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François Bondy: «Zwischen Integration und Integrismus»

zitiert aus «Schweizer Monatshefte», 69. Jahrgang, Heft 12, Dezember 1989, S. 961

Dieser Kommentar Bondys nimmt die in Europa seit Jahren zum interkulturellen Zündstoff gehörende Frage nach dem Kopftuchverbot für moslemische Schülerinnen zum Anlass, grundsätzliche Überlegungen zu Sinn und Grenzen des Multikulturalismus zu entwickeln. Er ist für Bondys Auffassung von Journalismus typisch. Ein aktueller Anlass soll zunächst dargestellt, dann kommentiert und schliesslich in einen grösseren Zusammenhang gestellt werden. (Red.)

«Leila und Fatima, zwei Schwestern, und Samira bestehen darauf, den ‹Hidscheb› – je nachdem Kopftuch, Schal oder Schleier genannt – in der Schulklasse zu tragen. Der Direktor der Volksschule der Pariser Vorstadt Creil, in der französische Schüler die Minderheit sind – er selber stammt aus Martinique – hat die drei Mädchen vom Unterricht ausgeschlossen, ihnen jedoch gestattet, den ‹Hidscheb› ausserhalb des Klassenraums zu tragen. Der mit den beiden militant integralistischen Vätern ausgehandelte Kompromiss wurde hinfällig, nachdem der sozialistische Erziehungsminister Jospin den Direktor desavouierte und das Tragen des «Hidscheb» im Unterricht für zulässig erklärte – wenn alles Zureden nicht fruchte. Der Lehrstoff selber sorge ja für die Integration. – Aus dem lokalen Fall der drei Mädchen ist eine nationale Affäre geworden. Da ging es um die Frage nach der nie erreichten repräsentativen Strukturierung der in Frankreich lebenden Moslems, für die keine Autorität sprechen kann wie bei den anderen Konfessionen; es ging um die Frage, wie «Laizismus» und Toleranz vereinbar sind, ferner um die Frage, welches der Platz des Islam als der zweitstärksten Konfession in Frankreich sein wird. Dazu kam die Feststellung, dass der Koran die Gleichberechtigung der Frau entschieden verneint. Soll und kann die Schule an Integrierung leisten, was in den übrigen Lebensverhältnissen nicht gelungen ist? (…) Islam ist ein Sammelbegriff, der auch unter den neunzig Prozent Sunniten vielerlei Richtungen umfasst. Integristen werden von arabischen Staaten, vom Iran unterstützt, es sind aktivistische, straff organisierte Minderheiten, während

die Mehrheit konturlos bleibt. Wird der ‹Hidscheb› in den Schulklassen erlaubt, so werden jene Moslemfamilien, die, wie in Tunesien und Algerien, die Mädchen längst nicht mehr dazu anhalten oder zwingen, einem unwiderstehlichen Druck ausgesetzt sein. Zum Kopftuch kommt die Forderung, dass die moslemischen Schülerinnen vom Turnen dispensiert werden, dass sie bestimmte Teile des Unterrichts in Naturkunde nicht hören müssen; (…) Was ist eigentlich der ‹Laizismus›? In anderen Sprachen kann der von langen Kulturkämpfen belastete Ausdruck nur negativ umgesetzt werden: ein Absehen von allen konfessionellen Unterschieden. Sein Symbol war die Entfernung der Kruzifixe aus den Schulen gewesen. Den moslemischen Integristen haben sich Kardinäle und Rabbiner angeschlossen, die die ‹laizistische› Schule gleichfalls der Intoleranz zeihen. Frankreichs Grossrabbiner, Joseph Sitruk, erklärt: ‹Öffnet euch der religiösen Diversität! Die Versuchung ist, dem Schüler zu sagen: ob du Jude oder Moslem oder Katholik bist, will ich nicht wissen. Aber, Herr Professor, ich für mein Teil untersage ihnen nicht, ‹laïc› zu sein. Was ist eine Laizität, die das um jeden Preis sein will?› – So erweitert sich der Kulturkampf, Vergangenes lebt auf. Doch bleibt es im entscheidenden das Problem der Moslems. Es zeigt sich auch im Streit um die Errichtung grosser Moscheen. In Lyon hat Bürgermeister Michel Noir sie gestattet; in Marseille kam ein ehrgeizigeres Vorhaben bisher nicht zur Ausführung – nicht zuletzt wegen der Uneinigkeit unter den Moslems. – Die Trennung zwischen einem öffentlichen Raum und der Religion als Privatsache ist auch im christlichen Europa nicht total und jungen Datums. Dem Islam, der den ganzen Alltag umfasst, ist diese Trennung fremd. Kemal Paschas ‹Laizisierung› erfährt in der Türkei Rückschläge. (…) Der ‹Hidscheb› ist gewiss eine Kleinigkeit, aber er gilt – vor allem in Nordafrika – als Zeichen der Ungleichheit, als den Frauen auferlegter Zwang. Da nützt die Parole der Achtundsechziger ‹Es ist verboten zu verbieten› nicht weiter.»

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