mit ihrer Pensionskasse stiege deutlich. Sie könnten über alle Berufswechsel, Pensenveränderungen, Firmenwechsel hinaus die Kasse behalten, auch im Wechsel zwischen Anstellung und Selbstständigkeit. Sie könnten die Einrichtung aber auch wechseln, wenn Angebot oder Resultate für sie nicht mehr stimmen. Die Kasse entspräche damit der modernen Arbeitswelt und Arbeitsweise, sie wäre der Anker im Hintergrund der zunehmend bewegten Arbeitsbiographien. Das Schreckensargument, freie Wahl bedeute «Entsolidarisierung», würde seines Sinnes beraubt. Es würde klar, dass es bloss die interne Umverteilung in den Kassen verdeckt, die deren Idee widerspricht und die es daher gar nicht geben dürfte, obwohl sie faktisch längst stattfindet.

Die Folgen der freien Wahl für die Firmen wären positiv, weil der Aufwand eigener Kassen für die grossen Betriebe und der mühsam über viele Umwege simulierten Kassen in Kleinbetrieben wegfiele. Da fällt es nicht ins Gewicht, wenn ein- oder mehrmals jährlich der Beitrag an die vom Arbeitnehmer gewählte Kasse überwiesen werden muss. Es ist auch nicht einzusehen, warum besondere Leistungen der Firma nicht mehr möglich sein sollen. Die Firma kann mehr als bloss die Hälfte der Beiträge übernehmen, sie kann Gratifikationen einzahlen, sie kann das Pensionsalter variieren, indem sie die Kosten ausfinanziert. Die Pensionskassenleistungen der Firma verbleiben ihr als Werbeargument auf dem Arbeitsmarkt und zur Festigung der Betriebstreue. Die verschiedenen Reserven und Kässelchen der Kassen verschwinden, weil sie bei einem Kassenwechsel den Versicherten mitgegeben werden müssen. Die «Schwankungsreserven» gegenüber den Anlageresultaten sind unnötig, wenn keine vorgegebenen Gutschriften mehr zu machen sind und wenn Risiken als normal und Rückschläge im Alterskapital aufgrund der Marktentwicklungen als möglich aufgefasst werden.

Die heutige Manie des Gesetzgebers, alle Risiken auffangen und eine Rendite ohne Risiko erzielen zu wollen, macht glauben, dass die Ansprüche unter allen Umständen einforderbar und referendumsfähig seien. Diese Illusion förderte die Apathie. Wenn aber die Versicherten eine eigens gewählte Kasse haben, die im Wettbewerb steht und nicht von Bern garantiert wird, interessieren sie sich für die Mitbestimmung. Es könnte dann vorkommen, dass sich bei Wahlen in die Gremien sogar Wahllisten bilden – eine «Renditepartei» träte gegen eine «Sicherheitspartei» an oder eine «Vollservice-Partei» gegen eine «Verschlankungspartei». Und wenn nicht, dann ist der Grundsatz «love it oder leave it» die Fuchtel des einzelnen, um der Kassenleitung bei der Konzentration auf ihre Aufgabe zu helfen.

Konkurrierende Kassen würden zuviel für Werbung aufwenden, wird gesagt. Doch gerade heute wird intensiv geworben, und oft teuer, zwischen den Sammelstiftungen und den vielen Beratungs- und Expertenfirmen. Es könnten somit massiv Kosten gespart werden, wenn diese Expertisen auf weniger Stufen und in weniger Kassen als heute erfolgten. Und vor allem: die Regeldichte und der Sicherungswahn veranlassen heute zu immer mehr Absicherungen qua externe Experten, was zunehmend sogar vorgeschrieben wird. Politische Regulierung bringt immer noch mehr Regulierung hervor, ohne dass irgendeine Situation dadurch verbessert würde. Es wird lediglich Verantwortung an Dritte delegiert. Dabei ginge es doch darum, den Beitragszahlern die Verantwortung für ihr angespartes Alterskapital zurückzugeben.

Eine Nachbemerkung. Die freie Wahl der Pensionskasse ist Teil eines freiheitlichen Gesellschaftskonzepts. Die freie Wahl der obligatorischen Schule durch die Eltern gehört ebenfalls dazu, ebenso wie die freie Wahl der Leistungserbringer im Gesundheitswesen, also der Ärzte und der Spitäler durch die Versicherten der Krankenkassen. Die freie Wahl der wettbewerblichen Leistungserbringer im öffentlichen Verkehr, in der Stromversorgung, das Angebot postalischer Leistungen durch Läden und Verteilorganisationen sind weitere Schritte. Angesichts all dieser Freiheiten packt viele Schweizer die Angst. Aber warum denn? Die Schweden haben sie sich gewährt – und es funktioniert!

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